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Vernichtung eines Genres
Operette unterm Hakenkreuz – eine Tagung in Dresden ·
Von Martin Hufner
Manchmal findet die Geschichte kein Ende. 60 Jahre sind seit der
Niederzwingung des so genannten Dritten Reiches vergangen. Man erinnert
sich, man arbeitet auf. Aber man erinnert sich oftmals schlecht
und arbeitet schlecht. Die Erinnerung wird mit der Zeit zudem nicht
einfacher. Augen- und Ohrenzeugen werden weniger. Zudem ist auch
60 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs noch viel zerstörtes
kulturelles Erbe zurückgeblieben. Auch gewisse Entwicklungen
in Kulturleben und Ästhetik haben vielfach unbemerkte Frucht
getragen. Mit diesem Thema und Phänomen beschäftigte sich
eine Tagung Anfang Mai, die die Staatsoperette Dresden in Zusammenarbeit
mit der Akademie der Künste Berlin veranstaltete: Operette
unterm Hakenkreuz.
Die oben geschilderte Erfahrung ist nicht sonderlich neu. Bereits
1962 schrieb Adorno, durchaus noch im Sinne einer Aufgabe an uns:
„Das unsichere Verhältnis der Gegenwart zu den zwanziger
Jahren wird bedingt von geschichtlicher Diskontinuität. Während
das faschistische Jahrzehnt mit all seinen Elementen angelegt war
in der Epoche unmittelbar vorher, bis tief in den Expressionismus
hinein …, hat doch der bei den Nazis beliebte Terminus Umbruch
traurig recht behalten. Die Tradition, auch die antitraditionelle,
ist abgebrochen, halbvergessene Aufgaben sind zurückgeblieben.
Was künstlerisch nunmehr mit jener Epoche sich einlässt,
greift nicht nur eklektisch auf eine unterdessen erloschene Produktivität
zurück, sondern gehorcht zugleich auch der Verpflichtung, das
Unerledigte nicht zu vergessen. Zur eigenen Konsequenz ist weiterzutreiben,
was 1933 von einer Explosion begraben ward, die in ganz anderem
Sinn Konsequenz der Epoche war.“
Ende in den 30er-Jahren
Es gibt viel Unerledigtes und ebenso viel Erledigtes aus jener
Zeit. Im Zentrum dieser Erledigungsarbeit steht auch ein musikalisches
Genre, welches in einem gewissen Maße heute ein Nachblühen
erlebt: die Operette. Insbesondere sie war von der „Explosion“
des Nationalsozialismus verschüttet worden. Was der Operette
in den 30er-Jahren des letzten Jahrhunderts widerfuhr, mag zwar
auch in einer allgemeinen ästhetischen Ab- und Entwicklung
des Genres gelegen haben, ganz sicherlich haben aber die Nazis mit
ihrer rassistischen Kulturpolitik die Gattung Operette niedergemacht,
und das, obwohl genügend Nazi-Größen sich zu Operetten
bekannt haben.
Kitsch oder Kunst?
Adolf Hitler selbst war ein großer Liebhaber von Lehárs
Operette „Die lustige Witwe“, deren Uraufführung
1905 in Wien er beigewohnt hatte. In den 30er-Jahren kam es sogar
zu einer vertrackten Annäherung zwischen Hitler und Lehár.
Dieser nahm am 27. November 1936 an der dritten Jahrestagung der
Reichskulturkammer in der Berliner Philharmonie teil, wo er auch
Hitler kennen lernte, wie der Lehár-Forscher und Theaterwissenschaftler
Stefan Frey auf der Dresdner Tagung referierte. Hitler war nach
Albert Speers Zeugnis „noch Tage danach beglückt über
dieses bedeutungsvolle Zusammentreffen. Für ihn war er in allem
Ernst einer der größten Komponisten der Musikgeschichte.
Seine ,Lustige Witwe’ rangierte für Hitler gleichrangig
neben den schönsten Opern.“ „Offiziell schlug der
Politiker Hitler in seinen Reden andere Töne an“, schreibt
Stefan Frey. Am 13. August 1920 im Hofbräuhaus in München
redete er so: „Wir erleben es, dass wohl ein Friedrich Schiller
für eine Maria Stuart 346 Taler erhalten hat, aber auch, dass
man für die Lustige Witwe 3½ Millionen heute erhält,
dass man für den größten Kitsch heute Millionen
verdient.“ Die „Lustige Witwe“ großer Kitsch
oder große Kunst? In der anarchischen nationalsozialistischen
Kulturpolitik ging das ohne Umschweife zusammen. Peter Kreuder,
der die „Lustige Witwe“ 1939 für das Theater am
Gärtnerplatz in München bearbeitete, notierte: „Wie
gesagt, ein prächtiger Mensch, dieser Hitler, soweit es die
Operette betraf...
