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Schlag nach bei Adorno
Hindemiths „Mathis der Maler“ in Hamburg ·
Von Christian Tepe
Wie vieles weiß ich: Mit diesen Worten verhaucht die sterbende
Regina ihr junges Leben. In seiner Inszenierung schenkt Christian
Pade der Tochter des Bauernführers Schwalb ganz besondere Aufmerksamkeit.
Bereits kurz vor ihrem ersten Auftritt steht Regina hinter dem großformatigen
Selbstporträt des Malers, und schon jetzt wird deutlich: Von
diesem Mädchen wird später der entscheidende Anstoß
für Mathis’ Klärung seines künstlerischen Selbstverständnisses
ausgehen. Was Mathis von dem unschuldigen Kind empfängt, ist
die unverstellte Erkenntnis des menschenverantworteten Leidens in
der Welt, so wie Regina es in den toten Augen ihres massakrierten
Vaters entdecken muss, und die moralische Kraft, genau das mit den
Mitteln seiner Kunst zu zeigen. Folgerichtig ist Regina zu Beginn
des Odenwaldbildes die Akteurin, die den Maler in das Reich der
Einbildungskraft hinübergeleitet. Wenn ein Double Reginas liegend
und ganz sanft zum verklingenden Engelkonzert in die hohen Lüfte
des Bühnenhimmels entschwebt, symbolisiert das nicht allein
zärtlich das Einschlafen des erschöpften Mädchens.
Pade kreiert damit auch ein anrührendes hochromantisches Sinnbild
für den Moment der Inspiration im Erleben des Mathis.
Der großartige Einfall, die scheinbar naive Bauerntochter
in das Zentrum der inneren Handlung zu stellen, rettet die Inszenierung.
Ein offener Raumkubus, patchworkartig angereichert mit Bildreminiszenzen
an Grünewald, Francis Bacon und Jean-Michel Basquiat, wird
zur Spielfläche für einen philosophischen Querschnitt
durch die deutsche Geschichte. Pade und sein Bühnenbildner
Alexander Lintl setzen auf den mitdenkenden Zuschauer, nur bleiben
ihre eigenen Ideen oft ziemlich kopflos, etwa indem sich zur Bücherverbrennung
ein Quader mit Adornos Text „Auf die Frage: Was ist deutsch“
in ein Kruzifix mit einem hakenkreuzförmig darum gewundenen
athletischen Männerkörper umdreht. Unbestritten ist Adorno
eine erste Adresse, wenn es um die Dialektik von Kunst und Gesellschaft
geht, doch sollte das auf dem Theater nicht zitiert, sondern szenisch
umgesetzt werden. Vollends zuschanden geht der ideologiekritische
Anspruch am unerbittlichen D-Dur des Unisono-Jubelhymnus von Antonius
und Paulus, mit dem des Malers Bekehrung zum Künstlertum verherrlicht
wird. Hier flüchtet sich der Regisseur wie schon beim Duett-Pendant
Schwalb/Mathis in der ersten Szene in banales Absingen von der Rampe.
Von seinem einstigen Renommee eines Referenzstückes der klassischen
Moderne hat Hindemiths „Mathis“ in den letzten Jahrzehnten
viel eingebüßt. An Wiederbelebungsversuchen des als textlastig
und in seiner historisierenden Tonsprache als restaurativ vorverurteilten
Werkes fehlte es zwar nicht. Sie waren jedoch meistens von Zweifeln
an der Theaterwirksamkeit der überkommenen Werkgestalt bestimmt
und setzten deshalb auf Kürzungen bis hin zu Versuchen mit
gesprochenen Dialogen. Simone Young geht erfolgreich den entgegengesetzten
Weg. Sie macht die üblich gewordenen Striche wieder auf und
demonstriert durch ihr ausdrucksgeschmeidiges Dirigat, wie viel
noch unentdeckter emotionaler Elan sowohl in den breit angelegten
Ensembles als auch in der grundierenden Motorik der orchestralen
Klangraster steckt. Augenblicke extremer Gefühlsintensität
wechseln einander mit sublimen Farbwirkungen ab. Auch wenn die Philharmoniker
Hamburg am Premierenabend das wünschenswerte Maximum an spieltechnischer
Genauigkeit um einige Grade verfehlen, erreicht Young weit mehr
als die Rehabilitierung der Partitur vom Makel spröder Leerlaufmusik.
Die Lebendigkeit dieser Interpretation wird durch die von Florian
Csizmadia einstudierten, flüssig und expressiv singenden Chöre
noch beträchtlich gesteigert. Darstellerisch stellt Pades durch
häufig blockartige Chorführung die Sänger vor lösbare
Aufgaben, seine Dämonen lehren einen nur ob ihrer geschlechtsneutralen
Harmlosigkeit das Fürchten. Die erlesene Besetzung der Solopartien
beschert eine Sternstunde der Hindemith-Rezeption. Falk Struckmann
singt den Mathis schnörkellos mit hochdifferenzierter Farbenskala
vom Heldischen bis zum Lyrischen. Susan Anthony verfügt für
die Ursula über Spitzentöne von schmerzerfülltem
Espressivo. Scott MacAllister beeindruckt als Kardinal Albrecht
durch die glutvolle Eloquenz seines Tenors und Inga Kalna bringt
den silbrig leuchtenden Seelenton für Regina ein.
Christian Tepe
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