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Kontroverse und Tradition
Das Nordharzer Städtebundtheater · Von Nils Schneider
Dui-du, dui-du, la la la la. Stellen Sie sich vor,
Sie sind krank, und es glaubt Ihnen keiner!. Ihr Sänger
haltet Frieden!. Aurora sticht sich in den Finger, Aufschrei,
Schmerz, Blut fließt! - Eine Plakatserie mit frechen
Sprüchen rund um den aktuellen Spielplan schmückt die
Foyerwände des Halberstädter und Quedlinburger Theaters;
seit Beginn dieser Spielzeit bringt am Nordharzer Städtebundtheater
das junge Leitungsteam um den neu angetretenen Intendanten Kay Metzger
frischen Wind in die ostdeutsche Theaterlandschaft. Im Gespräch
bestätigen Metzger und der Chefdramaturg Peter Oppermann einstimmig
eine überaus spannende Spielzeit mit vielen neuen Erfahrungen
und betonen, dass es gelungen ist, innerhalb kurzer Zeit ein bunt
gemischtes Ensemble mit Kollegen und Kolleginnen aus den alten und
neuen Bundesländern zusammenzuführen. Tabula rasa,
wie er bei einem Leitungswechsel häufig üblich ist, hatte
man bewusst vermeiden wollen und sah die Herausforderung eher in
der Begegnung der bereits in Halberstadt ansässigen Solisten
mit den neu Hinzugekommenen. Inzwischen hat sich diese als überaus
konstruktiv erwiesen.
Junges Unternehmen
Das Unternehmen Nordharzer Städtebundtheater
steckt, rein rechtlich gesehen, noch in den Kinderschuhen. Metzgers
Vorgänger Gero Hammer hatte 1992 aus den beiden Häusern
in Halberstadt und Quedlinburg einen soliden Städtebund gefestigt,
der sich seitdem eine Dreispartenbühne mit einem jährlichen
Unterhalt von gut 18 Millionen Mark und 221 festen Mitarbeitern
leistet, getragen von je zwei Landkreisen und Städten. Mit
einem Kostendeckungsgrad von 12,4 Prozent hat das Theater, das über
insgesamt vier Spielstätten verfügt, im vergangenen Jahr
mit über 136.000 Zuschauern das beste Einspielergebnis in Sachsen-Anhalt
erzielt und bei gleichbleibenden Zuschüssen von Land und Trägerkommunen
den Einnahmeplan deutlich überschritten. Dennoch überschattete
den Leitungswechsel eine geplante Subventionskürzung des Landkreises,
die das Haus möglicherweise eine Sparte gekostet hätte:
Nicht zuletzt durch den schon in den ersten Monaten erfolgreichen
Neubeginn konnte diese Kürzung abgewendet werden.
An der großen Vielfalt hält die neue Theaterleitung
trotz Einfrierung des Etats fest: Pro Saison sind 23 Neuinszenierungen
und zahlreiche Wiederaufnahmen vorgesehen, dazu jeweils ein Zyklus
von sechs Sinfonie- und verschiedenen Zusatzkonzerten. Darüber
hinaus werden im Sommer sechs Musiktheater- und Schauspielneuinszenierungen
in den traditionellen Freilichtspielstätten, im Harzer Bergtheater
Thale und auf der Waldbühne Altenbrak, zur Aufführung
gebracht. Ganze zwölf Monate Spielbetrieb: eine Heidenarbeit,
die perfekte Organisation und höchste Einsatzbereitschaft fordert,
bestätigen Metzger und Oppermann. Hinzu kommen schließlich
noch zahlreiche Gastspiele mit dem Lessingtheater Wolfenbüttel
zum Beispiel verbindet das Theater ein fester Kooperationsvertrag
und viele Extras, die seit dieser Spielzeit neu angeboten
werden. Sie sollen die Leistungsfähigkeit und Publikumsnähe
des vielseitigen und gelegentlich auch spartenübergreifend
eingesetzten Ensembles unterstreichen.
