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Entfaltung eines Lebenswerks
Pierre Boulez zum 80. Geburtstag · Von Gerhard R. Koch
Schon Mitte der 50er-Jahre kam es zu einem Riss innerhalb der Neuen
Musik. Jedenfalls lautete die Alternative nicht mehr nur: Tradition
oder Moderne, sondern diese selbst war in ein Schisma geraten. Henzes
Exodus nach Italien markierte die Bruchlinie zwischen einer Avantgarde,
gar einem Avantgarde-Betrieb, symbolisiert durch Ortsnamen wie Darmstadt,
Donaueschingen und Köln, und einem quasi zweiten Begriff zeitgenössischer
Tonkunst, die sich von der angeblichen Orthodoxie der Seriellen,
auch Elektroniker entschieden absetzte, gleichwohl nicht minder
von den politisch restaurativen Tendenzen der Adenauer-Ära.
In der Nachfolge Henzes, der sich dabei nicht selten missverstanden
fühlte, ist es üblich geworden, vor allem auf Adorno einzuschlagen.
Denn der habe schließlich als theoretischer Wortführer
der Zweiten Wiener Schule den Darmstädter Dogmatismus ideologisch
verklärt, kompositorischen Technokratismus gefordert und befördert,
Materialfetischismus und Prozedurengläubigkeit gepredigt. Dabei
ist das genaue Gegenteil der Fall, was wieder einmal traurig bestätigt,
dass Adorno sehr oft gar nicht wirklich gelesen worden war. Nimmt
man indes seinen epochalen Vortrag „Vom Altern der Neuen Musik“
von 1954, so frappiert der Text stets aufs Neue, weil er eine überaus
präzise, ja fast ätzend dringliche Kritik an genau den
Machtverhältnissen und Tendenzen artikuliert, die ausgerechnet
er – wie allzu gern behauptet wird – gepriesen haben
soll: an der Verfahrensgläubigkeit, am Vertrauen in die selbstläuferhafte
Wirksamkeit purer Kompositionstechniken und Strukturprinzipien,
an der Institutionalisierung und Etablierung von „Schulen“
und Apparaten, am selbstzufrieden genießerischen Sichzurücklehnen
in der Gewissheit, nun habe man endlich den Fortschritt „durchgesetzt“.
Dialektik des Durchsetzens
Adornos Dialektik des „Durchsetzens“ tangierte schon
damals die Figur Pierre Boulez, der in den fünfziger und sechziger
Jahren freilich noch stärker für rigorose kompositorische
Autonomie stand. Bildeten Adorno und Boulez zunächst eine Art
Duo, so hat sich der französische Komponist und Dirigent immer
weiter von Adornos Extremposition der „Flaschenpost“-Funktion
von Kunst entfernt, stattdessen als Vermittler, Macher und Manager
in ganz anderer Weise radikal weitergewirkt. In vielfältiger
Weise ist er zur Instanz geworden, ein Begriff, dem Adorno mit nicht
unbegründetem Misstrauen begegnete. Gleichwohl gehört
es zu Boulez’ Größe, dass er bei aller Integration
in den internationalen Musikbetrieb der ästhetischen Reaktion
genügend Absagen erteilte, sich keineswegs in postmodern gemütliche
„anything goes“-Strategien einspannen ließ. Selbst
wenn er eine Platte mit Werken von Frank Zappa aufnahm, hatte dies
etwas Aufsässiges; zumindest entsprach dies seiner Geringschätzung
etwa für Henze, dessen Opern er für weit weniger wichtig
hielt im Vergleich mit dezidierter Rockmusik.
Pierre Boulez, der am 26. März achtzig wurde, hat ein halbes
Jahrhundert die Musik umgetrieben, in dieser oder jener Funktion
und Intensität, und eines kann man ihm ganz gewiss nicht nachsagen:
dass er eng und bequem sich auf nur einen Strang seines Wirkens
verlegt, auf seinen Erfolgen ausgeruht habe. Weit offen nämlich
ist der Fächer vom schier asketisch rigiden Konstrukteur bis
zum einflussreichen Kulturmanager, ja Politiker – meist eher
hinter den Kulissen. Nannte man ihn einst bewundernd-polemisch seines
Radikalismus wegen „Robespierre“ Boulez, so gibt es
schon lange – und beides schließt sich ja keineswegs
gegenseitig aus – altlinke Kritiker, die dem Granden eher
zu viel Sinn für und Nähe zur Macht attestieren. Auch
dies freilich gehört zur Dialektik: Wer Ideales bewirken will,
muss sich auf die Realität einlassen. Wem es dabei gelingt,
ohne übermäßige Kompromisse, gar Korruption seine
Ziele wie Integrität zu wahren, dem gebührt bewundernde
Anerkennung. Boulez ist sie zu Recht immer wieder zuteil geworden.
