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Schwerpunkt: Operette

Geniales Kreativteam

Die „Savoy Operas“ von Gilbert & Sullivan sind hierzulande immer noch zu entdecken

Von Juan Martin Koch

Oper oder Operette? Beinahe wäre der transatlantische Premierencoup der „Pirates of Penzance“ an dieser Frage gescheitert. Den USA-Triumph des Vorgängerwerks „H.M.S Pinafore“ im Blick und in der Hoffnung, sich so die amerikanischen Urheberrechte zu sichern, hatten Librettist William Schwenck Gilbert, Komponist Arthur Sullivan und Impresario Richard D’Oyly Carte die Uraufführung ihres neuen Geniestreichs für Silvester 1879 in New York angesetzt. Doch die ortsansässigen Musiker – offenbar mit einigem Sachverstand für Stil und Qualität ausgestattet – drohten die Arbeit einzustellen, es sei denn, sie würden besser bezahlt. Das neue Werk sei, musikalisch betrachtet, große Oper, nicht Operette, so die Argumentation. Auf diese Diskussion konnte und wollte Sullivan sich nicht einlassen. Vielmehr beendete er diese kurzerhand, indem er behauptete, das Orchester der Londoner Covent Garden Opera wäre jederzeit zur Anreise bereit und bis zu deren Eintreffen würden er und sein Assistent Alfred Cellier die Vorstellungen einfach mit Klavier und Harmonium begleiten…

Oper oder Operette? Diese interessante, für den Komponisten durchaus schmeichelhafte Frage stellt sich heute nur noch bedingt. Der Großteil seiner zusammen mit W.S. Gilbert geschriebenen Werke gehört im angelsächsischen Kulturraum zum Grundbestand einer Theatertradition, in der die Grenzen zwischen ernsten und unterhaltenden Genres durchlässiger sind als hierzulande. Doch wie konnten Gilbert & Sullivan, so das bald gängige Kürzel für das erfolgreiche Duo, zum Synonym für geistreiches, auf textlich wie musikalisch höchstem Niveau unterhaltendes Musik-
theater werden? Ein Blick auf die „Pirates of Penzance“ mag eine grobe Orientierung bieten, denn in ihrem fünften Gemeinschaftswerk hatten die beiden bereits viele jener inhaltlich-dramaturgischen und musikalischen Ingredienzen entwickelt, die sich fortan, kreativ variiert, immer wieder bewähren sollten.

Im Londoner Savoy Theatre finden heute Theater- und Musicalaufführungen statt. Foto: Juan Martin Koch

Im Londoner Savoy Theatre finden heute Theater- und Musicalaufführungen statt. Foto: Juan Martin Koch

Die Handlung nimmt – ohne in radikal-subversivem Sinne Satire zu sein – englische Gesellschaftsverhältnisse und/oder einen bestimmten Berufsstand auf spöttische bis zynische Weise aufs Korn. In diesem Fall entpuppen sich Piraten als Adelige auf Abwegen und Polizisten als wenig effiziente Ordnungshüter. Das Auftrittslied der Letzteren spielt mit seinem „Tarantara“ auf die Carabinieri in Jacques Offenbachs „Banditen“ an. Die amouröse Komponente zeichnet sich dadurch aus, dass die Musik die Gefühle der Liebenden ernster nimmt, als der Text dies suggeriert. Das Duett Mabel/Frederic „Ah, leave me not to pine“ ist ein wunderbares Beispiel dafür, wie Sullivan dies erreicht, ohne in oberflächlich-sentimentales Operettengeseufze abzugleiten. Dieses Duett und Mabels mit Koloraturen zart dekoriertes „Poor wand’ring one“ sind typisch für die vokalen Anforderungen, die Sullivan in der Regel an das junge Liebespaar stellt. Sie sind höher als für die übrigen, meist humoriger angelegten Partien. Für sie kommen auch singende Schauspieler in Frage, bei denen es auf Genauigkeit der Diktion mehr ankommt als auf Stimmvolumen.