Offensive Dramaturgie
Ziel der Theatermacher ist es, das Theater unmittelbar in der
Stadt zu verankern. Nach diesem Grundsatz betreibt Oppermann eine
offensive Dramaturgie, die mit einem Ballettabend und
einer Sinfonie im Halberstädter Dom, einer Jedermann-Aufführung
in der Quedlinburger Stiftskirche und dem als Late-Night-Programm
etablierten musikalisch-literarischen Nach(t)schlag
in den Theatercafés den unmittelbaren Kontakt zum Publikum
auch abseits der Rampe sucht. Aufs Publikum zugehen ist die Devise
der Theatermacher in einer Region, die mit überdurchschnittlich
hoher Arbeitslosigkeit zu kämpfen hat.
Neue Akzente werden daher auch besonders im Hinblick auf das junge
Publikum gesetzt. Die bewährte Tradition fort- und weiterzuführen
und gleichzeitig Lust auf ungewöhnliche und assoziative Sichtweisen
zu wecken, ist dabei wichtiger Bestandteil. Dieser Ambition entsprechend,
werden auch zeitgenössische Produktionen in den zwei angegliederten
Studiobühnen angeboten, so etwa die von der jungen Berliner
Regisseurin Kristina Wuss erfolgreich in Szene gesetzte Monooper
Anne Frank von Grigori Frid, die gemeinsam mit den Jugendlichen
im Theater vor- und nachbereitet wird. Freilich weiß man am
Nordharzer Städtebundtheater um die Schwierigkeiten, gerade
junges Publikum für die Oper zu begeistern; umso mehr setzen
Metzger und Oppermann auf Vermittlung und die seit letztem Sommer
im Aufbau befindliche Theaterpädagogik. Mit einer neu engagierten
Pädagogin wurden in Halberstadt und in Quedlinburg jeweils
zwei Jugendclubs gegründet. Es findet zudem eine staatlich
anerkannte Lehrerfortbildung mit Theaterworkshops statt, ebenso
ein regelmäßiger Lehrerstammtisch. Darüber hinaus
rief man das erste regionale Schülertheatertreffen ins Leben
und initiierte unter dem Motto Theater fürs Volk
eine Kooperation mit den Volkshochschulen. In verschiedenen Theaterkursen
werden Hintergründe einzelner Produktionen vom Musiktheater
bis zum Schauspiel vermittelt und Einblicke in die Probenarbeit
ermöglicht. Ohne die ungewöhnlich hohe Einsatzbereitschaft
des Ensembles und der Technik wären all diese Vorhaben kaum
zu realisieren, bei denen es gilt, Bildung, Spaß, Unterhaltung
und Anspruch zusammenzuführen. Lebendigen Musikunterricht
versprechen in diesem Sinne auch die neu ins Leben gerufenen Jugendsinfoniekonzerte:
Das erste, bei dem anhand von Gershwins Ein Amerikaner in
Paris unter der musikalischen Leitung von Kapellmeister Lutz
Rademacher die Verbindung von Jazz und klassischen Elementen verdeutlicht
wurde, nahm das junge Publikum mit großer Begeisterung auf.
Tannhäuser
Kay Metzger, der als freier Regisseur und zuletzt als Oberspielleiter
in Coburg gearbeitet hat, inszeniert einmal pro Spielzeit; auf die
Realisierung des Tannhäuser Ende letzten Jahres
ist er stolz, zumal er die Oper bis auf die Hauptpartie komplett
mit dem Halberstädter Musiktheaterensemble besetzen konnte
und sowohl Presse als auch Publikum die respektable Leistung und
adäquate Besetzung des Ensembles und des Orchesters einstimmig
gar als Triumph würdigten. Der Chor mit 19 Mitgliedern,
den Metzger als überaus spielfreudig und stimmlich brillant
lobt, und dessen Leistungsfähigkeit er als Keimzelle für
ein derartiges Unternehmen sieht, wurde auf 50 Mitglieder aufgestockt.
