|
Intellekt und Schönklang
Zum Tod von Giuseppe Sinopoli · Von Max Nyffeler
Zu seinem 50. Geburtstag dirigierte Mauricio Kagel die Uraufführung
seines Stücks Finale, in dem er gegen Schluss tot
vom Podium fällt der berühmte Dirigententod als
inszenierter Überraschungscoup. Der Herrscher über die
Musik bricht in der Ausübung seiner Macht vor aller Augen zusammen,
und noch in diesem finalen Akt weiß er sich der Sensationslust
des Publikums sicher. Doch während sich Kagel nach dieser ästhetischen
Überlistung des Todes lächelnd davonschleichen konnte,
war es für Giuseppe Sinopoli am 20. April blutiger Ernst. Im
dritten Akt von Giuseppe Verdis Aida erlitt er am Pult
der Deutschen Oper Berlin eine Herzattacke, an der er kurz darauf
starb. Dem Schock fehlte nicht der makabre Hintergrund: Die Vorstellung
dirigierte Sinopoli zum Zeichen der Versöhnung mit seinem alten
Freund Götz Friedrich, dem kürzlich verstorbenen Intendanten
der Deutschen Oper Berlin. Er hatte sich mit ihm 1990 überworfen,
als er schon den Vertrag als Chefdirigent des Hauses in der Tasche
hatte. Nun wurden Sinopolis Begleitworte im Aida-Programmheft
zur fatalen Vorahnung: Wenn Götz mich heute zum Pult
begleitet, wird es mir scheinen, als wiederhole er mit klarer überzeugender
Stimme die Worte des Ödipus von Sophokles, die er, bevor er
die Szene verlässt, an die Menschen von Kolonos richtet: ...
Du und diese Stadt ... das Schicksal sei Euch gnädig, und im
Wohlergehen erinnert Euch immer mit Freude an mich, wenn ich tot
sein werde.
An eben diesem Pult schaffte Sinopoli 1980 mit einer Aufsehen erregenden
Interpretation von Giuseppe Verdis Macbeth seinen Durchbruch
als international berühmter Operndirigent. Schon 1978 in Venedig
hatte er mit Aida eine neue Sicht auf Verdi erschlossen.
Auf der Basis kritischer Quellenstudien und mit reduzierter Streicherbesetzung
verhalf er dem Werk zu einer fast kammermusikalischen Transparenz,
die dem psychologischen Geschehen der Oper ganz anders gerecht wurde
als der gängige Monumentalklang.
Hinter diesem kritischen Blick auf die Tradition standen Erfahrungen
auf dem Gebiet der Neuen Musik und der Psychologie. Der am 2. November
1946 geborene Sinopoli hatte in seiner Heimatstadt Venedig Musik
und in Padua zugleich Medizin mit den Schwerpunkten Psychiatrie
und Anthropologie studiert, war mit Bruno Maderna befreundet und
bekam wichtige Anregungen von Franco Donatoni, bevor er 1972 bei
Hans Swarowsky in Wien das Dirigieren lernte. Er schien zuerst den
Weg eines Komponisten einzuschlagen, wurde aufgeführt bei den
Festivals in Royan, Graz und Donaueschingen und dirigierte daneben
Neue Musik. Die Schallplattenaufnahmen mit Werken von Schönberg,
Maderna und Manzoni, die er um 1980 unter anderem mit den Berliner
Philharmonikern veröffentlichte, zeigen ihn als kompetenten,
klangbewussten Dirigenten am Anfang seiner Karriere.
Schon früh fühlte sich Sinopoli angezogen von jener Kultur
der Erinnerung, die unter dem Stichwort Mitteleuropa
die italienischen Intellektuellen und Künstler in den Siebzigerjahren
wieder einmal faszinierte und die mit Namen wie Nietzsche, Freud,
Kafka, Mahler und Schönberg verbunden ist. Eine Quelle psychologisch-ästhetischer
Introversion, die vor dem Hintergrund einer erlahmenden Avantgarde
auch Sinopoli neue Perspektiven eröffnete. Seine Klangvorstellungen
stehen der Musik eines Alban Berg näher als dem nüchternen
Materialverständnis der Nachkriegsavantgarde. Das zeigte sich
auch in der 1981 in München uraufgeführten Oper Lou
Salomé, die mehr durch ihre bisweilen dichten musikalischen
Momente als vom dramatischen Konzept her überzeugte.
