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Kabale und Intrige
Die Geschichte der Berliner Opernhäuser (Teil 5) ·
Von Susanne Geißler
Das Erbe der unglücklichen Hülsen-Ära als Generalintendant
der Linden-Oper sollte nach schlechtem preußischen Brauch
wieder ein Adliger antreten: Bolko Graf von Hochberg, ein schlesischer
Großgrundbesitzer mit musikalischen Neigungen. Bereits zwei
Wochen nach Hülsens Tod wurde er zum neuen Generalintendanten
berufen. Zwar suchte er bald die ärgsten Lücken im Repertoire
zu schließen und das Ensemble zu verjüngen, stand aber
völlig unter dem Geschmacksdiktat des preußischen Hofes,
besonders als nach 1888 Wilhelm II. den Thron bestieg und wie sein
Vorfahr Friedrich II. ausgerechnet die Oper zum Tummelplatz seines
nicht gerade verfeinerten Geschmacks erkor. Stückwahl, Besetzung,
Ausstattung, alles wurde von dem sich als Universalgenie gebärdenden
Kaiser entscheidend beeinflusst. „Auf allerhöchsten Befehl“
lautete das nicht nur die Programmzettel zierende Motto dieser Zeit.
Dirigententrias
Dennoch war Hochberg Musikkenner genug, um eine entscheidende Schwäche
des von ihm übernommenen Kulturbetriebes zu erkennen: das Fehlen
einer prägenden Dirigentenpersönlichkeit. Seit dem Tode
Otto Nicolais und dem Ausscheiden Giacomo Meyerbeers hatte es daran
gemangelt. Eine Reihe bestenfalls wackerer Kapellmeister ohne persönliches
Profil hatte das Niveau der Hofkapelle erheblich gesenkt. Daher
vermochte sie sich gegen-über dem jungen ehrgeizigen Philharmonischen
Orchester nicht mehr durchzusetzen. Ein Glücksfall in dieser
Situation war das Engagement des österreichischen Dirigenten
Joseph Sucher 1888. Er widmete sich besonders dem Wagner-Repertoire,
zumal mit ihm seine Frau Rosa, eine der bedeutendsten Wagner-Heroinen,
nach Berlin gekommen war. Noch im selben Jahr wurde endlich mit
„Rheingold“ und „Götterdämmerung“
„Der Ring des Nibelungen“ an der Hofoper komplettiert.
Wagner galt nun als akzeptiert, erwies sich sogar als nationalistisch
missbrauchbar und erreichte hohe Aufführungszahlen. Seit 1889
fanden fast jährlich Wagner-Zyklen statt. Joseph Sucher blieb
als Dirigent nicht allein. 1891 holte sich Hochberg aus Mannheim
den 28-jährigen Felix von Weingartner und ein Jahr später
den 33-jährigen Dr. Carl Muck aus Prag nach Berlin. Damit besaß
die Berliner Hofoper eine Dirigententrias, die über alle Untiefen
hinweg dem Haus wieder musikalischen Rang verleihen konnte. Die
Repertoire-Politik blieb dagegen in Auswahl und Besetzung ein heikler
Punkt. Die unablässig sprudelnde Quelle giftigster Intrigen
entsprang unter dem eigenen Dach. Für Bolko Graf von Hochberg
galt, was für alle leitenden Persönlichkeiten gilt: Sie
charakterisieren sich nicht zuletzt durch ihre engsten Mitarbeiter.
Die rechte Hand des Grafen trug den Namen Henry Pierson und den
Titel eines künstlerischen Direktors. Hochberg fragte ihn in
allem um Rat und ließ ihn oft noch zu später Stunde in
seine Wohnung kommen. Wollte man bei Hochberg etwas erreichen, so
war der sicherste Weg, sich an Pierson zu wenden.
Wälsungen-Desaster
Dieser Pierson hatte als „graue Eminenz“ nicht nur
einen gut bezahlten Posten, sondern auch eine Frau, die in früheren
Jahren als Sopranistin einige Erfolge aufweisen konnte. „Sie
besaß zwar Talent für die Darstellung, die Stimme war
aber schlaff und schrill geworden, und sie sang so oft falsch“,
so berichtete Felix von Weingartner, „dass ich die Gutmütigkeit
des Berliner Publikums bewunderte, das diese Leistungen ohne besondere
Gegendemonstration hinnahm.“ Ihr zur Seite stand nicht selten
der Tenor Eloi Sylva, der „zwar eine außerordentlich
kräftige Stimme hatte, aber vermöge seiner kleinen Statur
und seiner lediglich auf französische Rollen zugeschnittene
Gesangsweise für die Aufgaben, die ihm an der Königlichen
Oper zuteil wurden, nicht im Geringsten passte... Wirkte er in Wagners
Werken mit Frau Pierson zusammen, so war der Eindruck geradezu deprimierend.