Hitler erzählte mir, dass er von meiner Neubearbeitung restlos
begeistert sei. Er nannte es nicht Jazz, was ich gespielt hatte.
Er nannte es moderne Rhythmen.“
„Entartung der Operette“
Das alles hinderte freilich die Nazis nicht daran, zahlreiche Künstler,
auch aus der Operettenwelt, zu ermorden. Trotz der „Lustigen
Witwe“ wurde der Uraufführungs-Danilo von 1905, der damals
auch Hitler begeistert hatte, am 28. Juli 1942 nach Theresienstadt
transportiert, wo er am 5. März 1943 – nach offizieller
Lesart – den „Tod durch Entzehrung“ erlitt.“
Übrigens wurde auch von Seiten seiner Kollegen aus der E-Musik
gegen Lehár gespielt: Nachdem Richard Strauss die von Severius
Ziegler verantwortete Ausstellung „Entartete Musik“
1938 besucht hatte, äußerte er sich, er habe „den
ganzen Franz Lehár vergessen. Das ist die ,Entartung‘
der Operette!“
Strauss wollte gar, wie Frey auf der Tagung darlegte, nach seiner
Ernennung zum Präsidenten der Reichsmusikkammer ein deutsches
Urhebergesetz entwickeln: „Demnach müsste ein Dreimäderlhaus,
Verarbeitung Goethe’scher Lieder in einer Lehàr’sche
Schmachtoperette und all der Unfug polizeilich verboten werden können.“
Falsche Rasse
Wenn es schon so problematisch für die Kulturpolitik der
Nazis war, mit einem „arischen“ Komponisten umzugehen,
wie sollte es dann erst mit den Nichtarischen sein. Der Vorgang
um den so genannten Walzerkönig Johann Strauß sei eigens
erwähnt. Durch einen Zufall entdeckte man nämlich 1938,
dass sein Stammbaum im Rahmen nazistischer Ideologie Probleme aufwies.
Strauß war ein, damals, so genannter Vierteljude. Damit wäre
die Verbreitung seiner Musik „als für die deutsche Volksseele
schädlich“ eigentlich nicht gestattet. Der Reichspropagandaminister
Joseph Goebbels nahm sich der Sache höchstpersönlich an
und erklärte die Angelegenheit zur „Geheimen Reichssache“.
Komplett verwirrend wird die Operettengeschichte in der Person
des Komponisten Léon Jessel. Er war der Komponist des „Schwarzwaldmädels“,
einer Operette, die 1917 in Berlin erfolgreich einschlug. In den
schweren und entbehrungsreichen Zeiten im ersten Weltkrieg fand
er hier den richtigen Beruhigungston und das Bild für ein tröstliches
Heimweh nach Heimat und ländlichem Glück. Jessel war ein
Jude, der zum Christentum konvertierte und, wie sein Biograph Albrecht
Dümling dokumentierte, eher national gestimmt war. Er ersuchte
mehrfach vergeblich um die Aufnahme in den „Kampfbund für
Deutsche Kultur“, dem der Nazi-Mythologe Alfred Rosenberg
vorstand. Jessel sah sich ferner, wie Dümling schreibt „als
Opfer jüdischer Theaterdirektoren. … Die Tatsache, dass
seit 1927 – mit Ausnahme der Operette ‘Die Luxuskabine’
(Leipzig 1932) – kein neues Bühnenwerk von ihm uraufgeführt
worden war, wertete er als Folge gezielter Boykottmaßnahmen.“
Das „Schwarzwaldmädel“ hätte nach kulturästhetischen
Maßstäben eine gute Nazi-Operette werden können.
Die Nordbayerische Zeitung schrieb am 12. März 1933: „An
wirklich köstlicher Walzermelodik nach Wiener Art, unbeeinflusst
von Jazz und Niggerrhythmik, ist kein Mangel.“ Jessel war
aber ein Problem. Denn er gehörte nach nazistischen Begriffen
der falschen Rasse an, da konnte er der nationalsozialistischen
Ideologie so nahe stehen wie er wollte. Zwar wurde noch 1933 das
„Schwarzwaldmädel“ verfilmt, aber nach 1936 verschwanden
auch die letzten Aufführungen des „Schwarzwaldmädels“
von den deutschen Bühnen. Aus Jessel hat man keine „Geheimsache“
gemacht. Am 15. Dezember 1941 wurde Jessel wegen „Verbreitung
von Greuelmärchen“, wegen „Hetze gegen das Reich“
und „Verstoßes gegen das Heimtücke-Gesetz“
zur Gestapo vorgeladen und starb schließlich auf Grund der
dort erfolgten Misshandlungen wenige Tage später im „Jüdischen
Krankenhaus“ am 4. Januar 1942.