Sie sollte den Schlusspunkt seiner kompositorischen Ambitionen
bilden, denn die Dirigentenkarriere schob sich nun unaufhaltsam
in den Vordergrund. Auch hier folgte der Italiener Sinopoli seiner
alten Sehnsucht. Er vertiefte sich in die österreichisch-deutsche
Tradition des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, darin seinen
Kollegen Giulini und Abbado ähnlich. Als gefragter Dirigent
für Konzertsaal und Schallplatte unterschrieb er 1983 einen
Exklusiv-Vertrag bei DGG und nahm erst als Hauptdirigent, dann als
Music Director des Philharmonia Orchestra London einen kompletten
Mahler-Zyklus auf. Dann produzierte er Bruckner, Schumann, die Chorwerke
von Brahms, Opern und sinfonische Dichtungen von Strauss, zunehmend
mit der Staatskapelle Dresden, deren Chefdirigent er 1992 wurde,
aber auch mit anderen internationalen Orchestern. Um die Klassik
machte er, von Ausnahmen abgesehen, eher einen Bogen.
Seine Interpretationen waren nicht unumstritten. Mahlers Siebte,
die er 1991 in München mit dem Sinfonieorchester des Bayerischen
Rundfunks dirigierte, war von stabilen Tempi und einer transparenten
Darstellung der komplexen orchestralen Schichtungen geprägt,
doch fehlten ihr etwas jene katastrophischen, auch berückenden
Momente, die ein Bernstein in Mahlers Musik so kongenial aufzuspüren
verstand. Der klare Blick ins innere Gefüge der Musik, verbunden
mit strahlendem, schönem Ton, mag bei den Bruckner-Sinfonien
manchen an mystisches Sfumato gewohnten Hörer kalt gelassen
haben; dafür vermochte er der klanglichen Erscheinung der Werke
überraschende neue Facetten abzugewinnen. Ein intellektuell
kontrollierter Schönklang prägt auch die Serie der Aufnahmen
mit Orchesterwerken der Wiener Schule, die er vor kurzem noch mit
der Dresdner Staatskapelle begonnen hat.
Als Operndirigent erweiterte Sinopoli, ein ehrgeiziger und akribischer
Arbeiter, zielstrebig sein Repertoire. Der Verdi-Spezialist erschloss
sich Puccini, dann Strauss und schließlich Wagner. In Bayreuth,
wo er 1985 seinen Einstand mit Tannhäuser gab,
dirigierte er im letzten Jahr den neuen Ring. Sein unerwarteter
Tod kommt nun für Bayreuth, drei Monate vor Beginn der Festspiele,
im denkbar schlechtesten Moment. Angesichts der zunehmenden Anarchie
auf dem Grünen Hügel könnte das ganz nebenbei auch
der kraftlos gewordenen Herrschaft Wolfgang Wagners den Gnadenstoß
versetzen.
Max Nyffeler
Aida für Götz Friedrich
Jener Frühlingstag vor zwei Jahren, als Götz mich in
Rom besucht hat, scheint inzwischen unendlich weit zurückzuliegen.
Wir hatten uns schon elf Jahre nicht mehr gesehen, und jeder von
uns hatte einen langen Abschnitt seines Lebens allein zurückgelegt.
In dem er sicherlich oft in Gedanken und mit dem Herzen zu der Zeit
zurückkehrte, in der wir bis tief in die Nacht über die
Regie des Wozzeck redeten oder über Ernst Bloch
und das Prinzip der Utopie oder das inzwischen so brüchig gewordene
Prinzip Hoffnung.
