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Berichte

Schlag nach bei Adorno

Hindemiths „Mathis der Maler“ in Hamburg · Von Christian Tepe

Wie vieles weiß ich: Mit diesen Worten verhaucht die sterbende Regina ihr junges Leben. In seiner Inszenierung schenkt Christian Pade der Tochter des Bauernführers Schwalb ganz besondere Aufmerksamkeit. Bereits kurz vor ihrem ersten Auftritt steht Regina hinter dem großformatigen Selbstporträt des Malers, und schon jetzt wird deutlich: Von diesem Mädchen wird später der entscheidende Anstoß für Mathis’ Klärung seines künstlerischen Selbstverständnisses ausgehen. Was Mathis von dem unschuldigen Kind empfängt, ist die unverstellte Erkenntnis des menschenverantworteten Leidens in der Welt, so wie Regina es in den toten Augen ihres massakrierten Vaters entdecken muss, und die moralische Kraft, genau das mit den Mitteln seiner Kunst zu zeigen. Folgerichtig ist Regina zu Beginn des Odenwaldbildes die Akteurin, die den Maler in das Reich der Einbildungskraft hinübergeleitet. Wenn ein Double Reginas liegend und ganz sanft zum verklingenden Engelkonzert in die hohen Lüfte des Bühnenhimmels entschwebt, symbolisiert das nicht allein zärtlich das Einschlafen des erschöpften Mädchens. Pade kreiert damit auch ein anrührendes hochromantisches Sinnbild für den Moment der Inspiration im Erleben des Mathis.

 
Chor der Staatsoper, Harald Stamm (Riedinger), Peter Galliard (Wolfgang Capito). Foto: Franz Schlechter
 

Chor der Staatsoper, Harald Stamm (Riedinger), Peter Galliard (Wolfgang Capito). Foto: Franz Schlechter

 

Der großartige Einfall, die scheinbar naive Bauerntochter in das Zentrum der inneren Handlung zu stellen, rettet die Inszenierung. Ein offener Raumkubus, patchworkartig angereichert mit Bildreminiszenzen an Grünewald, Francis Bacon und Jean-Michel Basquiat, wird zur Spielfläche für einen philosophischen Querschnitt durch die deutsche Geschichte. Pade und sein Bühnenbildner Alexander Lintl setzen auf den mitdenkenden Zuschauer, nur bleiben ihre eigenen Ideen oft ziemlich kopflos, etwa indem sich zur Bücherverbrennung ein Quader mit Adornos Text „Auf die Frage: Was ist deutsch“ in ein Kruzifix mit einem hakenkreuzförmig darum gewundenen athletischen Männerkörper umdreht. Unbestritten ist Adorno eine erste Adresse, wenn es um die Dialektik von Kunst und Gesellschaft geht, doch sollte das auf dem Theater nicht zitiert, sondern szenisch umgesetzt werden. Vollends zuschanden geht der ideologiekritische Anspruch am unerbittlichen D-Dur des Unisono-Jubelhymnus von Antonius und Paulus, mit dem des Malers Bekehrung zum Künstlertum verherrlicht wird. Hier flüchtet sich der Regisseur wie schon beim Duett-Pendant Schwalb/Mathis in der ersten Szene in banales Absingen von der Rampe.

Von seinem einstigen Renommee eines Referenzstückes der klassischen Moderne hat Hindemiths „Mathis“ in den letzten Jahrzehnten viel eingebüßt. An Wiederbelebungsversuchen des als textlastig und in seiner historisierenden Tonsprache als restaurativ vorverurteilten Werkes fehlte es zwar nicht. Sie waren jedoch meistens von Zweifeln an der Theaterwirksamkeit der überkommenen Werkgestalt bestimmt und setzten deshalb auf Kürzungen bis hin zu Versuchen mit gesprochenen Dialogen. Simone Young geht erfolgreich den entgegengesetzten Weg. Sie macht die üblich gewordenen Striche wieder auf und demonstriert durch ihr ausdrucksgeschmeidiges Dirigat, wie viel noch unentdeckter emotionaler Elan sowohl in den breit angelegten Ensembles als auch in der grundierenden Motorik der orchestralen Klangraster steckt. Augenblicke extremer Gefühlsintensität wechseln einander mit sublimen Farbwirkungen ab. Auch wenn die Philharmoniker Hamburg am Premierenabend das wünschenswerte Maximum an spieltechnischer Genauigkeit um einige Grade verfehlen, erreicht Young weit mehr als die Rehabilitierung der Partitur vom Makel spröder Leerlaufmusik.

Die Lebendigkeit dieser Interpretation wird durch die von Florian Csizmadia einstudierten, flüssig und expressiv singenden Chöre noch beträchtlich gesteigert. Darstellerisch stellt Pades durch häufig blockartige Chorführung die Sänger vor lösbare Aufgaben, seine Dämonen lehren einen nur ob ihrer geschlechtsneutralen Harmlosigkeit das Fürchten. Die erlesene Besetzung der Solopartien beschert eine Sternstunde der Hindemith-Rezeption. Falk Struckmann singt den Mathis schnörkellos mit hochdifferenzierter Farbenskala vom Heldischen bis zum Lyrischen. Susan Anthony verfügt für die Ursula über Spitzentöne von schmerzerfülltem Espressivo. Scott MacAllister beeindruckt als Kardinal Albrecht durch die glutvolle Eloquenz seines Tenors und Inga Kalna bringt den silbrig leuchtenden Seelenton für Regina ein.

Christian Tepe

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