Ausmerzung der Juden
Zwei biographische Skizzen, die verschiedenartiger und auch ähnlicher
nicht ausfallen können. Mit dem Genre der Operette hatte die
nazistische Kulturpolitik ein besonderes Problem: das zentrale Problem
ihrer kulturellen Ideologie und Praxis schlechthin. Denn die Protagonisten
der Operette (Komponisten und Librettisten, Theaterdirektoren) waren
fast durchweg jüdisch. In einem Brief an Reichsminister Joseph
Goebbels stellte der Reichsdramaturg und Berliner Oberregierungsrat
Rainer Schlösser 1934 fest: „Bei Machtübernahme
war die Lage auf dem Operettenmarkt so, dass 80 Prozent der Produktion
sowohl musikalisch wie textlich jüdischen Ursprungs war. Zehn
Prozent war den Komponisten nach arischen, den Librettisten nach
aber ebenfalls jüdischen Ursprungs. Die rein arischen Werke
endlich dürften zehn Prozent nicht überstiegen haben.
Unter diesen Umständen war es nicht möglich, die jüdischen
Bestandteile der Operette restlos auszumerzen.“
Aber in Einzelfällen gelang dies sehr früh, nahezu perfekt,
wie zum Beispiel bei den Werken Paul Abrahams. Durch den rassistischen
Boykott reduzierte sich die Anzahl der Aufführungen seiner
Operette „Die Blume von Hawaii“ von 1.725 in der Spielzeit
1932/33 auf 8 in der nachfolgenden Saison. Ein scharfer und brutaler
Schnitt. Der Intendant der Staatsoperette Dresden, Wolfgang Schaller
stellte im Verlauf der Dresdner Tagung fest: „Die Nazis haben
aus ideologischen und Rassegründen die Werke der jüdischen
Komponisten geradezu verteufelt, haben die Komponisten und Librettisten
aus dem Land getrieben und umgebracht und die Werke diskreditiert.“
Neben die rassische Begründung trat aber auch eine ästhetische:
„Der subversive Witz, der Spaß, die Kritik und das Lachen
der einfachen Leute über die Großen da droben, die Erotik,
die Laszivität – diese ganzen Dinge waren den Nazis suspekt
und danach wurde es ersetzt.“
Probleme im Exil
Vielen Protagonisten, die nicht von den Nazis ermordet wurden,
sondern denen die Emigration oder Flucht gelang, wie zum Beispiel
Ralph Benatzky, Emmerich Kálmán, Paul Abraham oder
Robert Stolz, konnten jedoch im amerikanischen Exil kaum einen Fuß
auf den Boden bekommen. In den USA hatte sich längst eine andere
Musikindustrie etabliert. Ganz düster beschrieb das Ralph Benatzky
in seinen Tagebüchern: „Die Mehrzahl der so genannten
Komponisten hier arbeiten nicht in unserem Sinne an ihrer ‘Schöpfung’,
sondern drei, vier, fünf Musikmacher setzen sich zusammen und
fabrizieren zusammen einen ‘Hit’ oder dergleichen. …
Noch nie habe ich im Radio einen Komponisten oder Textautor genannt
gehört … und von den musikalischen Autoren von Operetten
oder Ähnlichem weiß man in den allerseltensten Fällen
den Namen. Man kennt die bekanntesten Jazzbandleader, und die meist
trostlosen, schlechten Sänger werden immer wieder genannt.
… Man ist ein Stein unter Steinen, ein Niemand unter Niemands
…“ (Hollywood 1938). „Seit meinem Vertrag mit
der BMI komme ich immer mehr mit der ‘Zunft’ der Lyric-Writer
und Musikmacher hier zusammen, und es ist ganz interessant, wie
grundverschieden die hiesige Einstellung zu dem ‘Job’
des Pop-Song-(Populäre Lieder-)Schreibers ist, als in Europa.
Dort war es, abgesehen von dem Wiener Bohème und Alrobi-Verlag,
doch noch irgendwie zumindest ein Kunst-Handwerk! Hier ist es ein
‘Beruf’, der gleich nach Taschendiebstahl und Pferdestehlen
kommt, in keiner Weise künstlerisch oder gesellschaftlich ernst
zu nehmen, und ein Gewerbe, das, wie Zuhältersein, wohl unter
Umständen seinen Mann, aber nur mit obskuren catch-as-catch-can-Griffen
nährt“ (1941 in New York).