Fachmann und Mensch
Wer Boulez kennt, seine Entwicklung verfolgt hat, wird stets der
Janusköpfigkeit von analytischer Einsicht und élan vital
gewahr werden, wie er sie, durchaus im Charakter auch einer Selbstbeschreibung
im Nachruf auf den Dirigenten Hans Rosbaud, der den jungen Boulez
in Donaueschingen wie Baden-Baden als Komponisten gefördert
und zum Dirigieren animiert hat, formulierte: „So war die
Persönlichkeit Rosbauds eingeteilt in den Habitus eines Fachmanns
und den eines Menschen, dessen Bestrebungen über sein Metier
hinausgreifen. Dieses flexible Gleichgewicht zwischen dem Gesicherten
und dem Unwahrscheinlichen war der Grundzug seines Charakters.“
Etwas von diesem Doppelgesicht war stets bei ihm zu beobachten.
Man tut Boulez kaum unrecht, ja wird sogar seinem überragenden
historischen Rang gerecht, nennt man die Zeit bis in die frühen
80er-Jahre seine kompositorisch fruchtbarste. Gerade in den 50er-Jahren
ist es ihm oft erregend gelungen, die Strenge der seriellen Parameter-Determination
systematisch zuzuspitzen.
Boulez, homme de lettres, hat immer wieder Literatur vertont, René
Char wie Stéphane Mallarmé, doch kaum je danach gestrebt,
Texte quasi eins zu eins kompositorisch abzubilden. Weder an deren
Wortwörtlichkeit ist ihm gelegen noch an semantischen espressivo-Wirkungen.
Der Rätsel-Lyriker Mallarmé wurde zum Programm, „pli
selon pli“ mehr als nur Titel: Falte auf Falte sollte das
Werk sich entfalten, eben nicht schematisch, sondern mobil schillernd,
mit Worten weder als Bedeutungs- noch als Ausdrucksträgern.
Wenn am Schluss von „Tombeau“ schaurig „La mort“
herausgehaucht wird, dann hat dies rabiaten espressivo-Charakter,
doch nur gleichsam punktuell.
Ähnlich wie Berlioz oder Debussy verfolgt auch Boulez eine
Doppelstrategie als radikaler bisweilen sogar hybrid-utopischer
Konstrukteur wahrhaft unerhörter Welten – und als Klangzauberer.
Der Musikerwortspielwitz über „pli selon pli“.
„L’après midi d’un vibraphone“ traf
auch den genuin französischen Klangsensualismus von Boulez’
Musik.
Meisterwerke
Hatte Boulez im Pariser Ircam wieder zur Elektronik zurückgefunden,
so bediente er sich in „Répons“ (1981) dezidiert
der Live-Elektronik des Freiburger Experimentalstudios im Sinne
geistfunkelnder, fast technizistisch virtuoser Scherzando-Agilität.
Im übrigen liegt Boulez der Gestus des umwölkten Demiurgen
ganz und gar nicht; selbst dem Begriff des autonom-integralen Werkes
begegnet er mit Skepsis. Ja das Prinzip des „pli selon pli“
hat bei ihm mannigfache Weiterungen erfahren im Hinblick auf eine
operationalistische Ästhetik, die „work in progress“-Idee.
Ob „…explosant fixe…“, „Dérive“,
„Incises“ – schon die Titel verweisen auf die
Tendenz zur gleichsam fort und fort wuchernden, sich immer wieder
neu materialisierenden Werk-Konzeption. Das ein für allemal
abgeschlossene „Meisterwerk“ ist Boulez in den 50er-
und 60er-Jahren oft genug imponierend gelungen; als alleiniges oberstes
Ziel gilt es ihm schon lange nicht mehr.
Um ein Genre freilich hat Boulez bislang einen Bogen gemacht: das
Musiktheater. In seinem berühmt-berüchtigten Spiegel-Interview
(1967) hatte er sarkastisch pointiert, der eleganteste Ausweg aus
den Misslichkeiten des Opernbetriebes wäre letztlich, die Opernhäuser
in die Luft zu sprengen – was nicht als ironische Pointe,
sondern nur allzu bereitwillig als terroristische Aufforderung interpretiert
wurde und ihm 2001 sogar noch die nächtliche Festnahme durch
die Basler Polizei eintrug. An eine „Literaturoper“
hat Boulez natürlich nie gedacht, wohl aber an ein ästhetisch
multiples Totaltheater. Sowohl mit Jean Genet als auch Heiner Müller
hatte er Kontakte aufgenommen. In beiden Fällen hat der Tod
der Autoren die Projekte zunichte werden lassen, schwerlich ganz
zufällig. Ganz aufgegeben hat er die Idee nicht, auf deren
Realisierung wagt er indes wohl selbst nicht mehr zu hoffen. Auf
jeden Fall hat der Komponist Boulez fast vier Jahrzehnte aufregend
innovativ, für die Musik der Nachkriegszeit prägend gewirkt.
Virtuoses Hand-Spiel
In einer Rolle allerdings gefiel er sich nie: in der des quasi
messianischen Künders oder Fanatikers, zumindest Egozentrikers.
