|
Faszinierende Tanzsprache
„Limb’s Theorem“ von William Forsythe in München
· Von Malve Gradinger
Zwanzig Jahre lang hat William Forsythe, der bedeutendste Erneuerer
der Neoklassik, das Ballett Frankfurt geleitet. Wegen drastischer
Einsparungszwänge wurde dieses weltweit berühmte Ensemble
letzte Saison aufgelöst. Wenn Ivan Liska nun Forsythes „Limb’s
Theorem“ (1990) einkaufte, hat er wahrscheinlich dieses Ballett
vor dem Verschwinden bewahrt. Denn die neu formierte, aber verkleinerte
„The Forsythe Company“ wird dieses abendfüllende
Stück sicher nicht wieder aufnehmen. Im Münchner Nationaltheater
erntete der Abend euphorischen Applaus, allerdings von dem eher
jungen Publikum. Für den normalen hiesigen Opern-Gänger
ist dieser „Lehrsatz von den Gliedern“, so in etwa die
Übersetzung, doch noch ziemlich harte Kost – in seiner
optischen Strenge, seiner bewusst „verweigernden“, also
meist sehr dunklen Bühne, seiner Handlungslosigkeit und obendrein
abendfüllenden Kompaktheit.
Vorweg: Von den jungen Staatsballett-Tänzern war es eine phänomenale
Leistung, Forsythes komplizierte Sprache so schnell bühnenreif
zu präsentieren. Letzten Juli wurden sie in Workshops von vier
Ballettmeistern, ehemaligen Forsythe-Tänzern, vorbereitet,
die auch die Einstudierung besorgten. Und die abschließende
Intensiv-Woche des Meisters hat nochmal verstärkt inspiriert.
Ausgehend von einem hochsensibilisierten Körperbewusstsein
– einer „Körperinnenwahrnehmung“ in jeder
Sekunde des Tanzens – soll der Tänzer eine vorgegebene
Bewegung selbstverantwortlich ausführen, so wie es seinem Körperbau,
seiner Tagesenergie, seinem Gefühl entspricht. Eine unverhoffte
Kurve aus einer Drehung heraus, ein aus der Balance-Kippen ist nicht
nur erlaubt, sondern erwünscht.
Nicht von ungefähr haben Forsythe damals Architektur-Skizzen
von Daniel Libeskind inspiriert: schräge Linien, überraschende
Perspektiven – wie der Architekt sie dann im Jüdischen
Museum Berlin verwirklicht hat. Gerade durch eine gewisse „Nicht-Festlegung“,
eben durch „ad hoc-Möglichkeiten“ im Fluss der
Bewegung, ergeben sich schon bei der Erarbeitung einer Choreografie
und dann nochmals in jeder folgenden Vorstellung jeweils individuelle
neue Bewegungsnuancen. Ein Forsythe-Stück befindet sich also
in einem ständigen Prozess der Veränderung.
Als sein „Ballett Frankfurt“ 1994 mit „Limb’s“
in der Münchner Ballettwoche gastierte, war man gebannt: Keine
dekorative „Erzähl-Kulisse“ mehr. Die Bühne
mit photographischem Hell-Dunkel-Lichtdesign (beides: Michael Simon/Forsythe)
völlig neuartig inszeniert. Integriert in das tänzerische
Geschehen jeweils riesige, von den Tänzern per Hand gewendete
und gedrehte Objekte: eine wie ein Lichtsegel schräg über
der Tanzfläche schwebende weiße Fläche (Teil I).
Ein gewellter Holz-Paravent, von umhergefahrenem großem Scheinwerfer
immer anders plastisch modelliert (Teil II). Ein sich sanft drehendes
Modell-Viertel einer Dom-Kuppel oder auch eine Satellitenschüssel
(Teil III). Und dann diese sonderbar hohle Klang- und heisere Echo-Räume
schaffende elektronische Musik von Hauskomponist Thom Willems, diese
nachtschattige Atmosphäre, in der die Tänzer einzeln,
in Pas de deux und in kleinen Gruppen geheimnisvoll werkende oder
rasend getriebene Wesen einer „Utopia Station“ sind.
Und schließlich diese Tanzsprache, neoklassisch noch in den
überpointiert kantig-geradlinig gesetzten Armen und Arabesquen,
in den Pirouetten, aber auch schon postmodern herausgewunden tief
aus der Mitte von Delphin-ähnlich wegtauchenden Körpern,
herausgewrungen, -geschleudert, angepeitscht von Willems’
metallischen Rhythmen – das alles war faszinierend neu, in
seiner kühlen Virtuosität berauschend. Ballett konnte
also auch ganz anders sein, kam ohne Spitzenschuh und Tüllröckchen
aus, spiegelte in der zersplitterten Vielzahl von Aktionen, in seinem
Tempo, seiner explodierenden Energie den gesellschaftlichen Wandel
hin zu einer hochtechnisierten komplexer gewordenen Existenz.
All das ist natürlich auch jetzt vorhanden. Aber Forsythes
Einfluss auf die nachgewachse-ne Choreografen-Generation war so
überwältigend stark, dass – Schicksal eines jeden
Avantgardisten – all seine Neuerungen im Laufe von 15 Jahren
choreografische Normalität geworden sind. Mag „Limb’s“
für das eher konservative München im Augenblick eine Attraktion
sein (die Vorstellungen sollen immer ausverkauft gewesen sein),
für den Berufszuschauer hat „Limb’s“ jedenfalls
eine leichte Patina. Ohne Frage hat das Staatsensemble pädagogisch-künstlerisch
profitiert, hat sogar von Forsythe selbst Lob geerntet – was
hoffen lässt, dass er in naher Zukunft auch mal etwas in München
kreiert.
Malve Gradinger
|