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Richard Strauss und das Ballett
Ein Komponist zwischen Faszination und Ablehnung · Von
Vesna Mlakar
Die Haltung von Richard Strauss zum Ballett war sein Leben lang
paradox. Einerseits hatte er ziemlich wenig für die Art von
Ballett übrig, wie sie etwa bis zur Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert
an den mitteleuropäischen Hoftheatern dargeboten wurde, sei
es als selbstständiges Divertissement, sei es als zusammenhanglose
Tanzeinlage in den Opern. Zweifelsohne war sein dramaturgisches
Ideal eines jeden Bühnenstücks auf die handlungskohärenten,
kausal bis ins Kleinste vernetzten Musikdramen des – von ihm
zutiefst verehrten – „Dichterkomponisten“ Richard
Wagner zurückzuführen. Andererseits hatte die souveräne
Beherrschung der Technik, also des jeweiligen handwerklichen Rüstzeugs
eines Bühnenkünstlers, im Denken des Theaterpraktikers
Strauss einen besonders hohen Stellenwert.
Ballett wird Avantgarde
Für die gesamte Kunstentwicklung am Beginn des 20. Jahrhunderts
wurde der Bühnentanz zum entscheidenden Motor. Seit der Pariser
Premiere vom Frühjahr 1909 gelang es Sergej Diaghilew, mit
seinen Ballets Russes die wichtigsten zeitgenössischen Künstler
anzulocken. Dies galt für Komponisten wie Strawinsky, Debussy,
Ravel, Satie, Prokofjew, Poulenc, de Falla, für Maler wie Picasso,
Braque, Matisse, Derain, Roualt, Utrillo, de Chirico sowie für
Literaten wie Hofmannsthal und Cocteau. Gerade eine so schillernde
Figur wie der Diplomat, Verleger, Kunstkenner und als brillanter
Chronist seiner Zeit heute noch viel zu unbekannte Harry Graf Kessler
zählte zu den glühenden Bewunderern dieser Truppe. Denn
der Impresario und seine Tänzer und Choreografen reproduzierten
keine alten Erfolgsstücke – etwa die Klassiker Peter
Tschaikowskys und Marius Petipas –, sondern führten die
Tanzkunst zu neuen Ufern und rückten das Ballett in die vorderste
Reihe der innovativen Künste. Wer zur Avantgarde gehören
wollte, musste sich früher oder später mit Ballett beziehungsweise
Tanz beschäftigen.
Erste Annäherung
Mit der ihm eigenen, von Faszination wie von kritischer Distanz
geprägten Haltung gegenüber tänzerischen Entwicklungen
und Stoffen schien Strauss spätestens seit den Welterfolgen
seiner Opern-Einakter „Salome“ (1905) und „Elektra“
(1909) „unterwegs“ zum Ballett zu sein, denn in beiden
Werken ist die Sängerin der Titelpartie auch als Tänzerin
gefordert.
Doch Strauss‘ erster, von Frank Wedekind angeregter Ballett-Plan,
stammt bereits aus dem Jahr 1896. Weitere Versuche, darunter ein
dreiaktiger „Kythere“-Entwurf – inspiriert durch
die im Louvre hängenden Bilder von Watteau – folgten.
Auch der allererste Kontakt zwischen Hugo von Hofmannsthal und Strauss
galt dem Tanz. Ihr gemeinsamer Briefwechsel beginnt 1900 wegen eines
Ballett-Szenariums mit dem Titel „Der Triumph der Zeit“,
das später von Alexander Zemlinsky realisiert wurde. 1912,
also bereits nach Verwirklichung der gemeinsamen Opern „Elektra“
und „Rosenkavalier“, macht Hofmannsthal nochmals einen
Versuch in Sachen Tanz. Er schlägt Strauss quasi eine Fortsetzung
der „Elektra“ als Ballett vor: „Orest und die
Furien“. Vaclav Nijinsky, Diaghilews Startänzer, soll
den Orest verkörpern. Zu einer Zusammenarbeit mit den Ballets
Russes kommt es jedoch erst zwei Jahre später bei der „Josephslegende“.
Dieses erste der drei genuinen Strauss-Ballette war – kurz
vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs 1914 in Paris unter Leitung des
Komponisten uraufgeführt – ein multinationales Projekt.
Strauss witterte in seiner Mitwirkung möglicherweise die Chance,
nach „Salome“ und „Elektra“ wieder Anschluss
an die Avantgarde zu finden, von der er sich – in der Meinung
vieler – mit der Komposition des freilich überaus erfolgreichen
„Rosenkavalier“ (1911) entfernt hatte. Auch dürfte
ihm die historische Dimension bewusst gewesen sein: Zum ersten Mal
seit Christoph Willibald Glucks „Don Juan“ und Beethovens
„Die Geschöpfe des Prometheus“ war ein deutscher
Komponist an einem größeren Ballettwerk von internationaler
Geltung beteiligt. Die „Josephslegende“ sollte übrigens
das einzige in Kooperation mit deutschsprachigen Künstlern
entstandene Projekt der Ballets Russes bleiben.