Ich habe niemals im Leben ein ungenügenderes Wälsungenpaar
erlebt als die beiden“, so Weingartner. Auch die Beschäftigung
des Tenors Sylva hatte einen plausiblen Grund: Er war ein Freund
Piersons. Damit waren genügend Ingredienzien für ein Drama
gegeben, in dem Weingartner die tragische Hauptrolle spielte.
Bestrafte Offenheit
Der offenherzige Dirigent mochte das Trauerspiel nicht klaglos
hinnehmen, setzte auf die Kraft der Vernunft und sprach mit dem
künstlerischen Direktor über die mangelnden Qualitäten
von Ehefrau Bertha. Dadurch machte er sich das fast allmächtige
Paar zu Todfeinden. Seine mangelnde Subordination vergalt man ihm
nun mit bitterbösen Intrigen. Pierson ließ Weingartner
in einer Saison neunzig Mal (!) die „Cavalleria rusticana“
dirigieren, ohne ihn ablösen zu lassen. Als am 15. November
1892 die Erstaufführung der Weingartner‘schen Oper „Genesius“
stattfand, geschah das, wie sich denken lässt, nicht ohne Komplikationen.
Konnte der Komponist knapp verhindern, dass Bertha Pierson ihm die
Tour vermasselte, drückte man ihm Eloi Sylva als Sänger
der Titelpartie auf. Zudem bestand ein Verbot – wer es lancierte,
lässt sich denken – für die Oper eine neue Dekoration
anzufertigen. Anordnung war, alte und älteste Inventarstücke
zusammenzuschustern. Hochberg und Pierson wussten, wie man eine
Oper köpft. Sie machten die zweite Vorstellung zu einer Benefizveranstaltung
und unterbanden die dritte. Später ging „Genesius“
fünfzehn Mal über die Opernbühne von Antwerpen, und
in Köln stand sie drei Jahre hintereinander auf dem Spielplan.
Querelen und Schikanen
Felix von Weingartner wurde das, was wir heute „gemobbt“
nennen: Man teilte ihm keine Novitäten mehr zu, nahm ihm grundlos
Opern ab, die er bisher geleitet hatte, ohne ihn vorher davon zu
verständigen. Änderungen im Spiel- oder Besetzungsplan
erfuhr er oft durch Zufall. Bertha Pierson strengte beim Justitiar
Volkmann eine Disziplinaruntersuchung an: Weingartner habe sie durch
sein schlechtes Dirigat mit Absicht schikaniert, um ihren Leistungen
zu schaden. Der Dirigent erhielt deshalb eine Strafe von 120 Mark,
ohne eine schriftliche Begründung des Urteils. Felix von Weingartner
stand diese dauernden Querelen, Schikanen und Intrigen nicht durch.
Er nahm Schaden an seiner Gesundheit. Wochenlang zwang ihn ein Nervenfieber
ins Bett. Das bewog die Generalintendantur, dem angeschlagenen Mann
noch eins draufzugeben, indem sie seine Gage um 250 Mark kürzte.
