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Berichte
Erstklassiges Freilichttheater
Neues und Aufgefrischtes bei den Bregenzer Festspielen
Die „Werkstatt“ war ja lange Jahre mit den Bayreuther Festspielen verbunden: die Möglichkeit, eine über meist vier Jahre angesetzte Inszenierung überarbeiten zu können. Das gelang diesen Sommer in Bregenz dem Team um Regisseur Andreas Homoki. Seine letztjährige Premiere „Madama Butterfly“ wurde ja durch ein Unwetter unterbrochen und für rund 1.200 Hauskarten-Besitzer im Festspielhaus durchaus intensiv zu Ende gespielt. Nun aber: einer jener fabelhaften Bregenzer Seeabende – und eine verfeinerte, intensivierte Wiederaufnahme. Da war mit der erneuert-erweiterten Lichtanlage eine ausdifferenzierte Lichtregie zu erleben. So gelang der Brautjubel bei Butterflys Auftritt hell strahlend und verdüsterte sich drückend zum Fluch des Onkels Bonze. Dramaturgisch und optisch anrührender dann der bühnenweite, förmlich duftend-atmende rosa Blumen-Regen Butterflys für den zurückkehrenden Pinkerton – der sich in verblüht-graue Ödnis wandelte. Die Geister-Ahnen-Chöre waren fließender als Ergänzung der Haupthandlung eingearbeitet. Das abermals verbesserte BOA-Sound-System war nur in den ersten Minuten „aussteuernd“ zu hören – dann konnte Conductor-in-residence Enrico Mazzola erst den Summ-Chor fein und dann die anfangs hochemotionalen, zunehmend schmerzlichen und schließlich quälend todesverschatteten Ausbrüche als tönend überwältigendes Klanggemälde gestalten (Chorleitung Lukáš Vasílek und Benjamin Lack). Über den jubelnden Beifall für alle Solisten hinaus wurde die usbekische Sopranistin Barno Ismatuallaeva mit einer Ovation gefeiert: ihre mädchenhafte und immer stil-bewusste Annäherung an den „Traummann“ aus den USA, das fast schon die Enttäuschung ahnende, übersteigerte Sehnen und dann die rigide Entschlossenheit zur Selbsttötung mit dem Todesmesser des Vaters – dieser Bogen steigerte sich schrittweise bis hin zum leidenschaftlichen Strahlen eines förmlich glühenden Sopran – Puccinis Klassiker war wie neu und eindringlich und als keineswegs nur historisches Frauenschicksal zu erleben. Und als dann das bühnenbild-große japanische Briefblatt am Ende in Flammen aufging: Da war erstklassiges Freilicht-Theater zu erleben, nahe an einem Cinemascope-Opernrausch.
„Madama Butterfly“. Foto: Bregenzer Festspiele/Anja Köhler
Wann erlebt der Opern- oder Verdi-Freund schon den 1844 uraufgeführten „Ernani“? Diese dunkle Ehre-Schwur-Rache-Handlung, in dem drei Männer eine Frau begehren, von denen einer schließlich Kaiser Karl V. wird. Nötig sind da vier herausragende Stimmen. Ohne Etat für Stars hatte der neue Künstlerische Betriebsdirektor Michael Csar im Festspielhaus engagiert: mit Goran Jurić einen herrlich strömenden Bass als den tödlichen Racheengel Don Silva, einen Hünen, der sich stimmlich locker aus dem ihm verordneten rollenlosen Schreitstuhl erhob und die Schlafmütze auf dem Kopf vergessen machte; mit Guanqun Yu einen ebenso herrlich strahlenden, echten Verdi-Sopran für die von drei Männern begehrte Elvira. Dann wurde die Reihenfolge schwer: Da stand mit Saimir Pirgu ein schlank-rank-agiles Mannsbild mit virilem Ernani-Tenor auf der Bühne, aus beeindruckend tragendem Piano dann mühelos echte Stretta-Power verstrahlend – kontrastiert von einem warm und rund und füllig tönenden Bariton, mit dem Franco Vassallo trotz unsäglicher Kostümierung erst König Carlos und dann Kaiser Karl V. vokale Grandezza verlieh: „Mitleid ist eine erhabene Tugend“, wird ihm vorgehalten – und er handelt mit Verdis anrührendem Melos danach. Vokal und orchestral gab Enrico Mazzola diesem frühen Verdi alle wünschenswert heftigen Emotionen. Dazu ließ dann Regisseurin Lotte de Beer verlauten, dass sie die Musik „geil“ finde, Verdis „Hmmtata“ lustig – und entlarvte sich als zunehmend heillos überschätzte Inszenatorin: Über wechselnden Parteien kaum zuzuordnendes Kampf-Geturne der Stunt-Truppe, goldene Papier-Kronen, Holzschwerter und spritzendes Bühnen-Blut, ein Kostüm-Nirgendwo bis zur Unsäglichkeit, schließlich König und Kaiser höchst unvorteilhaft mit nacktem Schweiß-Oberkörper. De Beer verwechselte „Ernani“ mit Jarry/Pendereckis „König Ubu“; von dem für die Handlung unverzichtbaren, rigoros inhumanen männlichen Moral- und Ehrenkodex – heute etwa noch in Söldner- oder Mafia-Strukturen zu erleben – war den Abend über nichts zu erleben. Also kein auf Festspielniveau innovativ interpretierendes Musiktheater – vielmehr: Augen zu – und musikdramatisches, musikalisch-vokales Verdi-Glück.
