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Die Stimme neu denken und hören
Zum 75. Geburtstag des Komponisten Dieter Schnebel · Von
Reinhard Schulz
Ohne den Komponisten Dieter Schnebel, geboren am 14. März
1930, würde heute anders gesungen. Allein schon dies stellt
sein Werk an die Front heutigen Musikschaffens. In späten Jahren,
zwischen 1989 und 1997, machte er sich mit dem Opernfragment „Majakowskis
Tod“ und dem damit zusammengeschobenen Ballett-Oratorium „Totentanz“
an die Großform der Oper und genügte damit wohl einem
inneren Trieb, die musikalische Formenwelt wie ein Sammler in ihrer
Totalität abzudecken. Eine Messe (Dahlemer Messe), die „Sinfonie
X“, beide auch ab Mitte der 80er-Jahre geschrieben, sind ebenfalls
Arbeiten, die nicht nur die Gattung um ein weiteres Werk erweitern,
sondern eine Überschau über die Geschichte der jeweiligen
Form und über die weit verzweigten inhaltlichen Implikationen
liefern.
Die gesangstechnischen Neuerungen aber gehen bis in die 50er-Jahre
zurück. Schnebel ist Komponist und Theologe, die Worte der
Bibel waren ihm stets Quelle musikalischer Reflexion. Unter anderem
mit den Kompositionen „Für Stimmen (...missa est)“,
„dt 31,6“, „amn“ „:! (madrasha 2)“
oder auch „Glossolalie 61“ trat Schnebel schon in jungen
Jahren heraus aus dem Mainstream damaligen Komponierens. Er setzte
kühn und radikal auf die Inhaltlichkeit kommunikativer Strukturen
und trieb dabei die Gesangstechniken durch Einbeziehung konsonantischer
Geräuschstrukturen, collagenartiger Verdichtungen, Mehrsprachigkeit,
semantischer Schichtungen und anderem in neue Regionen. Die Zusammenarbeit
mit Clytus Gottwald und seiner „Schola Cantorum Stuttgart“
wurde dabei zu einem Glücksfall der Geschichte der musikalischen
Moderne. Mit einem Mal war das Moment der Öffnung wieder spürbar,
die musikalische Sprache berührte durch konzessionslose Suche
nach neuen Ausdrucksmitteln, die in ihrer Konkretheit und Klarheit
Stellung bezogen und nicht nur Kennern im inneren Kreis der Avantgarde
vorbehalten blieben.
Musik, die nachdenkt
Hier arbeitete Schnebel unerschütterlich weiter. Seine Musik
denkt vernehmlich nach, sie reibt sich an den tradierten Strukturen
ihrer Vermittlung, erhebt Einspruch und lenkt das Ohr hin auf Formen
der Wahrnehmung, die bislang in der Musik verstellt oder ausgeschlossen
waren. Die Erfahrung der Musik eines John Cage, der ohne Wertung
alles Hörbare dem musikalischen Prozess verfügbar machte,
mag ihm hierbei nachdrücklich geholfen haben. Gleichwohl adaptierte
Schnebel nicht dessen Haltung, sondern beharrte auf der Ebene der
Bedeutung, der Stellungnahme über die musikalische Aktion.
„Musik wieder zu sich selbst kommen zu lassen, sie sich als
eine Sprache, eine Mitteilung, eine Verständigungsbasis zwischen
je Einzelnen vorzustellen, damit der Kokon des Vorab-Entschiedenen
(bei ihr wie denen, die ihr folgen) Brüche erhält, löchrig,
porös, fasrig, eben überhaupt durchlässiger wird
– das ist eins der Motive von Schnebels kompositorischen Projekten.“
So hat Ulrich Dibelius diesen Ansatz beschrieben.
Noch ein Moment tritt hinzu: Systematik. Schnebel muss sich dabei
angesichts seines ganzen eigenen Werks, das die Totalität des
Klingens einzufangen sucht, vorkommen wie zum Beispiel Linné
angesichts des Tier- und Pflanzenreichs: Über Ober- und Untergruppen
bahnt sich der Weg bis zur einzelnen Art, hier bis zum einzelnen
Werk. So systematisiert Schnebel und kommt zu den Gattungen: Versuche,
Für Stimmen, Projekte, Abfälle (I und II), Modelle, Räume,
Radiophonien, Produktionsprozesse, Schulmusik, Re-Visionen, dann
Tradition mit den Untergruppen „Alte Musik“, Kammermusik,
Orchester, Kammertheater und drei weiteren (Nr. V bis VII), worunter
sich (unter VI) auch die „Sinfonie X“ findet. Es geht
weiter mit Psychologia, Experimentelles Musiktheater, Speromenti
und schließlich Pezzi Sacri. Das räumt auf – oder
tut es nur so, weil wir Menschen im Anblick der Unendlichkeit einfach
erst einmal ein paar Gruppen bilden, um uns zurechtzufinden? Das
machen wir auch manchmal, ohne den Dingen wirklich gerecht zu werden,
etwa wenn wir mit dem Blick zum Nachthimmel Sternbilder formieren,
deren einzelne Sterne kaum etwas miteinander zu tun haben. Das ist
ein ptolemäisches, ein auf die Anschauungsformen des Menschen
zentriertes Prinzip.
Der Gang der Schöpfung
So erfasste er in Bezug auf die Stimme und auf die Gestik des
Körpers im kompositorischen Werk mit geradezu lexikalischer
Genauigkeit die ganze Fülle der Möglichkeiten. Experimentelle
Arbeiten wie „Körper-Sprache“, „Laut-Gesten-Laute“,
„Zeichen-Sprache“ oder der Komplex der „Maulwerke“
decken die Bereiche aller körperlichen Artikulation ab und
formen daraus in sich geschlossene Stücke. Die Stellungen des
Mundes, der Lippen, des Kehlkopfes, die unterschiedlichen Ausprägungen
des Atmens wurden listenmäßig erfasst und in einem Prozess
angeordnet. Komponieren dieser Art schuf im Grunde die Basis für
weiteres kompositorisches Denken. Schnebel ging gewissermaßen
den Gang der Schöpfung nach, er eroberte sich die körperlichen
Lautorgane gleichsam ein zweites Mal, um neue Bezüge zwischen
ihnen herzustellen.
So wächst sein Gesamtwerk bis heute zu einem integralen Ganzen.
Die Stücke stehen als Individuen für sich selbst; zugleich
ist jedes ein Baustein, der sich zum Komplex der anderen fügt.
Freilich gibt es hierbei Ecksteine, tragende Fundamente und auch
verspielten Zierrat. Alles aber trägt den Odem des gesamten
Schöpfungsprozesses. Dessen beständiges Wachsen ist Indiz
für das Gedeihen. Den Begriff der Gottähnlichkeit des
künstlerisch Arbeitenden würde Schnebel freilich mit dem
ihm eigenen freundlichen Lächeln abtun. Und vielleicht würde
er entgegnen: „So weit sind wir noch lange nicht!“ Aber
die Tatsache, dass die Menschen durch Schnebels Werk heute anders
singen, anders hören, anders begreifen, gibt unmissverständlich
Kunde davon, dass ein Schritt in diese Richtung getan wurde.
Reinhard Schulz
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