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Tradition und Öffnung
Leipzig und sein neuer Generalmusikdirektor · Von Midou
Grossmann
Leipzig eine Musikstadt? Dem kann man uneingeschränkt zustimmen,
obwohl die Stadt auch als Messe- und Industriestadt Zeichen setzt.
Doch Oper und Gewandhaus am Augustusplatz werden von den Leipzigern
als Seele ihrer Stadt empfunden und alle sind sie stolz auf die
große musikalische Vergangenheit. Nicht nur Johann Sebastian
Bach, Felix Mendelssohn-Bartholdy und Richard Wagner lebten oder
wirkten in Leipzig, sondern auch Robert Schumann, Niels Gade, Arthur
Nikisch, Wilhelm Furtwängler, Bruno Walter, Kurt Masur und
zuletzt Herbert Blomstedt. Mit der Ernennung von Riccardo Chailly
zum neuen Gewandhauskapellmeister und Generalmusikdirektor der Oper
setzt Leipzig diese große Tradition konsequent fort. Jeder
Leipziger kennt inzwischen den Namen des Maestros aus Italien; dessen
temperamentvolle Art zu musizieren begeistert das Publikum. Doch
die Begeisterung ist gegenseitig, auch Riccardo Chailly ist stolz
darauf, Chef dieses renommierten Orchesters zu sein. Es war wohl
Liebe auf den ersten Blick beim Zusammentreffen vor einigen Jahren
in Salzburg und seitdem war Chailly der Wunschkandidat des Orchesters.
Die Stadtväter haben dann alle Hebel in Bewegung gesetzt, um
Chailly nach Leipzig zu holen, als es galt, einen Nachfolger für
Herbert Blomstedt zu finden.
Der neue Mann am Pult
Riccardo Chailly, ein Vollblutmusiker, ist ein Dirigent, der die
Tradition achtet und doch das Neue sucht. Obwohl auch die Mailänder
Scala und große amerikanische Orchester bei ihm angeklopft
haben, hat er sich für Leipzig entschieden, weil ihn das seit
Jahrhunderten in Sachsen gepflegte Musikleben fasziniert und er
Johann Sebastian Bach schon seit seiner Kindheit verehrt. Und natürlich
schwärmt er von dem warmen, dunklen Klang des Orchesters und
macht es sich zur Aufgabe, diesen zu erhalten und zu fördern.
Die Wurzeln für den auch „altdeutsch“ genannten
Klang sieht Chailly in dem Wissen um die Tradition, einer tiefen
Konzentration beim Musizieren sowie dem ausgeprägten Zusammengehörigkeitsgefühl
des Klangkörpers. Tradition und Moderne, Bewahren und Erneuern,
das sind die Pfeiler, auf die er die musikalische Zukunft Leipzigs
aufbauen will. Chailly vereint Tradition mit Moderne, nicht nur
im musikalischen Sinn, sondern auch in seiner Persönlichkeit.
Vom Wesen her ein Weltbürger, kann er nun in Leipzig all seine
internationalen Erfahrungen einbringen und das Gewandhausorchester
ins 21. Jahrhundert führen, so wie Arthur Nickisch das Orchester
ins 20. Jahrhundert geführt hat. Von Herbert Blomstedt übernimmt
Chailly ein Weltklasseorchester, das technisch perfekt ist. Mit
seinem musikalischen Charisma und seiner Überzeugenskraft,
gepaart mit Feuer und Temperament, wird er das Orchester zu neuen
künstlerischen Höhen führen. Hier scheint sich eine
Partnerschaft anzubahnen, die Maßstäbe setzen wird, was
Orchesterkultur und musikalische Intensität angeht.
Mit Henri Maier, dem Intendanten der Oper, gibt es eine sehr harmonische
Zusammenarbeit. Das ist modernes Europa: ein Italiener und ein Franzose
als Bewahrer der deutschen Klassik in Leipzig. Und die Stadt dankt,
Standing Ovations nach jeder Vorstellung des „Maskenball“.
Chaillys Dirigat ist beeindruckend, hier stimmt einfach alles, die
analytische Struktur, die Klarheit der Phrasierung und die Temporelationen.
Dazu kommt eine gehörige Portion Feuer und Drama, so macht
Oper Spaß. Drei Schwerpunkte bilden Riccardo Chaillys Programm
für Leipzig: die romantische Klassik, die moderne Klassik und
die zeitgenössische Musik. Die Reihe „Entdecker Konzerte“
wird der Maestro selbst moderieren. Eine Opernproduktion pro Jahr
ist geplant, Mittelpunkt wird natürlich die italienische Oper
sein, aber auch Richard Wagner soll in seiner Geburtsstadt Leipzig
wieder mehr in den Mittelpunkt gerückt werden. Schon denkt
man an das Jahr 2013, der 200. Geburtstag Wagners naht und ein „Ring“
wäre da schon angebracht.
