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Blutig, grob und vordergründig
Johannes-Passion am Staatstheater Wiesbaden inszeniert ·
Von Andreas Hauff
In einem seiner Gespräche mit Hans Bunge verdeutlichte der
Komponist Hanns Eisler 1958, was sein Dichterfreund Bert Brecht
als „Musterbeispiel gestischer Musik“ empfand, indem
er ein Rezitativ des Evangelisten aus Bachs Johannes-Passion vorsang.
Eislers Kommentar dazu: „Der Tenor ist so hoch gesetzt, Ausdruck
ist unmöglich, also Schwulst, Gefühlsüberschwang.
Es wird referiert. Das heißt, es wird auch das Zeigen des
Vorlesers mitgemacht.“ Auch in der atheistischen, kommunistischen
DDR gehörten Bachs Passionen für Brecht und Eisler selbstverständlich
zum kulturellen Erbe, das es zu bewahren galt. 47 Jahre später,
15 Jahre nach dem Ende der DDR, sind sie zwar immer noch selbstverständliches
kirchenmusikalisches Repertoire, doch anders als die Weihnachtsgeschichte
hat das Geschehen des Karfreitags keinen selbstverständlichen
Platz mehr im kulturellen Gedächtnis unserer Gesellschaft.
So war es kein Wunder, dass Mel Gibsons plakativer, klischeehafter
„Jesus“-Film im Frühjahr 2004 die Gemüter
erregte, denn wo Christentum nicht mehr gelebte und reflektierte
Tradition ist, taugt es wieder zur Sensation.
Dietrich Hilsdorf hat nun am Wiesbadener Staatstheater die „Johannes-Passion“
auf die Bühne gebracht. Springt er auf den von Gibson gesetzten
Trend auf – oder hat er etwas Eigenes zu sagen? Und wie viel
Theater verträgt Bachs (durchaus dramatische) Johannes-Passion?
Hilsdorf strebt nach leidenschaftlichem, blutvollem Theater –
auch im wörtlichen Sinne: Am Ende tauchen die Darsteller ihre
Hände in Jesu Wunden und beschmieren sich gründlich mit
seinem Blut. Zwar reduziert Hilsdorf in seiner Deutung der Passionsgeschichte
Gibsons filmische Blutorgie auf ein staatstheater-kompatibles Maß,
doch reproduziert er letztlich dessen Grundlinien: Der nach außen
den Herrenmenschen gebende Pilatus ist eigentlich ganz nett, Judas
dagegen der absolute Schurke; als Einlage darf Judas-Darsteller
Christopher Lincoln ein aus verschiedenen Quellen zusammengesuchtes
dämonisches „Credo“ von sich geben, bei dem dann
auch das Licht im Zuschauerraum erlischt. Gelb erscheint als die
Farbe des Bösen und der Versuchung. Ob der Regisseur daran
gedacht hat, dass auch Judensterne gelb waren? Sämtliche Diskussionen
über Hintergründe und Tendenzen im Johannes-Evangelium
und in Bachs „Johannespassion“ müssen an Hilsdorf
vorübergegangen sein.
Eine ästhetische Brechung scheint der Regisseur anzustreben,
wenn er sich auf den Roman „Griechische Passion“ von
Nikos Kazantzakis beruft, der übrigens auch Bohuslav Martinus
gleichnamiger Oper zugrunde liegt. Er verlegt die Handlung, so die
Idee, in das während des 2. Weltkriegs von Deutschen besetzte
griechische Dorf Lias. Die Dorfbewohner spielen wie in Kazantzakis’
Roman die Passionsgeschichte nach; das Spiel eskaliert, und der
Darsteller des Jesus wird wirklich getötet. Sämtlichen
Mitwirkenden wird in der Besetzungsliste eine Einzelrolle zugeordnet.
Auf der Bühne ist das allerdings nicht zu spüren. Für
die Turba-Chöre strömt die Masse auf die Bühne, um
dann wieder unmotiviert davon zu schleichen, Auftritte und Abgänge
der Solisten wirken willkürlich – oft erlebt man wenig
mehr als Rampensingen mit viel Anlauf. Dafür gibt es dann immer
wieder Machtspiele und Rangeleien zwischen Judas, der in die prominente
Rolle des Evangelisten aufrückt, Jesus und Simon Petrus. Aber
warum hier jemand zum Sündenbock wird, wann und warum das Passionsspiel
in tödliche Aggression umkippt, bleibt unerfindlich.
Als Evangelist darf Judas natürlich nicht bloß berichten
– er muss den Rezitativen immer wieder einen ironischen, bissigen
Unterton unterlegen. Christopher Lincoln schafft das auch eindrucksvoll,
aber Bachs objektivierende Musik verträgt die Verbiegung nicht.
Ein kleiner „Chor der zwölf Gerechten“, auf eine
wenig klare Weise in die Handlung einbezogen, singt die reflektierenden
Choräle. Manchmal werden letztere auch aggressiv skandiert,
und manchmal lässt Hilsdorf die Masse in hämischem Tonfall
eine Zeile nachsingen. Insgesamt bemerkt man eine deutliche Tendenz
zur Vergröberung. Immer wieder wird die Musik durch aufgesetzte
Kunstpausen unterbrochen. Die Darsteller singen mit kräftiger
Opernstimme; das demonstrative Crescendo auf dem dreifachen Sopran-Echo
in der „Eilt“-Arie bleibt hier in besonders schlechter
Erinnerung. Einzig Sandra Firrincieli als Maria Magdalena beeindruckt
durch stärkere Nuancierung. Doch schon im Eingangschor erschlagen
gewaltige Streicherakzente die klagenden Bläser-Linien. Sébastien
Rouland am Pult des Hessischen Staatsorchesters Wiesbaden bemüht
sich einerseits mit Erfolg um transparenten, beweglichen Klang,
folgt andererseits aber auch immer wieder der Neigung des Regisseurs
zur großen Geste. In Chor und Extrachor geht dies nicht ohne
Ungenauigkeiten ab.
In Erinnerung bleiben vor allem einzelne Bilder auf der von Dieter
Richter als großer Innenhof gestalteten Bühne. Grobe
szenische Fehlgriffe stehen da neben eindrucksvollen Momenten. Zum
Erdbeben-Bericht dürfen tatsächlich zwei halb verrottete
Leichen aus einem Grab kriechen, um dann sogleich wieder den Rückzug
antreten zu müssen. Die untergründige Aggressivität
des Chores „Lasset uns den nicht zerteilen!“ wird dagegen
packend in tänzelnde Bewegung umgesetzt. Nach Judas` wenig
motiviert wirkendem Verschwinden übernimmt Petrus die Rolle
des Evangelisten. Als er die Schriftworte zitieren will, wonach
alles habe so kommen müssen, findet er die Bibelstelle erst
nach langem Blättern. Diese kleine ironische Brechung wirkt
nachhaltiger als aller falscher Opernzauber vorher und nachher.
Andreas Hauff
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