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Das ausgesessene Nichts
Kulturelle Schieflage in München · Von Reinhard Schulz
Selbst wenn es nicht so sein sollte, wäre es doch gut erfunden:
In der Wüste ist die Zahl der ertrinkenden Menschen größer
als die der verdurstenden. Das will sagen, dass unerwartete Katastrophen
weit verheerender wirken als solche, die eingerechnet werden. Katastrophal
ist er wirklich, der Haushalt der Stadt München. Keines der
großen Unternehmen, die in der Stadt siedeln, zahlt auch nur
einen Euro an Gewerbesteuern. Schlimmer noch: Es gibt stattliche
Steuerrückforderungen. Als auch die HypoVereinsbank schließlich
auf diesen Zug aufsprang (sie machte das durchaus legal im Rahmen
der Steuergesetze) wurde der GAU verkündet. Am 24. Juli 2002
wurde eine Haushaltssperre erklärt. Andere Städte unseres
Landes können darüber nur müde lächeln, müssen
sie doch Jahr für Jahr mit Restriktionen dieser Art leben –
zum Teil mit kreativen bis waghalsigen Auffangnetzen steuern sie
sich dann durch diese finanziellen Untiefen. Im reichen München,
das Prasserei und Denkfaulheit gleichermaßen Raum bot, gab
es bislang kaum die Notwendigkeit für solche Gratwanderungen.
Und sogleich droht dem unsicheren Fuß der Absturz.
Ein finanzielles und geistiges Defizit
Das wäre noch nicht so schlimm, wenn ein besonnener, scharf
denkender Kopf die Schritte leiten könnte. Aber zum finanziellen
Defizit tritt ein geistiges. Würde man behutsam und zugleich
klar mit der Situation umgehen, dann wäre wohl vieles zu regeln:
vielleicht schmerzhaft, aber nicht existenzbedrohend. Aber wo schwarze
Zahlen regierten, kann man nach ihrem Abdanken nur noch in Rotstiften
denken. Und das ist das Fatale. Ein Körper, der plötzlich
mit weniger Nahrung auskommen muss, greift Fettsubstanzen an und
reduziert die Zufuhr an die Organe. Nie würde er die Leber
oder die Lunge „zum Wohle der anderen“ opfern. Und auf
den Gedanken, aus Restsubstanzen einen zweiten Blinddarm zu installieren,
käme er schon gleich nicht. In München aber scheint das
so zu sein. Das jetzige finanzielle Chaos (ist es wirklich so schlimm,
oder lässt sich vielleicht mit kühlerer Draufsicht auf
finanzielle Entwicklungen ein panikbereinigtes Bild zeichnen?) entwickelt
eine eigene Dynamik bis hin zum Selbstzerstörerischen.
Blinde Hühner sind jedenfalls schlecht geeignet, ihren Hof
zu retten. Sie rennen ihre Köpfe an den Problemen wund ohne
Aussicht auf Ordnung und Sichtung: die städtischen Bühnen,
das renovierungsbedürftige und darob zum Abschuss freigegebene
Deutsche Theater, die Levine-Nachfolge bei den Philharmonikern (der
Wunschkandidat des Orchesters Thielemann erklärte bereits:
ich bin kein Sparhaushalt-Dirigent), das schon aufgegebene Richard-Strauss-Konservatorium,
die städtischen Bibliotheken, die Schließung des Kulturzentrums
Einstein, die Museumslandschaft, die freien Kunstszenen, das Literaturhaus
und, und, und...
Zum Amt der Streichreferentin verdonnert
Seit einem Jahr ist Prof. Dr. Dr. Lydia Hartl Kulturreferentin
der Stadt München. Zugute wäre ihr zu halten, dass sie
von ihrem Amtsantritt weg in ein Loch fiel. Das ist nicht schön,
wenn man von großen Projekten träumt und mit ständig
kleiner zu backenden Brötchen konfrontiert wird. Sie wurde
zum Amt der Streichreferentin verdonnert. Damit wurde sie zur Lieblings-Referentin
des Münchner OB Christian Ude, der freilich schon bald der
letzte ist, der ihre Fahnen noch hoch hält. Denn die sprachliche
Ungeschicklichkeits-Meisterleistung von Helmut Kohl „Wichtig
ist, was hinten rauskommt“ begann mehr und mehr auch auf Lydia
Hartl abzufärben. Von ihr wurde ein Verfahren gepflegt, das
ein Vorfahr von Helmut Kohl, nämlich Konrad Adenauer, zur Perfektion
entwickelte: das Aussitzen. Nur mit dem kleinen Unterschied, dass
Adenauer Inhalte aussaß, die seinen Vorstellungen entsprachen.
Hartl aber sitzt das Nichts aus. Ihre Verzögerungs-Verhandlungen
mit Thielemann wurden zur Farce, noch schwerwiegender aber war wohl
ihre Inaktivität im Vorfeld dieser Verhandlungen, als sich
die Philharmoniker noch keineswegs auf Thielemann eingeschworen
hatten. Es ist wohl kein Geheimnis, dass Hartl Thielemann oder dessen
Kunstauffassung nicht sonderlich mag. Hier aber war eines der ausgesessenen
Nichts. Keine Alternative wurde in die Debatte gebracht, nicht einmal
eine Lenkung der Sicht auf andere ästhetische Möglichkeiten.