Mit Götz verband mich eine Freundschaft, die weder förmlich
noch oberflächlich war; gemeinsam war uns die radikale Betrachtungsweise
menschlicher Existenz, kompromisslos und ohne Einschränkungen.
Unsere Unnachgiebigkeit war der Grund für Schwierigkeiten.
Ich möchte die Deutsche Oper nicht verlassen, ohne gemeinsam
mit Dir in jenem Theater noch einmal das zu erleben, was wir am
besten können, wofür wir geboren sind, sagte er
mir.
Ich umarmte ihn wie in alten Zeiten. Es war ein Augenblick großer
Ergriffenheit. Wir entschieden uns für die Aida
und dachten dabei überhaupt nicht an das Verdi-Jahr, aber vielleicht
war es das Schicksal, das uns auf jene erhabene Stelle hinweisen
wollte, die die Oper beschließt: Oh terra addio, addio
oh valle di planti, sogno di gaudio che in dolor suani. (O
Welt, lebe wohl, lebe wohl, Tal der Tränen, Traum der Freude,
der in Schmerzen sich löst.)
Wir waren glücklich, zusammen nach Berlin zurückkehren
zu können, zusammen die nicht fassbare Spannung der Proben
zu spüren, in der man jeden Augenblick in Erfahrung zu bringen
sucht, in dem Musik und Theater zur Notwendigkeit werden, zu einer
Vision von Welt, in der sie sich zu größter dionysischer
Ausdruckskraft im Sinne Nietzsches erheben, und in dem man im selben
Augenblick ihre Vergänglichkeit und ihre Verwandlung in Erinnerung
erkennen muss.
All das wird nun ohne ihn, aber für ihn geschehen. Ihm widme
ich die Empfindungen, die mir an jenem Abend geschenkt sein werden.
In dem Theater, das ich geliebt habe und von dem ich geliebt wurde,
und in das ich zurückkehre, weil Götz mich voller Zuneigung
an die Hand genommen und gebeten hat, keinen Abschnitt unseres Lebens
zu vergessen, aber den anderen, stärkeren, schöneren,
wahreren immer in Erinnerung zu halten.
Wenn Götz mich heute zum Pult begleitet, wird es mir scheinen,
als wiederhole er mit klarer, überzeugender Stimme die Worte
des Ödipus von Sophokles, die er, bevor er die Szene verlässt,
an die Menschen von Kolonos richtet: ... Du und diese Stadt
... das Schicksal sei Euch gnädig, und im Wohlergehen erinnert
Euch immer mit Freude an mich, wenn ich tot sein werde.
Giuseppe Sinopoli
Giuseppe Sinopoli im Gespräch:
Man kann heute nicht mehr im Glauben an eine progressive
Entwicklung des Materials komponieren. Das ist meine Überzeugung.
Die Hauptsache ist, dass sich das Gedächtnis mit den Überresten
einer vergangenen Kultur beschäftigt, die mit unserem Leben
heute noch etwas zu tun haben. Die Grammatik ist vielleicht tot,
aber unser Gedächtnis nicht.
Zu Wagner habe ich ein komisches Verhältnis
ein bisschen wie Nietzsche: Ich hasse die Tiefe, aber ich kann
mich nicht von ihr befreien. Ich möchte ihn aber bald einmal
dirigieren. Beginnen möchte ich mit dem Fliegenden Holländer;
ich glaube, der ist nicht so problematisch, der gehört fast
ein bisschen zur italienischen Oper. Und dann Tannhäuser
und die Meistersinger. Tristan? Damit muss man ein wenig Geduld
haben. Einen schnellen Tristan macht jeder.
(aus einem Gespräch vom 6. Mai 1981 mit Max Nyffeler)
Komponieren und Dirigieren beeinflussen sich gegenseitig
stark. Als Komponist sollte man sich mit den Möglichkeiten
des Orchesters, den Probenbedingungen und so weiter auseinander
setzen. Mozart, Beethoven, Wagner haben sich darauf eingestellt.
Ich weiß nicht, warum die heutigen Komponisten in dieser
Hinsicht nur utopisch denken.
|