Selbstverständlich machen wir alle am 22. September von unserem
Wahlrecht Gebrauch – schon deshalb, um zu demonstrieren, dass
wir gegen die zunehmende Aushöhlung des demokratischen Parlamentarismus,
gegen die Entmachtung der Parlamente durch Küchenkabinette,
Konsenskommissionen, supranationale Institutionen und Wirtschaftskonzerne
sind.
Aber: „Was soll ich wählen? Ich weiß es nicht!“,
schrieb schon der Apostel Paulus in seinem Brief an die Philipper.
Uns eine Antwort auf diese Frage leichter finden zu lassen, hat
der Deutsche Kulturrat den fünf im Bundestag vertretenen Parteien
„Wahlprüfsteine“ vorgelegt, 83 auf 8 übergeordnete
Komplexe verteilte Fragen nebst einer Vielzahl von detaillierten
Unterfragen zu Themen der unmittelbaren Kulturpolitik, der Sozial-
und Arbeitsmarktpolitik im Kulturbereich, zur Weiterentwicklung
des Urheberrechts, zur kulturellen Bildung in der Wissensgesellschaft
sowie zur Film- und Medienpolitik.
Mag das Abfragen solcher „Prüfsteine“ vor politischen
Wahlen auch ein Instrument von Vorgestern sein, einst regelmäßig
von Gewerkschaften genutzt, so verdienen die jetzt vom Kulturrat
vorgelegten Fragen und Antworten doch Aufmerksamkeit: Sie geben
Hinweise auf einen hierzulande im Funktionalismus erstarrten Kulturbegriff.
Das beginnt schon bei der Art der Fragen: Keine einzige gibt den
Parteien Gelegenheit, ihren Kulturbegriff darzulegen. Was denn Kultur
ist, ob die Kulturindustrie zur Kultur gehört, was Kultur in
einem demokratischen, pluralistischen Staatswesen bezwecken soll
– da derartige Fragestellungen fehlen, finden sich auch keine
Antworten. Nur die CDU/CSU hat sich erlaubt in einer Vorbemerkung
zu ihren Antworten leise Kritik anzumelden: „Der vorgelegte
Fragenkatalog ... entspricht in seinem Anspruch auf Vollständigkeit
ziemlich genau den Erwartungen einer deutschen Behörde. Das
ist ebenso beeindruckend wie deprimierend.“
Dennoch ackert auch sie sich brav durch alle Fragen hindurch, an
Umfang und Vollständigkeit der Antworten nur noch übertroffen
von SPD und PDS. Letztere fällt durch das sympathische Eingeständnis
auf, sie befände sich noch in einem Lernprozess, und durch
den Versuch, Kulturpolitik nicht allein als „Ressort politischen
Handelns“, sondern als „sinnstiftenden Hintergrund politischer
Programmatik“ zu definieren. Die Bündnis-Grünen
verraten, in ihren Antworten originelle Einfälle zwischen Allgemeinplätzen
versteckend, dass Kulturpolitik für sie noch nicht zur Routine
gehört; die FDP fasst sich am kürzesten und liefert essayistisch
gefasste Absichtserklärungen.
Die beinahe durchgehend, fast schon suggestiv auf konkrete, in
der Regel gesetzgeberische Maßnahmen zielenden Fragen erlauben
es der Regierungskoalition, auf ihre Verdienste hinzuweisen und
entsprechende Fortsetzung anzukündigen, zwingen die Oppositionsparteien
zur Drohung, alles besser zu machen. Doch in vielen Antworten besteht
Übereinstimmung: Wer wollte schon „die Theater- und Orchesterlandschaft
Deutschlands in ihrer Einmaligkeit“ nicht erhalten oder „die
künstlerischen Schulfächer gegenüber anderen Fächern
vernachlässigen?“ Der Leser reibt sich angesichts dieser
Einmütigkeit erstaunt die Augen und würde gerne eine Antwort
auf seine Frage haben, warum denn dann Vieles so im Argen liegt?
Ob die Lektüre der Wahlprüfsteine die Frage des Apostels
Paulus zu beantworten hilft? Sie sind kostenlos beim Deutschen Kulturrat
(Büro Berlin, Burgstr. 27, 10178 Berlin) zu beziehen oder im
Internet unter www.puk-online.net
abrufbar.
Ihr
Stefan Meuschel
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