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Gefühlsknüller mit Expression
Ein Abend des Bayerischen Staatsballetts · Von Malve Gradinger
Was kann ich nächste Saison bringen? Wie behalte ich mein
Publikum, mit welchen Stücken kann ich neue Zuschauer werben?
Welche Choreografien beschäftigen möglichst viele Tänzer,
auch künstlerisch zufrieden stellend? Und kriege ich überhaupt
etwas Interessantes für die anstehende Premiere? Fragen, nur
ein paar, die einen Ballettchef, der nicht selbst choreografiert,
durchgehend beschäftigen. Bei dem bekannten Mangel an guten
Choreografen auch gelegentlich den Schlaf rauben. Bei dem hohen
Anspruch von Publikum und Tänzern! Sie können heute
mehr, denken mit, sind wesentlich kritischer als früher
wird die Spielplangestaltung immer schwieriger. Immerhin hat Ivan
Liska nach drei Saisons als Staatsballettchef strategisch dazugelernt.
Sein neuer Dreiteiler, der die Münchner Ballettwoche im Nationaltheater
eröffnete, ist, anders als vorausgegangene gemischte Abende,
nicht überladen und auch stilistisch wohl ausgewogen zwischen
der modernen schwedisch-rustikalen Handschrift von Mats Ek, der
postmodern-neoklassischen von US-Choreografin Lucinda Childs und
dieser unverwechselbaren, reduzierten plastischen Neoklassik des
Holländers Hans van Manen.
Den ganz großen Beifall sahnte A sort of... des
Schweden Mats Ek von 1997 ab. Eine Art von..., dies
der Titel, lässt sich als eine Art von Ehe-Story
deuten. Mats Ek hat sie in theatrale surreale Bilder gegossen. Das
Stück birst vor Gefühlen und tänzerisch exaltierter
Expression, vor Farben und Klängen, dank Ausstatterin Maria
Geber und den atmosphärisch starken Musiken von Henrik Gorecki
(Konzert für Cembalo und Streichinstrumente, Kleines
Requiem für eine Polka). Kein Wunder, dass das Publikum
völlig mitgerissen war. Mit Eks Gefühlsknüller hat
Ivan Liska ja schon mal einen abendlichen Trumpf im Ärmel.
Gegen Eks emotionale Wucht wirkten die beiden anderen Stücke
des Abends natürlich distanzierter, als sie es für sich
genommen sind: die Uraufführung Händel/Corelli
der US-postmodernen Lucinda Childs und Hans van Manens Kammerballett
von 1995, neo-höfisches Gesellschaftsritual das eine, kopf-gezügelte
Glut das andere.
Sehr klug, dass der Abend leise mit Hans van Manens Kammerballett-Beziehungen
beginnt: acht Tänzer, sitzend auf hellen Holzhockern in einer
fast Bühnen-füllenden Licht-Arena (Bühne/Kostüme:
Keso Dekker, Licht: Joop Caboort). Jeder Tänzer seine eigene
Plastik in diesen von Keso Dekker wieder einmal so genial
entworfenen, nein, eigentlich muss man sagen: Haut-angegossenen
Trikots. Aus sattem, nie Falten schlagendem Samt! Tiefschwarz, Gelb,
Goldbraun, Orange. Dekker, seit Jahren van Manens Ausstatter, ist
wie der Choreograf ein Meister der Reduktion. Sein inspiriert-besessenes
Zuarbeiten modelliert den Tänzerkörper und
damit die Bewegung noch stärker heraus. Durch dieses sich aufeinander
abstimmende Künstler-Duo hier nun acht Tänzer auf ihren
hölzernen Sockeln: sich dehnende, verschrägende, kippende
Skulpturen. Schlicht, faszinierend.
Und später bei der Selbstdarstellung im Arena-Zentrum sind
es doch ungeheuer lebendige Akteure. Die Kunst van Manens ist es,
in der geradezu bildnerischen Abstraktion von Tanz dennoch zwischenmenschliche
Situationen und Spannungen aufleuchten zu lassen. Paare erahnen
sich, finden sich über einen Blick aus dem Augenwinkel. Fordern
sich auf zum erotischen Duell in überraschend neuen, kurvenden,
miteinander ringenden Bewegungen: Wenn sich Mann und Frau an beiden
Händen halten, sich dabei hin- und herdrehen und wenden, entsteht
eine ungelöste Partnerfigur als Metapher für
eine Beziehungsfessel. Es ist erstaunlich an dem jugendlichen Grauen
Panther Hans van Manen, nach bald einem halben Jahrhundert Choreografie,
dass er in seiner einmal gefundenen, hoch reduzierten neoklassischen
Handschrift immer wieder hauchfeine Nuancen findet: Die bekannten
V-artig erhobenen Arme der 70er- und 80er-Jahre sind leicht im Ellbogen
angewinkelt, die Hände gespreizt, eine Geste, die wie eine
unwirsche Aufforderung wirkt oder wie eine erboste Antwort, wie
eine Abwehr. Schritte mit den typisch an die Oberschenkel
angelegten Händen, sind kleinteiliger, schneller geworden,
und seine Sprache insgesamt noch schärfer konturiert. Und van
Manen findet immer auch genau die richtigen, klaren
Musiken für seine wunderbar sparsam-klare Sprache: Klaviermusiken
diesmal, 200 Jahre umspannend, von Scarlatti bis zu John Cage und
dem Aserbeidschaner Kara Karayev. Überraschend und umso schöner,
dass jeder Van Manen anders als generell rein formale Stücke
Tänzern Raum lässt, ihre Persönlichkeit zu
entfalten. Judith Turos, sonst immer eher in den herben Partien
besetzt, entwickelt hier plötzlich eine lyrische Qualität.