In ihrem fünften Gemeinschaftswerk hatten die beiden bereits viele jener inhaltlich-dramaturgischen und musikalischen Ingredienzen entwickelt, die sich fortan, kreativ variiert, immer wieder bewähren sollten.

Das Paradebeispiel aus den „Piraten“ ist die Rolle des Major-Generals Stanley, die neben vielen ähnlichen Partien vom legendären George Grossmith aus der Taufe gehoben wurde. Das Auftrittslied „I am the very model of a modern Major-General“, in dem dieser wortreich seine mannigfaltigen Kenntnisse in sämtlichen nicht-militärischen Bereichen herunterrattert, ist der berühmteste jener zungenbrecherischen „Patter-Songs“, von denen beinahe jede der Opern von Gilbert & Sullivan einen enthält. Vor einigen Jahren zeigte eine köstliche Szene im dritten Teil der Animationsfilm-Serie „Despicable Me“ („Ich – Einfach unverbesserlich“), wie tief dieses Repertoire auch ins popkulturelle Gedächtnis eingesunken ist: Hier geben die Minions in einer Talentshow den „Major-General’s Song“ in der ihnen eigenen Kauderwelsch-Sprache zum Besten. Wie viele der Songs und Arien bei Gilbert & Sullivan enthält auch dieser einen Part für den Chor, der in beinahe allen ihren Werken eine tragende Rolle spielt. Dabei kann er nicht nur in eigenständigen Nummern glänzen, sondern stellt immer wieder auch ein Gegenüber für die Solisten dar.

Alle dreizehn in der instrumentalen Stimmung fein und immer wieder neu charakterisierten Werke der gemeinsamen Serie beweisen, dass der unter anderem in Leipzig ausgebildete Arthur Sullivan zweifellos der bedeutendste englische Komponist nach Purcell und vor Elgar gewesen ist. Neben der Qualität seiner Partituren und dem sprachlichen Witz der enorm situationskomischen Gilbertschen Textbücher hatten die Produktions- und Vermarktungsbedingungen einen maßgeblichen Anteil an der Erfolgsgeschichte der so genannten „Savoy Operas“ der Beiden. Richard D’Oyly Carte, mit ebenso viel Theaterinstinkt wie wirtschaftlichem Gespür gesegnet, hatte nach den ersten Erfolgen des von ihm zusammengebrachten Kreativteams den Theaterneubau auf dem Gelände des alten Savoy Palastes im Londoner West End in Auftrag gegeben. Seit der Eröffnung 1881 feierten alle acht weiteren Gilbert-&-Sullivan-Stücke ihre Premiere im Savoy Theatre. Cartes Kalkül, den bis dahin in England führenden Offenbachiaden eine spezifisch englische Form der „Comic Opera“ entgegenzustellen, war grandios aufgegangen.

Wenig effiziente Ordnungshüter: „Die Piraten von Penzance“ an der Staatsoper Nürnberg. Foto:  Bettina Stöß

Wenig effiziente Ordnungshüter: „Die Piraten von Penzance“ an der Staatsoper Nürnberg. Foto: Bettina Stöß

Entscheidend für die Verbreitung der Werke war fortan und über den Tod der drei Macher hinaus die D’Oyly Carte Opera Company, wobei bis zum Auslaufen des Copyrights nach einem cleveren Modell verfahren wurde: Die Rechte für professionelle englischsprachige Umsetzungen behielt sich die Company vor, ermöglichte aber gleichzeitig Produktionen von Amateurtruppen, was die Popularität der Werke enorm beförderte. Die ab 1917 bis in die frühen 1960er-Jahre entstandenen D’Oyly-Carte-Einspielungen geben einen guten Eindruck von deren Aufführungstradition. Sängerisch und instrumental übertroffen werden sie von den brillanten Aufnahmen unter Charles Mackerras aus den 1990ern, die allerdings auf den gesprochenen Text verzichten.