Vokal strahlte auch einiges in der diesjährigen „Werther“-Produktion, indem Bregenz jungen Begabungen durch rollen- wie berufserfahrene Mentoren vertieftes Ausprobieren ermöglicht. Während die Inszenierung von Jana Vetten nur durch zunehmende Abstraktion im zweiten Teil überzeugen konnte und Dirigentin Claire Levacher allzu oft Fortissimo musizieren ließ, verbreitete Sopranistin Sarah Shine als Sophie wirklichen Klang-Sonnenschein; sie war ein fröhlicher Kontrast zu der schlank-schönen, leidenschaftlichen, ja stürmisch-emotionalen Charlotte der Kanadierin Kady Evanyshyn – ihren hellen, bei Edith Wiens an New Yorks Juilliard ausgebildeten Mezzo hat sich schon die Hamburgische Staatsoper gesichert.
Über die Vielfalt an Konzerten hinaus konzentrierte sich dann das Musiktheaterinteresse auf die jährliche Uraufführung, diesmal in der Werkstattbühne „Die Judith von Shimoda“. Die nüchternen Fakten zu einem historischen Frauenschicksal von 1856: Die Edel-Geisha Okichi hatte der brachialen US-Drohung, die Häuser ihres Heimatorts Shimoda durch Kriegsschiffe in „brennende Laternen“ zu verwandeln, ihren anscheinend bezaubernd heiteren Gesang entgegengesetzt und die quälenden Magenkrämpfe des tobenden US-Konsuls mit Kuhmilch so beruhigt, dass die Verhandlungen zu einem unblutigen Abschluss kamen. Diesem Leuchten eines „Sieges durch Kunst“ folgte Düsteres. Aus dem heute absurd anmutenden, damaligen japanischen Kulturgebot „Kein Melken von Vierbeinern – keine Milch“ erwuchs moralische, gesellschaftliche und soziale Ausgrenzung der „Amerikaner-Okichi“; zu späte Hilfe lehnte sie stolz als „stinkenden Anstand“ ab und starb im Elend. Also: dramatisch bestechendes „Bühnen-Futter“.
„Die Judith von Shimoda“. Foto: Bregenzer Festspiele/Anja Köhler
Doch statt sofort zugänglicher Emotionen hat Fabián Panisello verhirnt konstruierte Klänge komponiert. In den 100 pausenlosen Minuten wurde musikdramatisch etwa im ersten Teil keine Heldentat-Musik hörbar, zu der dann eine finale Schicksalsklage oder gar späte Gloriole kontrastieren könnte. Leider sind alle Singstimmen, auch der teils solistisch geforderte Chor (Wiener Kammerchor) im dramatisch kaum nachvollziehbaren Diskant-Sprung-Nicht-Melodie-Duktus komponiert.
Nirgendwo stellt sich emotionaler Zugang ein, auch wenn unter Walter Kubéras Leitung vom „amadeo ensemble wien“ engagiert musiziert wurde… Da konnte auch die Inszenierung von Carmen C. Kruse nichts retten. Völlig ins visuelle Abseits führten die Kostüme von Ausstatterin Susanne Brendel: erlesene Hässlichkeit heutigen Szene-Schicks, von unvorteilhaft bis desavouierend. So beeindruckte inmitten eines guten Solisten-Ensembles nur die in sich selbst ruhende Entschlossenheit, mit der Anna Davidson die Okichi gestaltete: Da war ein großes Thema zu ahnen, das einen anderen Text und eine andere Komposition verdient hätte. Doch 2024, die letzte Saison von Intendantin Sobotka, bietet ja mit Webers „Freischütz“ auf der Seebühne, mit Rossinis „Tancredi“ im Festspielhaus und dann eben einer Novität neue Chancen.
Wolf-Dieter Peter |