Entstehungsgeschichte wie Rezeption dieser Tanzpantomime –
so der Untertitel – sind geprägt durch Differenzen in
den künstlerischen Absichten von Hofmannsthal und Harry Graf
Kessler auf der einen sowie Richard Strauss auf der anderen Seite:
Die Librettisten wollten auf eine Art „geistiges Drama“
mit mythologisch-biblischem Hintergrund hinaus, das sie einzig mit
den abstrakten formalen Mitteln, die gerade dem Tanz in besonderer
Weise zur Verfügung stehen, verwirklichen zu können glaubten.
Dem Komponisten dagegen schwebte ein praktisches Bühnenstück
vor, das als solches in erster Linie aus sich selbst, aus seiner
Bühnenwirkung heraus – auch in musikalischer Hinsicht
– aufgefasst und erklärt werden muss.
Süßigkeiten
Das zweite selbstständige Tanzwerk aus der Feder von Richard
Strauss war das „heitere Wiener Ballett in zwei Aufzügen“
„Schlagobers“ – uraufgeführt 1924, also zehn
Jahre nach der „Josephslegende“. Die Entstehungsgeschichte
dieses Divertissements ist von zwei „Krisen“ im Schaffen
von Strauss und einer glücklichen Begegnung geprägt.
1919 ging Strauss als Co-Direktor der Wiener Staatsoper (neben
Franz Schalk) in die österreichische Hauptstadt. Dort wollte
er dem Ballett künstlerischen Aufschwung geben und wünschte
sich daher als Mitarbeiter den gefeierten Münchner Tänzer
Heinrich Kröller (1880-1930). Dieser hatte erstmals 1915 in
Frankfurt am Main mit eigenen choreografischen Arbeiten auf sich
aufmerksam gemacht und leitete neben Berlin seit 1917 auch das Ballett
am Münchner Hoftheater. Doch die Belastung mit einer Fülle
administrativer Aufgaben hatte zur Folge, dass Strauss nur noch
wenig zum Komponieren kam. Außerdem war das Verhältnis
zu Hofmannsthal seit den oft hitzigen Diskussionen um die endgültige
Gestaltung der „Ariadne auf Naxos“-Erstfassung in ihrer
Mischung aus Schauspiel, Tanz und Oper noch merklich gespannt. So
war Strauss als Librettist zunächst auf sich allein gestellt,
während zugleich die enge Zusammenarbeit mit Kröller seine
Tanzleidenschaft neu aufflammen ließ.
Als ironisch geprägte Hommage an das Wien der „guten
alten Zeit“ ist das abendfüllende Ausstattungsballett
„Schlagobers“ – eine Hommage auch an den altmodischen
Spitzentanz nach Strauss‘ Geschmack – zu verstehen.
Dies eine Mal dachte Strauss sich Stoff und Szenarium selbst aus
und schrieb eigenhändig ein ausführliches Libretto, das
– im Gegensatz zur Musik – sogleich den Spott der zeitgenössischen
Kritiker auf sich zog: Ein Firmling kommt in die berühmte Wiener
Konditorei Dehmel und darf zur Feier des Tages nach Herzenslust
zugreifen. Er ist so gefräßig, dass ihm schlecht wird.
In den Alpträumen auf dem Krankenlager umtanzen ihn Süßigkeiten
aller Art aus dem Reiche der Prinzessin Praliné und dem Likörschrank...
Strauss, der laut eigener Aussage mit der „Josephslegende“
den Tanz erneuern wollte, hätte sich nicht schwerwiegender
selbst widersprechen können. Gerade weil der Handlungsfaden
dieses als „Milliarden-Ballett“ geschmähten Werks
– mehr als 300 Kostüme und eine äußerst aufwendige
Dekoration wurden trotz Budgetschwierigkeiten angefertigt –
alles andere als fest geknüpft ist, lässt sich daraus
ein „Grundbedürfnis“ von Strauss ableiten, das
Romain Rolland in einem Tagebucheintrag vom 12. Mai 1924 als Zitat
festgehalten hat:
„Man erwartet von mir immer Ideen, große Einfälle.
Ich habe wohl das Recht, nicht wahr, die Musik zu schreiben, die
mir passt. Ich kann die Tragik unserer Zeit nicht ertragen. Ich
möchte Freude machen. Ich brauche das.“
Schwer an den Folgen des Ersten Weltkriegs leidend, war das Wien
der frühen 20er-Jahre – von Inflation und Hunger geplagt
– schwerlich ein Ort, Fraß und Völlerei darzustellen
und vermeintlich zu glorifizieren. Daran änderte auch der Umstand
nichts, dass Strauss dies in bester Absicht und mit gewohnter Könnerschaft
tat. Das Publikum vermochte in „Schlagobers“ –
trotz Kröllers bezaubernder Choreografie – nicht mehr
als einen zynischen Zeitkommentar zu sehen. Nur in Breslau wurde
das Ballett nachgespielt, und dabei ist es bis heute geblieben.
Wendung zur Klassik
Pino Mlakar (geb. 1907), in den 30er- und 40er-Jahren des 20.