Im deutschsprachigen Raum hat sich diese herrliche Werkgruppe trotz zahlreicher Produktionen in den frühen Erfolgsjahren leider nie so recht durchsetzen können. Als zu hoch wurde offenbar immer wieder die Hürde angesehen, den Sprachwitz und den speziellen britischen Humor zu übersetzen. Einzelne Produktionen, zuletzt die der „Piraten von Penzance“ am Staatstheater Nürnberg, haben allerdings bewiesen, dass dies durchaus möglich ist. Jederzeit denkbar und lohnend wäre eine Gilbert-&-Sullivan-Gala mit großem Choranteil, die von einer launigen, die teils aberwitzigen Plots andeutenden Moderation zusammengehalten werden müsste. Ein solcher Abend könnte, neben den erwähnten Stücken aus den „Pirates“, vielleicht folgende Nummern in der Originalsprache enthalten: Zum Einstieg zweier Programmhälften wären die in diesen Fällen von Sullivan selbst geschriebenen, zwischen Weberscher Klarinettenpoesie und Wagnerschem Pomp romantisch funkelnden Ouvertüren zu „Iolanthe“ und „The Yeomen of the Guard“ denkbar; aus „H.M.S. Pinafore“ könnten der Eröffnungschor „We sail the ocean blue“ und das Auftrittslied des trotteligen Captains samt dem sprichwörtlich gewordenen Dialog mit dem Chor „What, never? … Well, hardly ever!“ Laune machen; der genialste aller Patter-Songs ist das „When you’re lying awake“ aus „Iolanthe“, auch als „Nightmare Song“ bekannt; das Quartett „The world is but a broken toy“ und die Händel-Persiflage „This helmet I suppose“ sind musikalische Juwelen aus „Princess Ida“; ein schönes Beispiel für eine der vielen musikalisch mehr denn szenisch dankbaren Mezzosopranrollen und die Integration des in diesem Fall rein männlichen Chores ist das „When our gallant Norman foes“ aus den „Yeomen“.

Aus dem tiefschwarzhumorigen „Mikado“, bei dem allein das Lesen der Inhalts-angabe dazu angetan ist, einem eisige Lachtränen in die Augen zu treiben (und bei dem eine szenische Umsetzung heute enormes transkulturelles Fingerspitzengefühl aufbringen müsste), drängt sich gleich eine Fülle von Glanzstücken auf: Nach den drei ersten Nummern mit Chorbeteiligung dürften das berühmte „Three little maids“ und das Quartett „So please you, Sir“ nicht fehlen. Das komplette Finale des ersten Akts würde Sullivans Meisterschaft im Gestalten einer solchen Nummernfolge zeigen, und aus dem zweiten Akt gäbe es auch so manch Geistreiches: Yum-Yums Song „The sun whose rays“, das vierstimmige Madrigal „Brightly dawns our wedding day“, das Trio „Here’s a how-de-do!“, das Patter-Duett „There is beauty in the bellow of the blast“ … Es ist des Vergnügens kein Ende.

Endlich war aber dann doch die Zusammenarbeit zwischen Arthur Sullivan und William Schwenck Gilbert. Immer wieder hatte der Komponist von den wirtschaftlich enorm lukrativen, aus seiner Perspektive aber nicht durchweg dankbaren Koproduktionen Abstand gesucht. Dies war nur verständlich, schließlich hatte Gilbert, für einen Librettisten eher ungewöhnlich, auch in musikalischen Fragen häufig das letzte Wort. Der Regisseur Mike Leigh hat dieser in vielerlei Hinsicht einzigartigen Arbeitsbeziehung in seinem Film „Topsy-Turvy“ von 1999 ein gelungenes, weil echte Musiktheaterluft atmendes Denkmal gesetzt. Nach den weniger durchschlagenden Werken „Utopia Limited“ (1893) und „The Grand Duke“ (1896) war sie endgültig Geschichte. Eine Ära ging damit zu Ende, die jedoch in weiteren Savoy-Operas anderer Autoren und dann in mancherlei Hinsicht im Musical eine Fortsetzung und Weiterentwicklung finden sollte.

 

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