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Schlingpflanzen, traumverloren
Der Bayreuther „Tannhäuser“ · Von Michael
Herrschel
Mit einem unerhörten Bläsersextett malt er die Farbe
Grün. Ozeanische Gewächse wiegen sich in leichter Strömung,
und in dieser kleinen Ewigkeit, ehe noch die verzehrende Chromatik
der Streicher ins Bild fließt, ahnt man, welche Gnade ein
geschlossener Vorhang während der Ouvertüre bedeutet.
Aus dem Graben schnellt das Venusbergmotiv in physischer Präsenz
empor, als lebendiges Fanggarn, das, einmal ausgeworfen, sich gleißend
verästelt. Von nun an und für immer ist alles Gestalt
und Gedanke bis zur kleinsten Nebenstimme, zum lustvoll zuckenden
Paukenwirbel, zur tückischen Sechzehntelbegleitung der Violinen.
Was macht Thielemann? Er scheint zu sagen: warte, ich krieg dich.
Beim più stretto. Und lässt die Figur dem Orchester
auf der Nase tanzen, bis das Tempo anzieht und sie mit muss und
saust und pfeift und endlich über sich selbst in jubilierendes
Lachen ausbricht.
Ob es gut war, nach diesem fantastischen Hörstück den
Vorhang aufzuziehen? Über einem entvölkerten Venusberg,
in dem nichts geschieht? Welch schreiende Diskrepanz! Während
im Orchester die Urfassung des Bacchanals wie ein Brillantfeuerwerk
abknattert, reibt man sich die Augen und fragt besorgt, ob das auf
der Bühne die Inszenierung ist oder die Vorstufe zu einer Stellprobe.
Keine actio, kaum reactio; ein Foto-Atelier. Bewegung ist nichts
als leere, private Suche nach einer neuen Pose. Nur drei Tänzerinnen,
beschämt ob der kindisch synchronen Räkelei, leisten Venus
Gesellschaft. Tannhäuser kommt spät, findet die Damen
schlafend und tupft der Gebieterin einen befeuchteten Finger auf
den Mund. Was erweckt er sich da?
Barbara Schneider-Hofstetter gibt eine müde Göttin, die
mit Anstand das eigene Verschwinden hinauszögert. Das einfarbige
Leuchten ihrer in der Höhe schlagkräftigen Stimme offenbart
ein resignatives Muskelspiel; immer muss sie ein wenig stoßen,
ehe ein Ton auf gewünschter Position justiert ist. Glenn Winslade
wächst, Portamenti klug vermeidend, mit Schmerz in seine Rolle,
die ihn aktiver, drängender, hingerissener, trunkener fordert
– doch sein lyrisches Fundament steht fest. Besser so gesungen,
als forciert und eingebrochen. Auch kommt Vergessenes zum Vorschein:
die Sehnsucht nach dem freien Himmel, nach Sonne, Mond, dem Wechsel
der Jahreszeiten. Leidend, tränenüberströmt verharrt
Tannhäuser, als rings um ihn die Dekoration wechselt und Evgenia
Grekova ihn spitzbübisch kokett ansingt, mit einem Stich ins
Grelle, der mehr auf eine dem Hörselberg entsprungene Sirene
denn auf einen Hirtenknaben schließen lässt. Aber das
geht vorüber, und ein feiner Lontano-Zauber hebt an. Eberhard
Friedrich hat die Chöre darauf vorbereitet, dem Dirigenten
wie ein zweites Orchester zu Gebote zu stehen, eines, das aus dem
Nichts schier unendlich wächst. Auch der jagdliche Hörnerschall
beginnt wirklich leise; man vertraut hier auf eine romantische Idee,
es ist atemberaubend.
Nun betritt Kwangchul Youn die Bühne, als Landgraf Hermann
auch vokal ein Souverän: voller Macht, Weisheit – und
Zärtlichkeit, auf dass er das Wort nicht zerbreche, das er
in kräftigen Händen hält. Den zu stiller Noblesse
verurteilten Wolfram von Eschenbach singt, nicht minder faszinierend
in der Textausdeutung, Roman Trekel. Seine Auftritte sind grazile
Balladen, reich an Farben und Facetten; ihm ist auch der einzig
buchenswerte Regie-Einfall anvertraut: Wolfram ahnt, wo Tannhäuser
war – er liest die Partiturseiten, die dieser mit sich führt,
und retourniert sie mit eisigem Blick. Das Ensemble der kleineren
Konkurrenten krönt Clemens Bieber als Walther von der Vogelweide
lieblich und rein. Trocken klingt sein Solo auf der Wartburg. Schade,
dass im Sängerkrieg John Wegner die Worte des Biterolf so falb,
so wenig wütend ausstößt – und unverdientes
Pech, dass die Regie ihn zur Witzfigur stempelt, die Tannhäuser
nachläuft und ungeschickt versucht, ihm den Kopf abzuschlagen.
Die Fokussierung auf Elisabeth macht vieles wieder wett, denn Ricarda
Merbeth kommt der Flammenreinheit der Figur nahe. Manchmal schießt
mehr Kraft aus ihrem Innern, als sie bändigen kann. Dann sucht
sie zitternd, bebend eine Mitte, einen Halt in der Leidenschaft
und findet ihn überzeugend im großen kontemplativen Ensemble.
Die folgende Strafrede des Landgrafen entfesselt durch das raffiniert
ausgedehnte Accelerando des Orchesters einen musikalischen Wirbelwind;
Tannhäuser muss es scheinen, als drehe sich das Narrenschiff
um ihn herum in immer verrückterem Tempo und schleudere ihn
hinaus ins Elend.
