Bilder aus der Todeszelle
Inszenierungen der Pocket Opera Nürnberg · Von Roland
Dippel
Assoziationen an ein Gefängnis-Atrium weckt der steril-saubere
Zentralraum in der Galerie „Lindig in Paludetto“ am
Milchhof. Zwei Musiktheater-Produktionen waren dort die Klammer
der politisch und ästhetisch gedachten Reihe „Live From
Death Row“, einer Veranstaltungsreihe zur Todesstrafe. Ein
weiteres Mal hatte die Pocket Opera Company in Nürnberg eine
konzeptkompatible Spielstätte gefunden. Die zwei vorgestellten
zeitgenössischen Stücke hätten unterschiedlicher
nicht sein können. Die Werke repräsentierten quasi die
Pole, zwischen denen heute Musiktheater abseits der Subventionstheater
entsteht: Phil Glass wagte sich mit seiner profilierten Klangsprache
an Kafkas schichtenreichen Text „In der Strafkolonie“.
Andrea Molino – Hauskomponist der Pocket Opera Company –
präsentierte mit „Those Who Speak in A Faint Voice“
ein vielsätziges Theaterkonzert mit dem avantgardistischen
Wort-Virtuosen David Moss.
Episch werden beide Werke durch ihre spezifische musikalische Form:
Molinos Einzelsätze wiederholen mehrfach den formalen Verlauf
vom verhaltenen Beginn zu eruptiven Klangballungen. Das Phoenix
Ensemble für zeitgenössische Musik aus Basel hatte sie
mit zirka 20 Musikern und Live-Elektronik bereits in Basel konzertant
uraufgeführt. Szenische Anreicherung erfuhr das Stück
durch den mit zehn roten Overalls agierenden Schauspieler Stefan
Lorch. Er skandierte für die Nürnberger Produktion aufgenommene
Passanten-Statements zur Todesstrafe. Dazu – in Reflexen der
Glastüren vervielfacht – wurden Video-Porträts des
umstrittenen Benetton-Designers Oliviero Toscani auf die Gaze zwischen
den Zuschauerblöcken projiziert: Toscani hatte in Amerika zum
Tode verurteilte Gefangene interviewt. Deren im Stücktitel
genannten „verhaltene Stimmen“ sind integraler Teil
des Werkes neben einer Überfülle von Fakten und Sentenzen.
Molinos Partitur – undramatisch affektreich – konnte
diese nicht binden, optisches und musikalisches Geschehen liefen
parallel nebeneinander her. Die 100-minütige Hyperästhetisierung
dieser Dokumentation zur Todesstrafe erschütterte die Betrachter
ebenso wenig wie andere Bilder unserer schönen, neuen Medienwelt.
Viel spannender gelang POC-Leiter und Regisseur Peter Beat Wyrsch
die „Strafkolonie“ mit eingangs kühler Büro-Optik,
dann in beeindruckender szenischer Verdichtung von Kafkas Text.
In dieser Produktion existiert kein unbeschriebenes Blatt: Anfangs
sitzen sich Offizier (Thomas Schubert) und Besucher (Hans Kittelmann)
Zeitung lesend gegenüber. Nicola Carofiglio – als wendiger,
stummer Verurteilter – bekritzelt sich Haut und Hand, bevor
der Offizier mit gezielten Messerschnitten seine Kleidung zerschlitzt.
Im Off steht der Vernichtungsapparat, der den Delinquenten die Worte
des eigenen Vergehens binnen zwölf qualvoller Todesstunden
in die Haut reißt: Firmenmitarbeiter vergessen im Dienst am
geschäftlichen Auftrag grundsätzliche humane Verantwortlichkeiten.
Vermittler zwischen den Dialogen in der amerikanischen Originalsprache
und dem Publikum ist auch hier ein Schauspieler: Der Soldat (René
Döring) rezitiert in absichtlich leiernder Monotonie auf deutsch,
lässt sich hinreißen zu Brutalitäten am Verurteilten.
Wyrsch fand eine überzeugend klare Personenführung für
Kafkas vieldeutige Erzählung. Bis zum selbst gewählten
Tod des Offiziers in der Todesmaschine zeigt sich in klaren Schritten
die Entwicklung von Arbeitseifer zu instinkthafter, lange unterdrückter
Brutalität. Ventil für diese ist der Verurteilte als verdinglichtes
Menschenmaterial. Glass wählte für Kafkas Extremsituation
neben seinen bekannt flächigen Akkordbrechungen unter den Vokalparts
keine neuen Mittel. Dass Glass in der zentralen Diskussion zwischen
Offizier und Besucher keine bewegte Dynamik anbietet, konnte er
für die Inszenierung motivieren: Entscheidungen über Leben
oder Tod fallen sachlich. Nur langsam lädt sich die Diskussion
des Besuchers mit dem Offizier auf. Glass’ gleichförmige
Tempi zwingen die Darsteller, Emotion zu zügeln. Dieser Verzicht
auf starke musikalische Akzente steigert die Spannung und intensiviert
dadurch indirekt das Spiel der Interpreten.
Molinos Partitur entbehrt derartiger Angebote an die Szene. Nicht
immer ist – wie hier im Vergleich zu beobachten – das
Ganze mehr als die Summe mehrerer Musiktheater-Parameter.
Roland
Dippel
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