Der Intendant der Oper
1693 hob sich zum ersten Mal der Vorhang im barocken Opernhaus
am Brühl, die Leipziger Oper gehört somit zu den ältesten
Musiktheatern Europas. Der Franzose Henri Maier übernahm mit
der Spielzeit 2000/2001 die Intendanz am Augustusplatz. Sehr erfolgreich
leitete er schon Häuser in Straßburg, Paris und Montpellier
und doch suchte er eine neue Herausforderung und bewarb sich in
Leipzig. Sofort fühlte er sich zu Hause in der Stadt und sein
Konzept für Leipzig scheint aufzugehen. Die Auslastung ist
in Maiers Amtszeit von 62 auf 69 Prozent gestiegen, was beachtlich
ist für ein Haus mit mehr als 1.400 Sitzplätzen und einer
Einwohnerzahl von circa 500.000. Trotz entsprechend steigenden Einnahmen
und zunehmenden Abonnentenzahlen schlägt die hohe Verschuldung
der Stadt Leipzig auch auf die Finanzierung ihrer Kultureigenbetriebe
durch. Die Ballettschule musste bereits geschlossen werden, die
Verhandlungen über Haustarifverträge, die allen Beschäftigten
einen fünfprozentigen, den Gewandhausmusikern einen zweieinhalbprozentigen
Gehaltsverzicht pro anno auferlegen, stehen vor dem Abschluss, und
die Finanz- und Kulturdezernate brüten über Konzepten
zur Beantwortung der ihnen vom Stadtrat aufgegebenen, der Quadratur
des Kreises ähnelnden Frage, wie alles zu erhalten und zu verbessern,
gleichzeitig aber zu verbilligen sei. Zurzeit steht die nach Wolfgang
Tiefensees Wechsel ins Bundeskabinett fällige Neuwahl des Oberbürgermeisters
an. Sie zwingt die Parteien und ihre meist selbsternannten Kulturpolitiker,
sich bei der öffentlichen Erörterung von Grausamkeiten
etwas zurückzuhalten: Haustarifverträge mit höheren
Vergütungseinschnitten? Personalabbau? Rechtsformänderungen?
Zusammenlegung aller Verwaltungen und Werkstätten? Schließung
der Musikalischen Komödie? Zusammenlegung von MuKo und Schauspiel
in der Spielstätte der Musikalischen Komödie in der Dreilindenstraße?
Denn es liegen auf der Immobilie des Schauspielhauses Restitutionsansprüche…
Dennoch herrscht in Leipzig Aufbruchsstimmung. Das größte
Anliegen des Intendanten ist es, dem Publikum musikalisch immer
Topqualität anzubieten und Maier erklärt im Hinblick auf
das Wagner-Jahr 2013: „Wenn wir einen Ring nicht mit Weltklassesängern
besetzen können, dann brauchen wir damit gar nicht anzufangen.“
Ingesamt werden jährlich ungefähr 350 Vorstellungen gemeistert.
Und natürlich darf auch das Ballett nicht vergessen werden,
das mit dem Kanadier Paul Chalmer nun einen Nachfolger für
den im vergangenen Jahr verstorbenen Uwe Scholz ernannt hat. Die
45 Tänzer bilden eine der besten Ballett-Compagnien in Deutschland.
Treues Publikum
Henri Maier will sich beim Publikum nicht anbiedern, sondern aufregendes
Musiktheater machen. Alle Facetten sollen vertreten sein, von Barock
bis zu zeitgenössischen Werken, denn nur so ist lebendiges
Theater möglich. Die Barockoper ist ein festes Standbein der
Oper, Koproduktionen mit dem Bachfest sind schon lange Tradition.
Ungefähr 15 Opern sind jährlich im Spielplan zu finden,
davon sind in dieser Spielzeit 5 Premieren, daneben gibt es noch
20 Operetten im Repertoire der Musikalischen Komödie. Momentan
kann man noch mit der finanziellen Hilfe von Sponsoren wie der Stadtsparkasse
und von Fördervereinen sehr zufrieden sein. Die notwendige
Sanierung des 1960 neu eröffneten Hauses ist in Abschnitten
für die nächsten zwölf Jahre geplant, dies bedeutet
finanziell und planungstechnisch eine ungeheure Anstrengung. Leicht
nervös ist man auch, wenn man daran denkt, dass Riccardo Chailly
nun jedes Jahr auch eine Produktion an der Mailänder Scala
dirigieren wird, er könnte sich immer noch für dieses
Haus entscheiden. Doch wie überall in Europa wird auch in Leipzig
die Zukunft nur mit enorm viel Engagement, Kreativität und
künstlerischem Verantwortungsbewusstsein zu meistern sein.
Gestützt von einem treuen Publikum kann man vorerst einmal
aufatmen, doch benötigt das Haus unbedingt mehr Besucher, denn
nur so sind langfristig die Auslastungszahlen zu steigern. Momentan
hat man am Augustusplatz mit seinen Führungsteams sehr gute
Karten, um alle Probleme meistern zu können.
Midou Grossmann
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