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Choreografin und Muse der Choreografen
„Marcia Haydée – Divine“ · Von
Malve Gradinger
Cornelia
Stilling-Andreoli: „Marcia Haydée – Divine“,
Henschel Verlag, Berlin, 2005, 206 Seiten, 24,90 Euro
Vom international tourenden Grand Ballet du Marquis de Cuevas kam
sie 1961 zum Stuttgarter Ballett. Ein Schicksalsmoment. Gerade nämlich
hatte der 34-jährige John Cranko (1927-73) die Leitung übernommen
– und in Marcia Haydée entdeckte er seine Muse, die
eine ganze Ära prägte: als charismatisch vielseitige,
vor allem als hochdramatische Primaballerina, nach Crankos frühem
Tod dann auch zwanzig Jahre als Stuttgarts Ballettchefin. Ein Buch
über die Haydée war längst fällig. Jetzt kann
man alles über den Weltstar nachlesen in „Marcia Haydée
– Divine“ von Cornelia Stilling-Andreoli, bebildert
von der exquisiten Ballett-Fotografin Gundel Kilian.
Die aus vielen Zeilen herauszulesende Bewunderung für ihre
Protagonistin hat Stilling-Andreoli sichtlich beflügelt: Dieses
Buch ist gründlich bis hinein in detaillierte, zum Teil sachbuch-artige
Beschreibungen der ungeheuer zahlreichen Partien und Rollen, vor
allem der von Haydée kreierten großen Cranko-Klassiker.
Es kann, besonders im Kapitel „Die Interpretin“ (Seite
120-156), geradezu als Nachschlagewerk genutzt werden. Gleichzeitig
ist diese gewissenhaft recherchierte Arbeit eine spannend zu lesende
Spurensicherung eines reichen Künstlerlebens. Wenn die Autorin
stilistisch auch hin und wieder – speziell in der hymnischen
Schilderung von Haydées Körper und tänzerischen
Qualitäten – in den leicht altmodischen Ballettomanen-Überschwang
einer älteren Generation verfällt, auch jede Strategie,
jede Entscheidung der Ballettchefin Haydée gelegentlich allzu
huldigend verteidigt, Stilling-Andreoli vermittelt eine Fülle
von Fakten und Einsichten und gliedert ihren Stoff höchst übersichtlich.
In den acht „Lebensstationen“ gibt sie gleich zu Beginn
einen bewundernswert kompakt-eindringlichen Überblick über
den Werdegang dieser Ausnahmekünstlerin: Haydée, 1937
in Niteroi in der Nähe von Rio de Janeiro in eine großbürgerliche
kultivierte Familie hinein geboren, setzt bereits als Kind ihren
Wunsch zu tanzen durch, verlässt mit 15 die Familie –
für dortige Verhältnisse eine Unerhörtheit, um an
der Londoner Royal Ballet School zu studieren, hat in Crankos „Romeo
und Julia“ 1962 ihren Durchbruch, macht als Tatjana in Crankos
„Onegin“ nach dem „Härtetest“ des New
Yorker Gastspiels 1969 Weltkarriere.
Ihrer Anziehungskraft verdankt das Stuttgarter Ballett letztlich,
dass unter ihrer Leitung ab 1976 die bedeutendsten Choreografen
wie Kenneth MacMillan, John Neumeier, Maurice Béjart, Hans
van Manen, Glen Tetley und Jiri Kylian für das Ensemble kreieren
oder ihm Stücke überlassen. Sie selbst inszeniert die
Klassiker „Giselle“ und „Dornröschen“
neu, schreibt aber auch die Crankosche Tradition fort, junge Choreografen-Talente
zu fördern. Nach Beendigung ihrer Stuttgarter Direktion 1996
zieht sie sich zwei Jahre ins Private zurück, um dann jedoch
als Partnerin des Brasilianers Ismael Ivo eine Karriere als reife
Tanztheater-Interpretin zu starten.
Was in diesem biografischen Digest anskizziert ist, wird in den
folgenden Kapiteln vertieft: „Die tänzerische Entwicklung“
widmet sich intensivst dem zwischen Dramatik und Komik so vielfältigen
Gestaltungsvermögen der Haydée. In „Partnerschaften“
werden Richard Cragun, Egon Madsen, der früh verstorbene Béjart-Star
Jorge Donn und Ismael Ivo charakterisiert, in „Die Muse der
Choreografen“ auch nochmals Cranko, Neumeier, Béjart
und van Manen; dazu geht die Autorin auf eine beträchtliche
Zahl von Werken wie unter anderem Neumeiers „Kameliendame“
und Béjarts „Wien, Wien, nur du allein“ ein.
Für die Autorin spricht auch, dass es ihr gelingt, mit verblüffender
Offenheit und dabei ohne jeden Voyeurismus in Haydées Privatleben
hineinzuleuchten. Die Autorin stellt dabei das Private immer auch
in einen beruflichen, in einen ganzheitlichen Bezug: Blieb der sich
schließlich zu seiner Homosexualität bekennende Richard
Cragun nach 16-jährigem Zusammenleben und konfliktreicher,
schmerzhafter Trennung – dank beider Disziplin – ihr
idealer Bühnen-Partner, so initiierte Jean-Christophe Blavier,
neun Jahre ihr Lebensgefährte, mit seinen Choreografien Ende
der 90er-Jahre – wie die Haydée selbst sagt –
ihren Übergang zum Ballett/Tanztheater. Und der Yoga-Lehrer
Günter Schöberl, den sie 1995 heiratete, lehrte sie innere
Ruhe und Gelassenheit. Marcia Haydée, Muse, Medium der Choreografen
und „Mutter der Compagnie“, wie die Ballettchefin scherzhaft
vom Ensemble genannt wurde, hat ein halbes Jahrhundert Tanzgeschichte
mitgeschrieben – und genau das vermittelt dieses Buch.
Malve Gradinger
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