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Eine noch vor wenigen Jahren undenkbare Art verbaler
politischer Unkorrektheit beginnt laut zu werden. Die Klassengesellschaft
meldet sich zurück. Nur: Der vierte Stand heißt nicht
mehr Proletariat, sondern „Unterschicht“. Die Unterschicht
Anatoliens hätten wir uns ins Land geholt, heißt es in
einer Talkshow des Bayerischen Rundfunks. Die Unterschicht wird
immer größer, titelt DIE ZEIT. Die Kinder der Unterschicht
sind chancenlos, meint die Süddeutsche Zeitung. Die Stuttgarter
Zeitung umschreibt es so: „In einer reichen Gesellschaft wächst
die Zahl der Menschen, die nicht mehr mithalten können.“
Und das Wochenmagazin DER SPIEGEL nennt im Zusammenhang mit der
sechsten Staffel von „Big Brother“, für die sich
26.000 Menschen beworben haben, den Fernsehveranstalter RTL II ganz
unverblümt den Unterschichtensender.
Auf die von der oben genannten Wochenzeitung gestellte
Frage: „Wer sind die Menschen, die nicht mehr dazu
gehören?“ gibt es wohl nur eine Antwort: Es sind die
Ungebildeten.
Es steht zu vermuten, dass die von den Propagandisten
vorkultureller Ursuppen seit drei Jahrzehnten verspotteten, ja verteufelten
Kulturpessimisten, mit tödlicher Wirkung als „Bildungsbürger“
verunglimpften Menschen, die da eine soziale Katastrophe als Folge
des deutschen Bildungsnotstandes vorhersagten, eine späte,
vielleicht zu späte Rechtfertigung erfahren.
Unbildung ist nicht dem Ungebildeten als persönliche
Schuld zurechenbar, sondern dem, der ihm die Chancen der
Bildung verweigert. Nachdem die Verschuldung der öffentlichen
Hand mit 1,5 Billionen Euro (ohne die Nebenhaushalte) sie handlungsunfähig
zu machen droht, so dass die bisherige Politik, Armut durch transferiertes
Geld zu lindern, nicht mehr funktioniert, gewinnt der böse
Spruch, die Dummen seien auch immer arm, seine volle Wahrheit. Die
Umverteilung von unten nach oben, durch die aus der Staatsverschuldung
resultierenden Zinsflüsse kräftig gefördert, wird
im neuesten „Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung“
überdeutlich. Das oberste Zehntel der Bevölkerung, die
Reichen also, besitzt im Jahr 2003 mit 624.100 Euro pro Kopf 47
Prozent des gesamten Volksvermögens (ohne Berücksichtigung
der Betriebsvermögen). Um 31 Prozent hat ihr Vermögen
in den vergangenen zehn Jahren zugenommen. Das unterste Zehntel,
die Armen also, „besitzt“ 7.900 Euro Schulden, sein
Vermögen hat im selben Zeitraum um 276 Prozent abgenommen.
Die ärmere Hälfte der Bevölkerung, also die unteren
fünf Zehntel, nennt gerade mal vier Prozent des Volksvermögens
ihr eigen.
Die öffentlichen Hände haben kein Geld mehr,
Bildung und Kultur hinlänglich zu finanzieren, die Armen erst
recht nicht. Wie ein schlechter Hintertreppenwitz mutet da das Geheul
um die Einführung von Studiengebühren mit sozialer Komponente
an, wenn gleichzeitig Vorschul-Kindergärten so gut wie gar
nicht vorhanden, normale Kindergärten aber gebührenpflichtig
sind. „Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr“,
lautet da der einschlägige, der Bildungspolitik offenbar unbekannte
Spruch. Bildungsdefizite im Elternhaus, in der Vorschule, in den
ersten Schuljahren sind bekanntlich nicht mehr tilgbare Hypotheken.
Ausbildungsunfähige Jugendliche sind das Ergebnis.
So lange die Bildungspolitik keine Kehrtwendung macht,
so lange sie weiterhin die Etats für Bildung, zu denen untrennbar
die Etats für musische und kulturelle Bildung gehören,
als kostenträchtige soziale Leistungen und nicht als Investitionen
betrachtet, wird die Umverteilung sich fortsetzen, wird die Unterschicht
der Armen und damit Dummen wachsen. Die als Begründung für
mangelnde Investitionsbereitschaft in Bildung und Kultur genannte
öffentliche Armut ist ebenso wenig anonymes Schicksal, das
unversehens über den Staat hereinbricht, wie ungebändigter
Kapitalismus, Globalisierung oder Lohn-Dumping durch die Ost-Erweiterung
der EU dies sind.
Es ist einiges faul im Staate Bundesrepublik. Mit
ruhiger Hand zuzuwarten, bis die Unterschicht aus gutem Grund zu
revoltieren beginnt und wahrscheinlich auf die falschen Barrikaden
steigt, ist sicherlich nicht der richtige Weg.
Stefan Meuschel
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