Vollends zur Überraschung gerät der dritte, wie von fern
herüberklingende Akt. Tannhäusers Romerzählung, die,
ganz auf Wort und Melos gestellt, äußerer Drastik nicht
mehr bedarf, ist das Herz einer traumverlorenen Novelle. Zuvor,
da Wolfram den Abendstern grüßt, erlebt man Roman Trekel
noch einmal in sensiblem Einverständnis mit Thielemanns Interesse
am Leisen, Fragilen, Verletzbaren. Die Chöre des Finales sind
ergreifend in ihrer Schlichtheit, sie sprechen staunend das Unbegreifliche
aus. So komponiert einer, dem der Zweifel am Wortsinn der Legende
im Leib sitzt und der doch ohne die Bildkraft des Wunderbaren nicht
atmen, nicht leben kann. Auf höherer Stufe findet er die Synthese
in neuen Farben und Harmonien, die Skepsis und Glaubens-Sehnsucht
in eins zwingen.
Christian Thielemann sucht die Modernität des Werkes nicht
im Aufrauhen oder Vergröbern der Textur, sondern im Gewährenlassen,
Strömenlassen, im Elementar-Ereignis des Klangs. Er ist heute
das unruhige, Wünschelruten panisch erregende Zentrum im dirigentischen
Kräftefeld des Grünen Hügels, das nach lang währendem
Patt gesättigter Pultlöwen merklich in Bewegung geriet.
Bayreuth ist von neuem ein Ort, der die Möglichkeit der Steigerung
in sich birgt. Mit positiver Kärrnerarbeit entledigte Adam
Fischer sich der Aufgabe, in einem überkommenen Interpretations-Gehäuse
Konkursverwalter zu spielen; bald ist der „Ring“ sein
eigener. Sir Andrew Davis bietet im „Lohengrin“ einen
drahtigen Komparativ. Superlativische Höhenluft zu atmen, ihre
Witterung aufzunehmen, vermag vielleicht einzig Thielemann, der
dem Orchester alles schwitzend Musikantische austreibt. Unter seinen
Fingern brennen Instrumentalfarben heller und reiner als sonst.
Die Klarheit, die er einfordert, hat etwas irisierend Doppeldeutiges.
Nichts ist nur es selbst; was die Aufgabe vollkommen erfüllt,
weist über sich hinaus. Indem, um ein mikroskopisches Beispiel
zu geben, Violinen und Bratschen vor der Hallen-Arie ihre makellosen,
rasenden Martellati ausführen, sind sie in einer Art Vollbiegsamkeit
der musikalischen Sprache wie Trompeten, aber in einem Register,
das diese selbst nie erreichen.
Zugleich gelingt etwas anderes: geschichtliches Hören. Die
Tannhäusermusik erhellt blitzhaft Herkunft und Wirkung. Mit
seltener Deutlichkeit erscheint das Vorbild Beethoven in den klagenden
Oboensoli, in Tannhäusers Ruf nach Freiheit aus der Tiefe des
Venusberges, in der kurzen namenlosen Freude des Duetts mit Elisabeth.
Ebenso begegnet einem die ins Werk eingeschriebene Zukunft: Bruckner’sche
Kathedralenwucht in den pochenden Triolenvierteln der Schlusstakte.
Und sind diese nicht übrigens ein merkwürdiges Spiegelbild
jener ekstatisch aufrüttelnden Sextolen, die vor dem ersten
berückenden Choreinsatz im Bacchanal stehen?
Ein Regisseur oder Bühnenbildner, der gegen die lebendige
musikalische Exegese bockig anrennen wollte, wäre dumm. Aber
solche Erkenntnis allein macht auch noch nicht klug, und mit sympathischen
Interview-Äußerungen ist keine Theaterarbeit verrichtet.
Was hat Philippe Arlaud im Sinn? Ein leerer Raum tut sich auf; drin
flattern bunte Tuche für ein Martergeld. Der künstlerische
Wert lässt sich danach kaum bemessen. Ausstattungen, die etwas
taugen, weil sie die Fantasie anregen, können genauso viel
oder mehr kosten, manchmal weniger. In Wolfgang Wagners gern gescholtenem
„Tannhäuser“ gab es eine schwebend einfache, mir
unvergessliche Abstraktion des Waldes mit schlichtem Material, das
in wechselnden Himmelsfarben spielte. Dass Farbe eine Kostbarkeit
ist, derer man sich mit Bewusstheit bedient, wenn man nicht abstumpfen
will: wäre es nicht gut, diesen Gedanken von der Musik auf
die Szene zu übertragen? Was aber die Regie anbetrifft, so
wäre Philippe Arlaud der Eifer zu wünschen, nicht umzugestalten,
sondern mit der Gestaltung recht eigentlich zu beginnen. Ob es fair
ist, die Darsteller so weitgehend sich selbst zu überlassen,
dass sie einander allzu oft im Wege stehen – die Entscheidung
darüber kann nur in der Werkstatt Bayreuth selbst fallen. Sichtbar
ist, dass nicht viele mit der aktuellen Situation zurechtkommen.
Es gibt nur Inseln sicheren Spiels, die Unterredung des Landgrafen
mit Elisabeth ist eine davon.
Ich habe einen Traum: Wolfgang Wagner versucht für den „Tristan“
2005 zwei ebenbürtige Theaterzauberer zu gewinnen. Ihre Namen
könnten lauten – Christian Thielemann und Luc Bondy.
Mir ist unbekannt, ob diese beiden an einer Zusammenarbeit interessiert
wären. In ihren künstlerischen Aussagen, davon bin ich
überzeugt, sind sie einander nah.
Michael
Herrschel
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