Und Christian Ianole, ein technisch solider, aber bis dato eher
unsichtbarer Solist, tritt hier unverhofft als sehr
dezidierte markante Persönlichkeit in Erscheinung.
So spannend es auch ist, dass etablierte klassische Ensembles moderne
und zeitgenössische, abstrakte Stücke tanzen, das darstellerische
Potenzial der Tänzer wird darin kaum genutzt, geschweige denn
gefördert. Die Demokratisierung des Tanzes hat eben auch ihre
Schwachstellen. Lucinda Childs Arbeiten zum Beispiel sind formale
Gebilde, reizvoll in ihrer Art, die aber den Tänzer eher nur
als Figuranten einsetzen. Allenfalls kann sich der Tänzer durch
eine spezielle Bewegungsqualität profilieren. Childs
Händel/Corelli hat allerdings, auf den ersten Blick,
etwas enttäuscht. Schuld daran ist zunächst einmal die
Ausstattung beziehungsweise die Ballettdirektion. Sie hätte
Lucinda Childs tanzversierte Ausstatter an die Hand geben müssen.
Pierre Mendell, wenn auch renommierter Grafiker, hat hier sein erstes
Bühnenbild entworfen. Monika Staykowa war Assistentin im Kostümwesen,
auch sie zum ersten Mal eigenverantwortlich für eine so wichtige
Tanzproduktion. Ergebnis: Mendells breit schwarz und fleischfarben-transparente
Hänger erschaffen einen imposant gestreiften Raum, der auch
elegant das mit auf der Bühne sitzende Staatsorchester verdeckt.
Dieses Riesenzebra erschlägt jedoch die Choreografie,
erschwert das Erfassen der ausgeklügelt-komplexen, geometrischen
Bewegung der Childs. Die schwarz-weißen Kostüme verschlimmern
noch das Malheur.
Sträflich, vor allem da auch Ballettchef Ivan Liska bekannt
sein müsste, dass die Kunst der immer etwas distanzierten,
um nicht zu sagen spröden Childs generell sich eher entzieht.
Childs, im Gegensatz zu Hans van Manen, ist eine reine Formalistin.
Und Form muss sichtbar sein. Hier sieht nur, wer wirklich und auch
zum zweiten oder dritten Mal sehen will.
Hinzu kommt, dass Lucinda Childs hier zum ersten Mal nicht zu postmoderner
Musik choreografiert hat. Die Minimal-Musiken von Phil Glass und
John Adams hatten ihr immer sozusagen einen gleichsam schwebenden
Soundteppich geliefert, auf dem sie minimalistisch variierend forttänzeln
konnte. Spannung ergab sich da durch optisch-akustische Verschiebungen,
vor allem aber auch durch sich scheinbar verdoppelnde Dynamik. Ein
Effekt, der sich bei den gemessenen, in sich ruhenden Komponisten
Händel und Arcangelo Corelli nicht ergeben kann. Und anstatt
gegenzusteuern ist die Childs den ungewohnten barocken Meistern
Händel und Corelli viel zu gehorsam gefolgt. Im Metrum, auch
in der Allüre. Hier hat die Childs, sich auf den Typ dieses
Staatsensembles einstellend, verstärkt neoklassisches Material
verwendet.
Trotzdem, eine Qualität hat die Childs immer. Und wer sich
einlässt, entdeckt den unaufdringlichen Reiz dieses mathematisch
in sich geschlossenen Tanz-Kosmos: 19 schlanke, hochtrainierte Tänzer
inszenieren hier, nostalgisch nachträumend, Giguen, Menuette,
Rigaudons und Sarabanden. Und wie sie so kontrolliert in Reihen
schreiten, girlandenartig umeinander wandern, in gleichem Atemzuge
eigenwillig pirouetten und in federleichten Sprüngen davon
fliegen, da fühlt man sich plötzlich auf dem utopischen
Schnittpunkt zwischen der höfisch zurückhaltenden Anmut
des 18. Jahrhunderts und der raumgreifenden tänzerischen Freiheit
von heute. Die Tänzer haben das offensichtlich auch erspürt
und verleihen diesem Stück eine lächelnde Schwebeleichtigkeit.
Liska hatte bei seinem Start als Ballettchef versucht, dem Ensemble
ein eigenes Profil zu geben. Bei den begrenzten Möglichkeiten,
die einem nicht tanzschöpferischen Direktor bleiben, ist das
fast eine Unmöglichkeit. So fährt er nun, zwangsweise,
den gleichen Kurs, den Staatsballett-Gründerin Konstanze Vernon
eingeschlagen hat: Klassikerpflege vorrangig, aufgelockert durch
Aufnahme von modernen und zeitgenössischen Stücken
was übrigens auch die anderen großen Häuser zwischen
Stuttgart und Berlin tun (müssen).
So heißt es also weiterhin: ein gemischter eher moderner
Abend und ein (neo)klassisches Handlungsballett pro Saison. Im Dezember
wird es Petipas Glasunow-Ballett Raymonda (1898) sein,
in der neuen Fassung von Ray Barra, von dem sich das Staatsballett
noch unter Konstanze Vernon bereits Don Quijote und
Schwanensee maßschneidern ließ. In München
nichts Neues, aber auch keine schlechten Nachrichten. Man hat den
Eindruck, dass Liska, der Vorsichtige, ein solides Stück
Land gewonnen hat im kniffligen Terrain der Ballettdirektion.
Malve Gradinger
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