|
Grundlegende Irrtümer
„Moses und Aron“ in Hamburg · Von Frieder
Reininghaus
Moses und Aron führt in die Regionen der grundsätzlichen
Verheißung. Diese erschien denen, welchen sie widerfuhr, zunächst
ganz unglaublich und unerfüllbar. Auch besaß, was dann
„das Gesetz“ genannt wurde, noch keine festen Konturen.
Erst im Laufe von Jahrhunderten stellten sie sich ein. Mitte der
20er-Jahre war Arnold Schönberg von Wien nach Berlin gezogen
und hatte die Meisterklasse für Komposition an der Preußischen
Akademie der Künste übernommen. Angesichts der zunehmenden
Bedrohung der Juden und ihrer Kultur entschied er sich für
die Rückkehr zur Religion seiner Väter und die Arbeit
am zentralen Stoff der Thora beziehungsweise des Alten Testaments:
Thema des von ihm selbst angefertigten Librettos ist das große
Warten in der Wüste Sinai, das Ringen um den rechten religiösen
Weg, die inneren und äußeren Bedrohungen eines (noch)
nicht gefestigten Glaubens.
Die groß angelegte, wesentlich auf den Chor gestützte
Oper blieb unvollendet. Erst vor 50 Jahren wurde sie (und zunächst
nur konzertant) in Hamburg gewagt. Am Ende des 20. Jahrhunderts
avancierte sie dann freilich durch vielfältige Anstrengungen
– vornan die Produktionen von Herbert Wernicke in Frankfurt
und Paris, George Tabori in Leipzig sowie weitere in Berlin, Bremen,
Nürnberg, Amsterdam und Salzburg – zu einem musikdramatischen
Schlüsselwerk.
Ein Torso blieb das opus summum allerdings nicht nur, weil Schönberg
1933 aus Deutschland fliehen musste, sondern wohl auch, weil das
Werk selbst an eine Grenze rührte: Es hat das Unsichtbare und
Unvorstellbare zum Thema, die Entstehung der monotheistischen Religion
und die ungeheuren Ansprüche eines einzigen, ewigen, allgegenwärtigen,
unsichtbaren und allmächtigen Gottes. Es fordert von zwei Chören
und vom Orchester ein Äußerstes. Ingo Metzmacher holt
aus den Seinen mit starken Armen nüchternen Expressionismus
heraus. Er steuert das Orchester hoch aus und differenziert die
bestens präparierten Chor-Massen mit großem Geschick.
Er verschafft den Kollektiven einen ebenso gewaltigen (und ggf.
gewaltförmigen) wie einen von höherer Macht gebeugten,
niedergeschlagenen Ausdruck.
Dass Johannes Leiacker in Hamburg zunächst und zu den Umbaupausen
einen Blick ins sternendurchflutete All eröffnet, bekundet
Respekt vor der Tiefendimension des Werkes. Der brennende, jedoch
nicht verbrennende Dornbusch, aus dem der „Ägypter“
Moses die göttliche Weisung empfängt, wurde vom Komponisten
Arnold Schönberg durch die Aufteilung der Sänger in einen
(unsichtbar bleibenden) Sprechchor und sechs Solisten in Szene gesetzt.
Regisseur Peter Konwitschny zeigt die Polyphonie als heiteres Schafs-Sextett
– auf allen Vieren die Solisten, in Flokati eingenäht,
mit übergestülpten Schafsnasen. Das war der erste Irrtum:
Der Mann M. war wahrlich kein Pastoral-Theologe.
Konwitschny lässt den hünenhaften Frode Olsen (Filzhut,
grober Fellmantel, Stab) in die Wohnküche von Bruder A. platzen,
wo er Schönbergs Sprechgesang sehr kantabel gestaltet. Mit
Filterkaffee und Kuchenblech empfängt ihn der lyrisch-nobel
intonierende Reiner Goldberg, der einen skrupulösen Intellektuellen
darstellt, kein glänzendes Medientalent. Auf dem öden
Tisch steht die bei Inszenierungen dieses Typs längst obligatorische
preiswerte H-Milch-Packung. Zweiter grundlegender Irrtum: M &
A gehörten zu einer feudalen Upperclass und nicht zur Mieterschaft
im Plattenbau. Aber das Bild ist nicht ohne Anzüglichkeit:
„In der Wüste wird euch die Reinheit des Denkens ernähren“.
Es folgt ein eher heiteres Missverständnis: „Reinige
dein Denken“, steht auf einer seitwärtigen Tür.
Der Regisseur zeigt dazu ein Kollektiv der Ordnung und Sauberkeit
aus der Endzeit des sozial existierenden Realismus. Eine Putzkolonne
in einer Kantine mit fettverschmierten Jalousien. Dann Moses als
Autor: Am Schreibtisch mit alter Reiseschreibmaschine zwischen Bergen
zerknüllten Papiers. Er kommt nicht zu Potte. Die aufgebrachte
Menge will Aron daher lynchen (ein Brecht-Galgen ist zur Hand).
Den goldenen Ochsen, den der ratlose Animateur notgedrungen bewilligt,
zeigt Konwitschnys Übertragungskunst als flachen Trog. Schönbergs
Licht- und Feuer-Metaphorik wird wörtlich genommen: Hyperaktive
Choristen sammeln Geld und werfen es in die Wanne, wo es brennt,
ohne zu verbrennen. Das Bacchanal dazu erfolgt als Körperertüchtigung,
wie sie Wehrsportgruppen exerzieren. Die „Stammesältesten“
verstecken sich hinter Masken von Müntefering und Eichel, Merkel
und Merz, Schily und Schröder, wenn sie singen: „Götter,
seht uns vor euch auf Knien, die höhere Macht der höchsten
unterworfen.“ Konwitschny lässt sie von scharrenden Theatervierbeinern
hereintragen: Hoffärtig hoch zu Ross schmücken sich die
Polit-Marionetten mit den Fahnen von Bund und sechzehn Ländern;
sie denken nicht daran, ihre Knie zu beugen.
Das alles erscheint, in fast kindisch-trotziger Weise, diametral
entgegengesetzt zum Wortlaut Schönbergs. Es artikuliert Unbehagen
eines Besserverdienenden, der die herrschende Geldwirtschaft nicht
mag. Künstlerisch eine doppelte Null-Lösung: Ventil für
kollektiven Lebensgroll und rechte Ressentiment-Mühle. Konwitschny
führt das „Auserwähltsein“ als bloße
Behauptung der Brüder M & A vor, zeigt sich an deren Kommunikationsformen,
Sprechstörungen und Denkhemmungen interessiert. Seine Inszenierung
verrät eine signifikante Geringschätzung der Religionsfragen.
Ob die systematische Verspießbürgerlichung der großen
Denker einem latent antisemitischen Potential entspringt oder gedankenloser
Routine eines gedankenlos gewordenen Regie-Theaters, wird sich oberflächlich
kaum klären lassen. Aber weder das eine noch das andere erweist
sich als hinderlich für breiten Zuspruch.
Frieder Reininghaus
|