Editorial
Tarifdilemma
Seit nunmehr 35 Jahren führe ich Tarifverhandlungen – mehr oder weniger regelmäßig, in verschiedensten Bereichen der Kultur- und Medienbranche, auf beiden Seiten des Tisches. Und in aller Regel ist das ein sehr mühseliges Geschäft. Das ist zum Einen in der Sache begründet: geht es doch in aller Regel darum, sehr divergierende Interessen in einer mehr oder weniger großen Schnittmenge zum Einklang zu bringen. Einfachstes Beispiel: Vergütungsverhandlungen in der Privatwirtschaft. Die Arbeitnehmer/innen reklamieren einen Teil des vom Unternehmen realisierten Mehrwerts ihrer Arbeit für sich, die Arbeitgeber/innen wollen möglichst viel davon behalten. Kann man sich nicht einigen, kommt es zum Arbeitskampf – die Sachdiskussion wird zum Machtspiel degradiert, in dem beide Seiten Federn lassen müssen.
Tobias Könemann. Foto: Pascal Schmidt
Der andere große Erschwernisfaktor ist der psychologische: Auch wenn die gemeinsamen Interessen meist schon zu Verhandlungsbeginn relativ klar sind, begegnen sich die Parteien doch immer wieder mit Misstrauen, das – insbesondere bei den ehrenamtlichen Mitgliedern der Tarifkommissionen – leicht zu einer Art „Feindbild“ kumulieren kann. Damit aber wird die optimale Klärung der, insbesondere bei Manteltarifverhandlungen, häufig sehr komplexen Sachfragen massiv erschwert. Die Diskussion rutscht ins Taktieren ab; die divergierenden Interessen werden emotional angereichert und verdrängen den konstruktiven Blick auf das Gemeinsame; statt mit Angeboten begegnet man sich mit Drohungen. Am Ende steht statt einer objektiv sachgerechten Lösung oft ein Kompromiss, und der kann ja, wie jede/r weiß, auch einmal „faul“ sein.
Von sehr unterschiedlichen Erwartungshaltungen und wachsendem beiderseitigem Argwohn sind auch die derzeitigen Manteltarifverhandlungen zum NV Bühne geprägt und belastet. Die Gewerkschaften haben ein sehr beherztes Forderungspaket in den Ring geworfen, um den in die Jahre gekommenen NV Bühne noch einmal auf Trab zu bringen, der Bühnenverein fürchtet den Erstickungstod des Theaters durch das Ende künstlerischer Freiheit und enorme Mehrkosten und rudert nach jedem angedachten Zugeständnis mit doppelter Kraft zurück. Hinter diesen Positionen haben sich die Tarifparteien mittlerweile geradezu verschanzt. Die anfangs vielfach durchaus konstruktive Diskussion hat sich dadurch zunehmend zu einem aneinander Vorbeireden entwickelt, das von Runde zu Runde ein positives Ergebnis in weitere Ferne zu rücken scheint – die Annahme der berühmten „Sackgasse“ liegt nahe.
Der Segen der Tarifautonomie scheint sich hier zum Fluch zu wandeln. Was also tun? Die in solchen Fällen üblichen Machtspiele, genannt „Arbeitskampf“, in Gang setzen? Das hätte den Vorteil, dass endlich eine erhöhte Wahrnehmung der prekären Arbeitssituation in vielen Theatern in der Öffentlichkeit und damit auch bei den politisch Verantwortlichen in Ländern und Kommunen entstände. Inhaltliche Lösungswege würden dadurch aber allenfalls indirekt eröffnet. Oder – zumindest zeitweise – sachverständige, aber interessenneutrale Dritte in den Verhandlungsprozess einbinden, sei es, um die Kommunikationsblockade zu überwinden, sei es, um sogar inhaltlich neue Impulse zu erhalten? Derartiges gibt es ja im Tarifrecht; man nennt es Schlichtung, und es funktioniert oft gut, wenn es um primär finanzielle Aspekte geht. Bei derart komplexen Fragen wie dem derzeitigen Verhandlungsthema „Arbeitszeit der künstlerisch Beschäftigten“ jedoch sind Zweifel angebracht. Eine Lösung wird daher wohl – losgelöst vom eigentlichen Verhandlungsverlauf – am ehesten auf der Meta-Ebene der Willensbildungsprozesse der Tarifparteien zu suchen sein.
Das alles darf nicht als Plädoyer gegen die Tarifautonomie verstanden werden! Mit ihr öffnet das Grundgesetz in diesem Land, das ansonsten vielfach unter der Enge der staatlichen Regulierungssysteme ächzt, einen grandiosen Freiraum dafür, dass diejenigen, die von Regelungen betroffen sind, diese auch selbst gestalten können. Diese Freiheit setzt aber – wie jede Freiheit – auf allen Seiten ein ausgeprägtes Verantwortungsgefühl voraus. Und das ist durchaus noch entwicklungsfähig.
Tobias Könemann
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