Ab 1899 dirigierte Weingartner keine Opern mehr, nur noch Konzerte
der Königlichen Kapelle. In den sechzehn Jahren, in denen er
hier den Stab führte, „hat seine Majestät der Kaiser
nicht ein einziges Konzert besucht“, wusste er zu berichten
und deutete damit die mangelnde Kultur des Monarchen an. „Bereits
28 Jahre stehe ich im öffentlichen Leben“, schrieb er
1912. „Zahlreiche Stellungen habe ich bekleidet und mit zahlreichen
Behörden und Vorgesetzten habe ich es zu tun gehabt. Nirgendwo
ergaben sich nur irgendwie tiefer gehende Differenzen... Einzig
und allein mit der Generalintendantur der Königlichen Schauspiele
in Berlin war ein dauerndes Einvernehmen nicht zu erzielen, weil
dort eine Art der Unterwürfigkeit verlangt wird, die ich nicht
zu leisten vermag.“
Strauss in Berlin
Weingartner ging, und mit Wagners „Tristan“ führte
sich am 5. November 1899 Richard Strauss als Königlich Preußischer
Kapellmeister an der Berliner Hofoper ein. Es war Hochberg gelungen,
aus München den mit seiner Heimatstadt zerstrittenen Komponisten
und Dirigenten nach Berlin zu engagieren. Für eine Jahresgage
von 18.000 Mark mit acht Wochen Sommerferien und einem Monat Winterurlaub
dirigierte Strauss schon während der ersten Spielzeit an einundsiebzig
Abenden fünfundzwanzig verschiedene Werke. Neben einer Reihe
von unbedeutenden Erstaufführungen, die rasch wieder aus dem
Repertoire verschwanden, machte Strauss 1899 „Die Fledermaus“
hoftheaterfähig und errang damit einen überaus großen
Erfolg. Die besondere Zuneigung des neuen Hofkapellmeisters zur
deutschen Oper prägte mehr und mehr den Spielplan. Doch so
sehr Strauss als Dirigent in Berlin geschätzt wurde, der Komponist
fand zunächst noch wenig Gegenliebe. 1901 bot Strauss der Hofoper
seine „Feuersnot“ zur Uraufführung an, stellte
aber zur Bedingung, das Werk innerhalb von drei Monaten zehn Mal
anzusetzen und außerdem spätestens nach zwei Jahren seinen
Erstling „Guntram“ einzustudieren. Hochberg und vor
allem Pierson lehnten – man blieb sich in seinen Kabalen treu
– nach langen Querelen ab. Zornig schrieb Strauss einen Brief,
in dem es unter anderem heißt: „Als Schlusswort in der
ganzen Angelegenheit erlaube ich mir, Ihnen mitzuteilen, dass ich
sowohl auf die Ehre der Erstaufführung der ,Feuersnot’
wie auf die Auszeichnung, irgendeines meiner dramatischen Werke
am Berliner Opernhause uraufgeführt zu sehen, ein für
alle Male höflich dankend verzichte.“ Der Empfänger
dieses Schreibens war Henry Pierson, der 1902 ganz plötzlich
starb. Damit vergab Richard Strauss die Uraufführungsrechte
nach Dresden, das fortan die Mehrzahl der Strauss-Opern aus der
Taufe hob. Berlin aber hatte wie schon bei Wagner und dessen „Holländer“
wieder einmal den musikalischen Zug der Zeit verpasst.
Erfolg als Komponist
Nach Piersons Tod hielt es den nun immer stärker ins Kreuzfeuer
der Kritik geratenden Bolko Graf von Hochberg auch nicht länger
in seinem Amt. Am 31. Dezember 1902 räumte er den Intendantensessel
für Georg von Hülsen-Haeseler, Sohn des Botho von Hülsen,
Jugendfreund Wilhelms II. und dessen bester künstlerischer
Vollzugsbeamter. Mit einer Ausnahme freilich: Gegen den kaiserlichen
Willen spielte er die Opern seines Hofkapellmeisters Richard Strauss,
mit dem Hülsen-Haeseler überhaupt sehr konziliant verfuhr.
Er genehmigte immer längere Urlaube und kam ihm auch sonst
in fast allen Wünschen vertraglich entgegen. Waren die Uraufführungsrechte
auch nach Dresden vergeben, in angemessenem oder kurzem Abstand
erschienen alle Strauss-Werke auch auf der Berliner Bühne,
zum musikalischen Entsetzen des Hofes. 1906 gab es die „Salome“
mit Emmy Destinn in der Titelrolle und dem Komponisten als Dirigenten,
und zwar so erfolgreich, dass nach nur elf Monaten bereits die fünfzigste
Vorstellung stattfand. 1909, nur drei Wochen nach der Dresdner Uraufführung,
folgte unter Leo Blechs Leitung die „Elektra“. Im gleichen
Jahr tat es Strauss seinem Vorgänger nach, löste seinen
Opernvertrag und leitete nur noch die Sinfoniekonzerte, die er im
Vorjahr von Weingartner übernommen hatte. Für Aufführungen
eigener Werke stand er weiterhin auf Honorarbasis zur Verfügung.