Von Stockhausens Welt-beglückungs-Monomanie hat er sich schon
lange distanziert, ebenso von Nonos einstigem politischen Engagement
wie späterer Innenschau. Stets hat er sich lebhaft für
andere Komponisten interessiert, tote wie lebende. Darin äußerte
sich nicht nur die Neugier des Komponisten, der wissen will, was
früher und um ihn herum komponiert wurde und wird, sondern
auch Ziel wie Folge einer immer umfassenderen Dirigententätigkeit.
Auch da steht Boulez für maximale Distanz zu den Typen des
Hohepriesters, gar selbstberauschten Schamanen oder Pultvirtuosen.
Wie nicht wenige überragende Dirigenten hatte ausgerechnet
der extrem professionelle Boulez autodidaktisch begonnen. Die komplizierten
Partituren der Moderne waren ihm zunächst wichtig, deren interpretatorische
Vermittlung sein Streben. Dafür, ausgehend von schier vivisektorischer
Analytik, hat er sich die eigenen dirigiertechnischen Mittel und
Möglichkeiten geschaffen: grundsätzlich ohne Taktstock,
mit staunenweckender Unabhängigkeit der Hände, mal fast
roboterhaft eckig, dann wieder fließend flexibel übertrug
er minutiös seine kompositorischen Einsichten und Absichten
auf die Orchester. Lehnten sich die Musiker gegen ihn auf, so nicht
selten aus Trotz und Frust wegen seiner unvorstellbar detaillierten
Partiturkenntnis, seinem rasiermesserscharfen Gehör und der
irritierenden Perfektion, mit der er gleichzeitig rechts einen Fünfer-
und links einen Dreiertakt schlagen konnte. Die Aversion, ja Aggression
galt der Sache, aber auch der neiderweckenden, dabei gänzlich
unzirzensischen Dirigier-Souveränität. Das Standardrepertoire
des achtzehnten und neunzehnten Jahrhunderts hat ihn wenig gereizt,
mit Ausnahme von Berlioz und Wagner. Als Operndirigent hat er in
Paris mit „Wozzeck“ debütiert, den er, gemeinsam
mit Wieland Wagner, auch in Frankfurt leitete, die dreiaktige „Lulu“
folgte in Paris, „Pelléas“ dirigierte er in London
und Cardiff. Dreimal hat er in Bayreuth Sensationen produziert:
mit „Parsifal“, 1976 mit dem Jubiläums-„Ring“,
2004 erneut mit „Parsifal.“. Mancher hat ihm das als
Zukreuzekriechen angekreidet, dabei aber übersehen, dass es
ihm nie ums Renommierereignis ging, sondern ums musiktheatralische
Gesamtkonzept. Regisseure wie Jean-Louis Barrault, Wieland Wagner,
Patrice Chéreau, Peter Stein, beim zweiten „Parsifal“
sogar Christoph Schlingensief zeugten von seinem Interesse gerade
an gemeinsamer Theaterarbeit: Schon lange stehen ihm die Spitzenorchester
in Berlin, Wien, London, Amsterdam, Chicago und Cleveland zur Verfügung.
Das BBC-Orchestra und die New Yorker Philharmoniker hat er sogar
länger geleitet. Seine Schallplatten sind Legion.
Graue Eminenz
Vergessen darf man über den eminenten Praktiker keineswegs
den Theoretiker, scharfsinnigen ästhetischen Essayisten, dem
nicht nur an der Musik liegt: Seit langem feilt er an seinem Buch
über Paul Klee. Darüberhinaus ist er vielfältig als
Lehrer, nicht zuletzt in Basel, tätig gewesen. Seine Beziehung
zu Frankreich, speziell zum Pariser Establishment ist, gelinde gesagt,
gespalten. Lange lebte er im Baden-Badener Exil, wo er immer noch
sein Domizil hat, nahm ausgerechnet französische Musik vornehmlich
in England und Amerika auf. Erst Mitte der 70er-Jahre griff der
mittlerweile weltweit Gefeierte die Pariser Avancen auf. Seine Vorstellungen
gingen ins Ircam ein, an der Konzeption der Bastille-Oper hatte
er Anteil, und auch an den Planungen für die Cité de
la Musique wirkte er stimulierend mit. Da hat er auch kulturpolitisch
viel bewirkt, galt freilich auch ein wenig als graue Eminenz innerhalb
des französischen, speziell Pariser Musikbetriebes, ohne deren
Einflussnahme wenig geschah.
Boulez hatte bald den Ruf, souverän hinter den Kulissen die
Fäden zu spinnen, die Strippen zu ziehen. Es kommt eben auch
darauf an, für welche Zwecke man die einem zugewachsene Macht
benützt. Doch Boulez’ Pragmatismus und Versöhnlichkeit
haben ihre Grenzen. Noch 2001 geriet er in Rage über die schnöde
Abservierung des Festivals von Metz. So ganz wird er seinen Frieden
mit der Pariser Kulturbürokratie wohl doch nicht machen. Sein
Lebenswerk ist erstaunlich, seine Vitalität, physisch wie vor
allem mental, ungebrochen. Boulez achtzig: na und!
Gerhard R. Koch
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