Eigens zu diesem Zweck gründete man unter Chorleiter Ulrich
Nolte eine Singakademie, deren Mitglieder nun auch in anderen Opern
mitwirken. Mit dem Tannhäuser möchte die Leitung
bewusst an die Wagner-Tradition Halberstadts anknüpfen. Anlässlich
der Tannhäuser-Neuinszenierung fand ein programmatischer
Kontaktaustausch mit bildenden Künstlern aus der Region statt:
Während der szenischen Proben fertigten Mitglieder des Halberstädter
Kunstforums Zeichnungen an, die im Foyer auf großer Fläche
ausgestellt sind. Im Gegenzug gastierte das Theater mit einer Mammutlesung
bis in die frühen Morgenstunden in der Kunstgalerie. Das
stärkt die Lobby in der Stadt fürs Theater und dokumentiert,
dass die hiesigen Kulturinstitutionen auch in wirtschaftlich schwierigen
Zeiten nicht gegeneinander arbeiten!
In der Kontroverse
Für heftige Kontroversen sorgte die Eröffnungsinszenierung
der Zauberflöte von Oberspielleiter Horst Kupich,
den Metzger aus der Ära Hammer übernommen hat, und der
die Geschichte um Papageno und Pamina im asketischen Dekor einer
Psychiatrie ansiedelte. Ganz bewusst setzte er nicht auf ein überstyltes
Ausstattungskonzept mit märchenhaft Farbigem. Dass Theater
bei aller Annäherung ans Publikum auch streitbar sein muss,
darüber sind sich Metzger und Oppermann einig und verteidigen
leidenschaftlich die Strategie, auch mal irritieren zu wollen, denn:
Das schafft neue Denkanstösse. Provokation um der
Provokation willen jedoch wird kategorisch abgelehnt.
Die junge Tanzreihe
Ein besonderes Anliegen der Theaterleitung besteht in der Etablierung
der jungen Tanzreihe im Studio. Mit Ballettdirektor Tarek Assam
werden neben den klassischen Choreografien im Großen Haus
Projekte entwickelt, die eine spannende Synthese aus Ballett und
neueren Tanzformen beinhalten und bereits überregionale Resonanz
erfahren; die Bach-Reflexionen Ich folge dir gleichfalls mit
freudigen Schritten wurden gerade zur Expo nach Hannover,
zum Potsdamer Musiksommer und nach Leipzig eingeladen. Jüngstes
Projekt ist das Tanzstück Blue Notes, inspiriert
von Edward Hoppers Gemälde Nighthawks. Noch während
der Proben sind versatzstückartige Texte entstanden, die durch
die Arbeit im Ballettsaal angeregt und in die Choreografie eingeflochten
wurden. Herausgekommen ist als Uraufführung ein ungewöhnlicher
Tanzabend, der das bekannte Werk Hoppers in Bewegung umsetzt und
sich gleichzeitig wieder von dem Bild löst, um eigene Bilder
zu finden; ein Abend, der mit Bewegungen, Stimmungen, Stimmen und
Instrumenten spielt und, begleitet von einer Live-Blues-Band, Geschichten
über das Alleinsein vermittelt, die, so unvermittelt und banal,
wie sie beginnen, auch wieder enden.
Präsenz in der Stadt
Dass das Theater genügend Freiraum für derartige Experimente
und spontane Projekte abseits von dispositionellen Zwängen
lassen muss, steht für den Intendanten und seinen Chefdramaturgen
außer Frage. Nicht zuletzt vor diesem Hintergrund wurde auch
die Entscheidung getroffen, als Musicalposition Robert Wilsons skurrile
Rockoper The Black Rider mit dem Musiktheaterensemble
und eigenen Orchestermitgliedern zu realisieren ein wegen
seines Assoziationsreichtums faszinierendes Werk, das zwar inzwischen
landauf, landab gespielt würde, in dieser Region aber wegen
des geringen Bekanntheitsgrades und der offenen Form durchaus ein
Wagnis sei, das man jedoch gerne eingehe. Entscheidend,
so Metzger, ist für uns eine ausgeglichene Spielplanpolitik,
die die Balance zwischen Neuem und bewährter Klassik hält
und dabei vor allem Vielfalt bietet. So stehen Hoffmanns
Erzählungen ebenso auf dem Programm wie Rossinis Aschenbrödel.
Der neue Schauspieloberspielleiter Malte Kreutzfeldt hat mit Dale
Wassermans Stück Einer flog über das Kuckucksnest
und Werner Schwabs Radikalkomödie Die Präsidentinnen
zwei vielbeachtete und vieldiskutierte Inszenierungen herausgebracht.
Nils
Schneider
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