Jahrhunderts selbst ein bedeutender Interpret der Josephs-Rolle,
hat gemeinsam mit Richard Strauss in München dessen letztes
Ballett „Verklungene Feste“ geschaffen. Die „Verklungenen
Feste – Tanzvisionen aus zwei Jahrhunderten“ waren eine
Novität. Ausgangspunkt war die in der Feuillet’schen
Tanznotation festgehaltene barocke Tanzkultur. Für Strauss
war es eine wiederholte Hinwendung zur französischen Klassik.
Bereits 1922/23 hatte der Wiener Ballettmeister Heinrich Kröller
Strauss für eine geplante Ballett-Soirée um eine Komposition
von „Gesellschafts- und Theatertänzen im Stile Ludwig
XV.“ gebeten: die Tanzsuite aus Klavierstücken von Francois
Couperin.
Die Vorstellung eines „Musikdramas ohne Worte“, wie
der zentrale Untertitel der „Josephslegende“ noch auf
dem letzten Typoskript, das Strauss als Kompositionsvorlage benutzt
hatte, lautete, diente nicht nur der ursprünglich angedachten
Fixierung des theatralischen Charakters dieses Werks, sondern beschreibt
das generelle Ballett-Verständnis von Richard Strauss. Dass
der Komponist sein quasi selbstgestecktes Ziel in drei Fällen,
also bei seinen sämtlichen eigenständigen Ballett-Werken
„Josephslegende“ (1914), „Schlagobers“ (1924)
und „Verklungene Feste“ (1941), immer wieder verfehlte,
ist erstaunlich. Bei der „Josephslegende“ redeten Hofmannsthal,
Kessler und Strauss erfolgreich aneinander vorbei mit dem Ergebnis,
dass der „mystisch-archaische Ballast“ des Werks während
der Vertonung mehr oder weniger über Bord geworfen wurde. „Schlagobers“
stellt das Paradoxon dar, eine Rahmen- und zahlreiche Binnenhandlungen
ebenso miteinander verknüpfen zu wollen wie die unterschiedlichsten
Realitätsebenen. Das formale Mittel des Spitzentanzes erwies
sich hierzu als völlig ungeeignet aufgrund der nur schwer möglichen
Semantisierbarkeit (Fähigkeit, konkrete Bedeutungen hervorzubringen),
ebenso wie die quasi bloße Aneinanderreihung von Tanznummern.
Am Spitzentanz hielt Strauss jedoch nicht nur fest, weil dieser
einer ästhetischen Vorliebe des Komponisten entsprach, sondern
auch seinem Ideal von technischem Vermögen als Grundlage jeder
Künstlerschaft nahekam – wie beim „Ballett über
Ballett“ „Verklungene Feste“.
Der musikalische Nachvollzug einer narrativ konstruierten Handlung
durch Strauss stellt – historisch gesehen – eher die
Ausnahme als die Norm tänzerischer Gestaltung dar. Strauss
hatte nicht wahrgenommen, dass er – ganz abgesehen von den
formalen Mitteln – über die genuinen Grenzen der Gattung
Ballett hinausging. Oder wollte er diese nur ausdehnen?
Vesna Mlakar
Choreografiert: Strauss’ Konzertmusik
Noch zu seinen Lebzeiten wurde Strauss‘
Konzertmusik fürs Ballett entdeckt. Den Anfang hatte 1916
Nijinsky mit seiner New Yorker Version des „Till Eulenspiegel“
gemacht. Obwohl die Zahl der Ballette, die auf sinfonischen Dichtungen,
Orchestersuiten oder Liedern von Strauss basieren, kaum mehr überschaubar
ist, lassen einzelne Choreografien von „Ein Heldenleben“
(Irene Lewison), „Tod und Verklärung“ (Aurel
von Milloss), „Don Juan“ (Tatjana Gsovsky, Aurel von
Milloss, Frederick Ashton, Marcel Luipart), Macbeth (Mario Pistoni),
„Don Quixote“ (John Neumeier) oder den „Metamorphosen“
(Yvonne Georgi) und „Vier letzten Liedern“ durchaus
eine ballettgeschichtliche Bedeutung erkennen. Vor allem zwei
Fassungen des letztgenannten Werks gelangten zu weltweiter Anerkennung:
Maurice Béjarts „Serait-ce la Mort“ (1970)
und Rudi van Dantzigs „Letzte Lieder“ (1977). Antony
Tudors „Knight Errant“ liegt „Der Bürger
als Edelmann“ zugrunde, Rudi van Dantzigs „Blown in
a Gentle Wind“ fußt auf „Tod und Verklärung“.
Eliot Fields „Early Songs“ wird man auf den ersten
Blick ebenso wenig mit dem Namen Strauss assoziieren wie sein
„Theatre“, eine tänzerische Version der Burleske
für Klavier und Orchester. Die wahrscheinlich erfolgreichste
Strauss-Choreografie (neben Balanchines „Vienna Waltzes“
von 1977) dürfte Antony Tudors „Dim Lustre“ sein.
Das Stück wurde 1943 – wiederum unter Verwendung der
Partitur der Burleske – für das Ballet Theatre geschaffen
und blieb mehrere Jahrzehnte im Repertoire des New York City Ballet.
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