Verfall nach 1945
Überwintern konnte die Operette auf diesem Wege auch nicht
recht. Im Gegenteil, man schloss nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs
an die durch musikalische Schwindsucht geprägte Operettenkultur
der Nazis wieder an. Ironie des Schicksals: Schon 1945 gab es in
Deutschland 20 Einstudierungen des „Schwarzwaldmädels“,
1946 haben 72 Theater dieses Werk gebracht. Auch die Aufführungstradition
vor 1933 ging weithin verloren. Die Operette der 20er-Jahre pendelte
ästhetisch häufig genug zwischen Cabaret, Revue und Zeitkritik.
Der Mitorganisator der Dresdner Tagung, Kevin Clarke, führte
an zahlreichen Musikbeispielen vor, wie sich der alte Charme, das
Gefühl für Nuancen und die Zwischentöne, aber auch
handfeste erotische Anspielungen nach 1945 verloren haben.
Für Volker Klotz, den Autor der großen Operettenmonographie,
war allerdings das Genre der Operette schon in den 20er-Jahren einem
Verfall ausgesetzt, der nicht nur in Deutschland festzustellen gewesen
sei. Die Nazis haben alle ausländischen Operettenkomponisten
herausgeworfen und die jüdischen Komponisten verboten. „Damit
haben die Nazis die Operette nur härter kaputtgemacht“,
meint Volker Klotz.
Stefan Frey stimmt dem eingeschränkt zu: „Es ist zu
einfach, zu sagen, der Nationalsozialismus habe die Operette erledigt.
Die Operette wäre auch in der Form nicht mehr weiter gegangen.
Es war auch ein Generationenproblem. Die ganzen arrivierten Komponisten
hätten sich nicht mehr großartig weiterentwickelt. Der
Generationenwechsel, der stattgefunden hätte, hätte bestimmt
in eine andere Richtung stattgefunden, was dann Musical wurde in
Amerika. Einschneidender ist der Bruch in der Aufführungstradition
nach dem Weltkrieg, dass dieser jüdische Witz verloren ging.
Man merkt in sämtlichen Sparten der Unterhaltungsbranche, dass
dieses Niveau nicht mehr erreicht wurde. Alles ist sehr dröge
und humorlos geworden. Und das hat sich auch in den Operetteninszenierungen
gespiegelt.“ In die gleiche Richtung argumentiert auch der
Theaterwissenschaftler Jürgen Gauert: „Die Nazis haben
die Operette kaputt gemacht, indem sie eigentlich das ganze jüdische
Genre zerhauen haben. Sie haben an ihre Stelle Trachtenoperetten
gesetzt, Operetten, die unendlich bieder waren. Das Problem ist,
dass in den 50er-Jahren nicht die silbernen Operetten der jüdischen
Komponisten wiederentdeckt wurden, sondern dass man weiterhin die
Nazioperetten gespielt hat. ‘Schäfchen zur linken“
von Karlheinz Gutheim und auch Goetze-Operetten wurden bis in die
60er-Jahre gespielt. Von Kálmán nur die großen
Operetten, Leo Fall so gut wie gar nicht mehr.“
Aber auch institutionell haben sich die Rahmenbedingungen nach
dem Weltkrieg geändert. „Die Operette war oft an privat
geführten Theatern aufgeführt mit großen Stars.
Es gab in Berlin und Wien dutzend Operettenbühnen. Das gibt
es heute nicht mehr.“ So gäbe es heute kaum noch Anwälte
für die Operette an den Theatern selbst. Aus all dem resultiert,
so Gauert, „die Schwierigkeit, sich in die Gegenwart zu transportieren“.
Lebendig und aktuell
„Halbvergessene Aufgaben sind zurückgeblieben“,
schrieb Adorno 1962. Der Operette widerfuhr unterm Hakenkreuz eine
nachhaltige Umwandlung und zugleich Vernichtung, deren Folgen bis
in die Gegenwart zu spüren sind. Das ist sehr schade, zeigt
doch die Inszenierung der „Herzogin von Chicago“ von
Kálmán an der Staatsoperette Dresden, wie lebendig
und aktuell die Stoffe sein können. Selten genug geschieht
es im Theater, dass sich neben die zu sehende Inszenierung eine
zweite und dritte eigene stellen kann. Was kann es denn Schöneres
geben, als aus dem Theater zu kommen, sich unterhalten gefühlt
zu haben und zum Weiterdenken und Entziffern von Musik und Text
angeregt worden zu sein?
Martin Hufner
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