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Unterwegs zum Belcanto
„iOPAL“ von Hespos in Hannover uraufgeführt
· Von Christian Tepe
Nur wenig Publikum verliert sich bei der dritten Vorstellung noch
im leeren Rund des Zuschauerraums. Erste Nachrichten von einer „Katastrophe“
für die Staatsoper scheinen ihre Wirkung nicht verfehlt zu
haben. Und tatsächlich: Hespos und das Produktionsteam verzichten
auf den Logizismus der Mitteilungssprache, auf ein Libretto und
dessen einheitsstiftenden Handlungszusammenhang. Aufgeführt
wird ein Konvolut disparater Einzelpartituren, deren eigenwillige
Notationszeichen Ausgangspunkte für die allabendlich neu entstehenden
Improvisationen darstellen. Die Festlegung der Mitwirkenden auf
theaterinstitutionelle Rollen wie Chorsänger, Orchestermusiker
oder auch Zuschauer und die analoge funktionale Raumseparierung
von Foyer, Orchestergraben, Bühne und Zuschauerraum sind aufgehoben.
Schon vor dem zeitlich nicht genau fixierbaren Vorstellungsbeginn
flanieren Mitglieder des Damenchores in steifer Abendgarderobe im
Foyer, wagen dezente Flirts mit den Besuchern oder spiegeln deren
erwartungslüsternes Tuscheln. Dann bewähren sich die Chordamen
als Instrumentalistinnen, indem sie eine effektvoll krachende Toccata
für Saaltüren vortragen – so gut wird das später
keiner der fliehenden Zuschauer hinkriegen.
Indes zielen all diese systematischen Normverletzungen dem ersten
Eindruck zum Trotz keineswegs auf einen Frevel an der Kunstgattung
Oper; eher partizipieren sie an ihrem Hang zur Grenzüberschreitung,
wie er historisch bereits in den irrationalen Handlungskurven etwa
der chaotischen varietà-Dramaturgie des „Troubadours“
oder in den fiebernden Koloraturen der Wahnsinnsarien immanent angelegt
ist. Der Untertitel „Große Oper“ für „iOPAL“
bedeutet also weit mehr als nur eine ironische Reminiszenz an die
Tradition. Das wird besonders deutlich, sobald man die Doppelgestalt
der vokalen Schmerzartikulation durch den Belcantogesang als Leidensausdruck
des unterdrückten, verstümmelten und entrechteten Lebens
und zugleich als einen diese misslungene Einrichtung des Daseins
utopisch transzendierenden Lustschmerz betrachtet.
Darin der Belcanto-Oper verwandt, geht es in „iOPAL“
um die großen verstörenden Augenblicke, in denen das
Subjekt mit der Leiblichkeit seiner Stimme die harte Ich-Identität
zivilisatorischer Selbstdisziplinierung aufbricht und sich zum reinen
Selbstausdruck seiner Gefühle befreit. Die artistische Technik
des verzierten Gesangs verschmilzt mit der Stimmakrobatik der Hespos’schen
Sprachkompositionen. Hermeneutisches Sinnverstehen oder musikologisches
Räsonnement erweisen sich da als schlechte Ratgeber. Was bleibt
und in das Zentrum der Rezeption rückt, ist der weltfühlende
Körper. Er wird zum Resonanzboden der szenisch-vokalen Energieabstrahlungen,
wenn Yuko Kakuta mit weitgespannten Kantilenen aus dem hochgefahrenen
Orchestergraben wie eine Venus aus dem Meer auftaucht oder wenn
Michaela Schneider in einer bestürzenden Aktionssequenz alle
Vergewaltigungen der Menschen auf sich genommen zu haben scheint
und geradezu die emotionale Summe der finalen weiblichen Verzweiflungsarien
in einen krampfartig zuckenden Leib, der anklagende Stimme ist,
entäußert.
Anna Viebrock als Regisseurin sowie Bühnen- und Kostümbildnerin
hat solche dynamischen Ereigniskulminationen mit statischen Phasen
kombiniert. Der leicht muffige Charme des Saals setzt sich in der
Ästhetik des Bühnenraums fort, der von einem illusorischen
Vexierspiegel unterteilt wird; in ihm zeigt sich gerade die Nichtidentität
der Menschen mit sich selbst, ihr jeweils eigenes Anderes und Fremdes,
was der Damenchor im und vor dem „Spiegel“ mit subtilen
Gesten und Posen der Irritation eindringlich demonstriert. Am Ende
steht mit einer ausgedehnten Jammerarie Graham F. Valentines so
etwas wie die Menschwerdung des Mannes in den Armen einer Frau,
die Andeutung eines möglichen Erbarmens des Menschen mit seiner
Naturhaftigkeit.
Hätte es nach dem überragenden Erfolg mit Luigi Nonos
„Al gran sole carico d’amore“ noch eines Beweises
für die enorme Leistungs- und Hingabefähigkeit des Chores
der Staatsoper bedurft, so wäre er mit der ebenso feinnervigen
wie elektrisierenden Interpretation der hochartifiziellen, ins Extrem
physischer Grenzbereiche vorstoßenden „còrogrammi“
erbracht. Johannes Harneit und das Staatsorchester Hannover tragen
engagiert ihren Anteil zu diesem faszinierenden und aufwühlenden
Abenteuer zeitgenössischen Musiktheaters bei; das exponierte
Material der Affektkerne wispert, keucht, schwirrt, entlädt
sich blitzartig in rasenden Bläserstafetten.
Christian Tepe
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