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Meerfahrt ins Seeleninnere

„Billy Budd“ an der Münchner Oper · Von Gerhard Rohde

An der Bayerischen Staatsoper neigt sich die Ära Peter Jonas ihrem Ende zu. Da wuchs wohl in Sir Peter der Herzenswunsch, dem Münchner Publikum noch einmal richtig britisch zu kommen: mit der lokalen Erstaufführung von Benjamin Brittens Oper „Billy Budd“ von 1951 – das liegt mehr als ein halbes Jahrhundert zurück, die Wiesbadener Oper schaffte die deutsche Erstaufführung immerhin schon 1952. Aber angeblich wird ja, was lange währt, besonders gut.

 
 

Nathan Gunn (Billy), John Tomlinson (John Claggart), John Daszak (Vere). Foto: Rabanus

 

Peter Jonas sprang für seine Britten-Hommage aber auch gewissermaßen über seinen britischen Schatten: Kein englisches Inszenierungsteam, sondern mit Peter Mussbach und Erich Wonder ging ein gestandenes deutschsprachiges Szeniker-Duo ans Werk. Und mit der Entscheidung für den Dirigenten Kent Nagano begann zugleich die nächste Ära an der Münchner Oper, für die der amerikanische Dirigent japanischer Herkunft zum Generalmusikdirektor des traditionsreichen Hauses avancieren wird.

Im Gegensatz zu Brittens erster „See“-Oper „Peter Grimes“ erscheint seine zweite „Meer“-Veroperung „Billy Budd“ seltener auf den Spielplänen deutschsprachiger Bühnen, aber im letzten Jahrzehnt doch wiederum nicht so selten (Hannover, Köln, Wien), dass man bei der jetzigen Münchner Premiere von einer „Entdeckung“ sprechen könnte. Eine Entdeckung bedeutete Brittens Oper auf jeden Fall für Peter Mussbach und Erich Wonder: Beide haben noch nie eine Britten-Oper inszeniert. Also, ans Werk: Natürlich baut ein Erich Wonder nicht das hölzerne Kriegsschiff namens „Indomitable“ (deutsch: unbezähmbar, nicht unterzukriegen) von 1797, auf dem die Handlung spielt, akribisch nach. Der Zufall wollte es, dass der Bühnenbildner, wie er mitteilte, einige Zeit vorher einen Film über einen amerikanischen Flugzeugträger, vor allem über dessen Innenleben, sah. Wonders Billy-Budd-Bühnenbild siedelt die Geschichte in einer Collage aus kreuz und quer, nach oben und unten verspannten Fallreeps, Leitern, einem nach oben weisenden Mast und einem zentralen „Abgrund“ an, der in die „Unterwelt“ der Maschinen und Mannschaftsräume führt. Zwei Andeutungen von den Seitenwänden eines Schiffsrumpfs halten das Ganze zusammen, oben blinken von fern Bullaugen, eine geschlossene Decke verstärkt den Eindruck, dass man sich in einem nach außen abgeschotteten inneren Raum befindet: ein Ort, dessen Schiffsassoziationen nicht darüber hinwegtäuschen können, dass die handelnden Personen sich in einem ganz anderen Innenraum befinden, nämlich in dem ihrer seelischen Erlebnisse, Erfahrungen, Leiden, Bedrängnisse.

Wonder und Mussbach lieben solche Ausfahrten ins Seeleninnere. Für ein ganz anderes Werk, die „Arabella“ von Richard Strauss, haben sie am Pariser Chatelet-Theater einen ähnlich geschlossenen Raum für eine Fin-de-siècle-Gesellschaft geschaffen. An Bord eines Kriegsschiffes auf hoher See verstärkt sich die klaustrophobische Situation nochmals, bis ins Unermessliche. Für Mussbach weitet sich das „Seestück“ zu einer Psychoparabel über menschliche Verhaltensweisen in extremen Situationen: Die „Indomitable“ wird zum Seelenlabor. Die Doktoren Mussbach und Freud untersuchen die Phänomene Macht, Liebe, Schönheit, Hass und deren unheimliche Verquickungen bis hin zur existenziellen Zerstörung. Die Offiziere und Matrosen, die sich hier versammeln, agieren nicht so sehr wie eine gedrillte Truppe, wirken in ihren langen, blaudunklen Mänteln und Mützen oft unwirklich, traumatisch durcheinandertaumelnd, erstarren bei den Erinnerungsmonologen des Kapitän Vere zu einem irrealen, bewegungslosen Bild hinter einem Portalschleier. Die Rückblenden-Dramaturgie des Werkes kommt Mussbachs beobachtender Arbeitsweise ausgezeichnet entgegen. Der Chor der Bayerischen Staatsoper, wie gewohnt von Andrés Máspero präzis einstudiert, beeindruckt einmal mehr durch seine vokale Energie, durch Farbigkeit des Stimmklangs und dramatischen Elan, letzteres zugleich im agilen Ringelreihen-Spiel zu Shanties wie im traumatischen Zeitlupenschleichen.

Andererseits entgeht eine Inszenierung nicht der Pflicht, irgendwie auch die Handlung vorzuführen: wie der parzival-tumbe, schöne Knabe William Budd, umstellt von Neidern und erotischen Anfechtungen, behindert durch sein Stottern und seinen Glauben an das Gute, in die Fallen des Bösen läuft. Nathan Gunn spielt und singt überzeugend. Dieses Böse erscheint abstrakt als unerbittliches Kriegsrecht, das den Kapitän zwingt, Budd zum Tode zu verurteilen, dann aber auch personifiziert in Gestalt des Schiffsprofos Claggart, der seine keimende Liebe zu Billy Budd postwendend in Jago-Hass umwandelt. John Tomlinson zögert nicht lange, diese Jago-Parallele voll auszusingen, wodurch das Geschehen zugleich etwas eigenartig Ranziges erhält, wie überhaupt auch durch die ambitionierte Inszenierung hindurch sich immer wieder ein seltsam retrospektiver Aspekt einstellt. Die psychologische Tiefenschärfe des „Peter Grimes“ erreicht „Billy Budd“ nur selten, am ehesten noch in der Figur des Kapitän Vere. John Daszak differenziert vokal und mimisch sehr sorgfältig, kann aber den Schematismus der Figur auch nicht immer überspielen. Insofern war die Entscheidung, in München die vieraktige Urfassung zu benutzen, die der Kapitänsfigur mehr Anteile gewährt, eher kontraproduktiv.

Der Rückgriff auf Urfassungen entwickelt sich häufig auch zum reinen Fetischismus, der höhere Authentizität vorgaukeln möchte. An symphonischer Stringenz ist die Zweitfassung von „Billy Budd“ von 1961 der ersten doch wohl klar überlegen. Kent Nagano gleicht das mit dem Bayerischen Staatsorchester durch straffes, zielgerichtetes Musizieren zum Teil aus. Dabei verliert die Musik einiges von ihren koloristischen Reizen und von ihrer frischen Unbekümmertheit, mit der Britten hier die Ausdrucksmittel Ariosi, puccineske Lyrismen, Reizharmonik, Shanties oder Chorkontrapunktik nebeneinandersetzt. Billys Todesmonolog aber ist in seiner gedehnten Melodramatik trotz Mussbach und Nagano unverändert auch heute nur schwer zu ertragen. Da wurde der Komponist von seiner eigenen Rührseligkeit überwältigt.

Gerhard Rohde

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