Schließlich nahmen die Philharmoniker das längst aus
den Händen gegebene Ruder selbst in die Hand. Und sie mögen
noch davon profitiert haben, dass Mariss Jansons, der avisierte
Nachfolger von Lorin Maazel beim Sinfonieorchester des BR, plötzlich
mit dem Amsterdamer Concertgebouw liebäugelte, dem Thielemann
auch schon Zuneigung bekundet hatte. Hartl war in diesen Schlachten
nicht einmal ein Pingpong-Ball. Es ist ein trauriges Zeugnis, dass
München unter den Top-Stars nur als zweite Wahl gehandelt wird.
Aber mit kreativer Energie könnte ein solches Urteil (siehe
Toulouse, siehe Birmingham, siehe Cincinnati, siehe vielleicht auch
Freiburg) ins Gegenteil verkehrt werden. Aber das ausgesessene Nichts
birgt keine kreative Energie.
Streichlistenvorschläge durch die Presse
Es mag mitunter so wirken, als habe Lydia Hartl in der Journalistin
Sabine Dulz beim konservativen Münchner Merkur so etwas wie
eine vorgeschobene medienpolitische Sprecherin gefunden. Die erlaubte
sich nämlich gleich nach der ausgerufenen Haushaltssperre,
in einem Kommentar eine Streichliste konkret zu benennen. Verzichtbar
in München sind ihrer Meinung nach unter anderem die „Puderzucker“-Aktivitäten
wie die Musiktheater-Biennale, das Spiel.Art-Festival und die Internationale
Dance-Biennale. Das Kinder- und Jugendtheater „Schauburg“
fällt ebenso unter das Verdikt wie das Münchner Filmfest.
Als erstes hätte man auf so einen Artikel einen vehementen
Einspruch aufseiten von Lydia Hartl erwartet. Die Entgegnung aber
unterblieb. Der Verdacht entsteht, dass Lydia Hartl zumindest einige
Gelder aus dieser Liste wirklich massiv zurückzufahren versucht.
Das aber sind gerade die Aktivitäten, die München aus
der deutschen wie auch internationalen Landschaft hervorheben, die
die Stadt weit über die kulturellen Zirkel hinaus attraktiv
machen. Es darf nicht Anliegen der Kulturreferentin (und auch nicht
der Stadt) sein, München zur Provinz herunterzufahren.
Auch dann nicht, wenn aus solchermaßen eingefahrenen Mitteln
zur Begütigung Brosamen für die städtische Kulturszene
abfallen sollten. Denn Eigenes und Internationalität dürfen
nie zum Widerspruch ausgebaut werden. Nur wenn Internationales sich
wohl fühlt in München, weil es hier kulturellen Widerpart
verspürt (Widerpart im Sinne von Ergänzung und Weitung),
floriert künstlerisches Leben.
Wissenschaftliche Blase: Medienkunstprojekt
Nach so vielen Einzwängungen fragt man sich, was Lydia Hartl
überhaupt will. Und wiederum greift das ausgesessene Nichts.
Diesmal hat es einen Namen: Medienkunstprojekt „Lab21“.
Englisch ausgesprochen („Läb21“) klingt das gut.
Nach vielen Verzögerungen und Hinhaltemanövern kam das
kurz vor der Haushaltssperre (war es ein Coup von Ude, der schon
von der Sperre und daher von der Aussetzung des Projektes wusste?)
in den Kulturausschuss. Es lohnt sich, den fast 30-seitigen Entwurf,
eine wissenschaftlich geblähte Blase, zu lesen, auch wenn diese
Aktion die Beharrlichkeit eines Masochisten erfordert. München
soll, wenn man die Quintessenz entschlüsselt (man korrigiere
mich) auf 100 mietfreien Quadratmetern informeller Knotenpunkt von
Medienkunstprojekten werden, die sich weltweit ereignen. Das kostet,
denn man betraut mit Monika Fleischmann (Sitz beim Fraunhofer-Institut
in Sankt Augustin) eine internationale Spitzenfrau, für die
kommenden drei Jahre mehr als eine Million Euro. Man würde
damit Know-how im Werte von 2,5 Millionen Euro einkaufen. Die Aktie
springt also um 150 Prozent! Jedes Milchmädchen muss da staunen.
Milchmädchen Ude staunte. Und die Sitzung wurde zur Farce.
Ude mahnte alle konservativen Kunstlümmel: Niemals in der
Vergangenheit wurde von der Gegenwart verstanden, was in der Zukunft
künstlerisch produktiv werden würde. Da hat er zwar Recht,
und es ist nach seinen eloquent basisarmen Ausführungen gerne
zu glauben, dass er das auch nicht versteht. Muss er auch nicht,
es hieße nahezu alle OBs der Nation zu überfordern. Aber
es gibt ein Korrektiv: den Sachverstand. Medienkunst (die Grünen
schummelten den Begriff „Kritische Medienkunst“ unter)
wird in Zukunft eine maßgebliche Rolle spielen. Doch die Informationen
dazu holen sich die wesentlichen Künstler schon jetzt oder
zumindest bald aus dem Netz, das einem informellen Zentrum schon
jetzt das Wasser abgräbt. Das Weitere, das Wichtige ist aber
die Kreativität, der Witz, der Geist von individuell oder auch
kollektiv Tätigen. Das betont schlanke „Lab21“
dürfte von ihnen nur belächelt werden. Oder benutzt wie
eine Frittenbude irgendwo.
Da sagt der Kopf immer, der Bauch meistens nein. Zukunft heißt
Visionen mit dem Potenzial vor Ort verbinden. Was ist, wenn Ersteres
nicht erbracht, das Zweite aber außer Acht gelassen wird?
Reinhard
Schulz
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