Moral-Zensur
Besonders grotesk gestaltete sich die Berliner Erstaufführung
des „Rosenkavalier“. Hülsen--Haeseler hatte schon
nach der Lektüre des Textbuches geunkt, er halte das Werk an
der Königlichen Oper für unaufführbar. Nach der Dresdner
Uraufführung am 26. Januar 1911 mit ihrem Sensationserfolg
fühlte sich der kaisertreue Hofintendant dennoch zur Einstudierung
genötigt und schlug Strauss eine „moralisch gereinigte“
Textfassung vor, in der alle Hofmanns-thalschen Deftigkeiten besonders
aus dem Umfeld des Ochs von Lerchenau ins Neckisch-Niedliche umgebogen
wurden. Solchermaßen kastriert zog der „Rosenkavalier“
am 14. November 1911 Unter den Linden ein. Frieda Hempel sang die
Marschallin, die aparte Lola Artot die Titelpartie, Paul Knüpfer
den Ochs. Am Pult stand Dr. Carl Muck, und der Erfolg war trotz
der Eingriffe außerordentlich. Innerhalb von drei Jahren folgten
hundert Reprisen.
Zwischen 1903 und 1918 beherrschte Wagner das Repertoire der Lindenoper,
gefolgt von Strauss, Mozart und Verdi. Die meistgespielten Einzelwerke
hießen „Mignon“ und „Carmen“. Außerdem
sorgten in diesen anderthalb Jahrzehnten die großen Reisestars
wie Enrico Caruso, Francesco d‘Andrate, Fjodor Schaljapin
und die unvergleichliche russische Tänzerin Anna Pavlova mit
häufigen Gastspielen für Aufsehen.
Revolution
Für die Baugeschichte der Lindenoper wesentlich waren mehrere
Umbauten: Nachdem bereits 1881 nach dem opferreichen Wiener Ringtheaterbrand
ein eiserner Vorhang eingebaut worden war, wurde 1904 das Haus für
zwei Monate geschlossen, um außen eiserne Rettungsgalerien
und Feuertreppen anzubauen. War mit diesem unsensiblen baulichen
Eingriff der Knobelsdorff-Bau bereits reichlich verschandelt, wurde
die Harmonie des Baukörpers 1910 vollständig durch einen
klotzförmigen Bühnenturm zerstört, der den Schnürboden
für immer aufwändigere Ausstattungen aufnehmen musste.
Zugleich entstanden Pläne für den Neubau einer repräsentativen
Kaiserlichen Oper. Der Ausbruch des Ersten Weltkriegs verhinderte
das Vielmillionen-Projekt. Die Hofoper spielte auch in der Kriegszeit,
wenngleich durch zunehmende Einschränkungen gezeichnet.
Am ersten Tag der Novemberrevolution, dem Ende des Kaiserreichs,
standen unbeabsichtigt beziehungsvoll im Schauspielhaus Schillers
„Räuber“ und im Opernhaus „Die Hochzeit des
Figaro“ auf dem Spielplan. Die Theaterzettel vom 9. November
1918 im Archiv der Staatsoper tragen den von unbekannter Hand gemachten
Vermerk: „Geschlossen! Revolution!“ Der Kaiser ging
und mit ihm sein „Theatergeneral“ Hülsen-Haeseler,
der am 10. November demissionierte und die Lindenoper bis zu seinem
Tod 1921 nicht wieder betrat. Arbeiter- und Soldatenräte besetzten
Opern- und Schauspielhaus. Beide wurden dem Preußischen Ministerium
für Kultur, Wissenschaft und Volksbildung unterstellt und fortan
selbständig geleitet. Die „Königlichen Schauspiele“
existierten nicht mehr, die Hofoper firmierte nun bürgerlich
unter „Opernhaus Unter den Linden“. Zugleich zog ein
neuer Geist in den bisher königlichen Musentempel ein. Die
Ära der Monarchie, die der Entwicklung der Opernlandschaft
oft eher hinderlich als förderlich gewesen war, hatte ihr Ende
gefunden. Eine demokratisch geprägte, allem zeitgemäßen
und experimentellen Opernschaffen gegenüber aufgeschlossene
Ära begann. Sie führte die Lindenoper zu dem Weltruhm,
den die aristokratische Opernadministration 176 Jahre weitgehend
erfolgreich verhindert hatte. Doch das ist eine andere, ebenso lange,
spannende, konfliktreiche politische und kulturpolitische Geschichte.
Susanne Geißler
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