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Schwerpunkt: Operette

Schleppende Aufarbeitung

Das Genre „Heiteres Musiktheater“ in der DDR – und danach

Von Roland H. Dippel

Beim Symposium „Operette und der Osten“ in der Staatsoperette Dresden am 17. Juni 2023 trafen sie wieder einmal aufeinander: Wolfgang Jansen, einer der Drahtzieher der Gesellschaft für unterhaltende Bühnenkunst in den 1990er-Jahren und heute des Online-Musicalführers auf der Plattform „Musicalzentrale“, Stefan Frey, Redakteur des „Operetten-Boulevard“ des Bayerischen Rundfunks, Kevin Clarke, der Verteidiger und Aufstöberer queerer Aspekte in Operette und Musical, Daniel Hirschel, Operetten-Kosmopolit und -Propagandist aus Leidenschaft sowie der Verfasser dieses Plädoyers. Ihnen allen geht es um ein dringliches Thema an der Schwelle zum Vergessenwerden: das Heitere Musiktheater der DDR.

Zu DDR-Zeiten nannte man die Werkgruppe „Heiteres Musiktheater“ als Trennlinie zwischen Werken sozialistischer Provenienz und der „volksnahen Dekadenz“ des Westens. Man unterschied in der Rezeption aller vor 1945 und im Westen nach 1945 entstandenen Werke zwischen „progressiven“ und „reaktionären“ Wertmerkmalen. Alle Operetten von Jacques Offenbach zählten zur „progressiven“ Gruppe, während das Theorie-Modell des Sozialistischen Realismus vom Verfall der bürgerlichen Gesellschaft ausging und deshalb zum Beispiel alle Spätwerke von Franz Lehár als triviale Auswüchse der „kapitalistischen Verblödungsindustrie“ betrachtet wurden (DDR-Chefideologe Kurt Hager). Zum Heiteren Musiktheater zählten in der DDR die Gattungen Operette (auch Fassungen für Schauspieler), Musical und Musikalisches Lustspiel. In den letzten DDR-Jahren summierte man zur Werkgruppe auch Sonderformen wie Rockmusicals oder Musicals der Kinder- und Jugendtheater. Aber im Westen gängige Betriebsformen wie Tourneetheater, freie Theater, Projekt- oder Gastierensembles gab es in der DDR nicht. Über 200 Titel entstanden seit deren Gründung 1949 bis zum Fall der Mauer 1989.

Systemkritische Konstellationen, die sich aus dem stummen Komplizentum zwischen Theaterschaffenden und Publikum ergaben, verschwimmen heute durch den immer grösseren Zeitabstand zu den politischen Bedingungen des DDR-Theaters.

Nur wenige Titel sind noch bekannt: „Messeschlager Gisela“, Gerd Natschinskis zwischen Operette und Musical stehendes Schwellenwerk aus dem Jahr 1960 über die Konkurrenz von ost- und westdeutschen Modefirmen, spielt auf der Leipziger Messe. „Mein Freund Bunbury“ nach der Komödie von Oscar Wilde, ebenfalls von Natschinski, erreichte Kultstatus. „In Frisco ist der Teufel los“ kam an der Musikalischen Komödie Leipzig im Jahr 2015 zum 101. Geburtstag ihres Komponisten Guido Masanetz nochmals zu Bühnenehren. Dort reanimierte man im Corona-Herbst 2020 auch Gerhard Kneifels „Bretter, die die Welt bedeuten“ nach Franz und Paul von Schönthans „Der Raub der Sabinerinnen“. Erwähnenswert ist die Produktion von Dieter Brands und Harry Sanders „Prinz von Preußen“ nach der Geschichte des „Hauptmann von Köpenick“ (Herbst 2023, Theater Görlitz) sowie vor einigen Jahren Natschinskis musikalisches Lustspiel „Servus Peter“ und dessen Filmmusical „Heißer Sommer“ in der Einrichtung für Open-Air-Produktionen des Volkstheaters Rostock und des Eduard-von-Winterstein-Theaters Annaberg-Buchholz im Naturtheater Greifensteine.

Eigentlich müssten sich Kultur- und Geschichtswissenschaften auf das Heitere Musiktheater der DDR stürzen, weil es alle Merkmale einer epochalen Gattung mit spezifischen Gesetzmäßigkeiten erfüllt. Mit einem subtilen Bezugssystem zu den in subversiven und populären Ambientes entwickelten Formen des Westens und der Vergangenheit entstanden in der DDR Erfolge und Totgeburten. So erlebte Herbert Kawans „Die Abenteuer der Mona Lisa“ nur eine einzige Inszenierung am Volkstheater Rostock (1960), wo unter anderem ein politisch linientreuer Spielplan im Heiteren Musiktheater dem Intendanten Hanns Anselm Perten seine West-Gastspiele des Schauspiels ermöglichte. Der Erfolg von Siegfried Schäfers „Verlieb dich nicht in eine Heilige“ (1969) beruhte vielleicht nur darauf, dass ein Rhythmusmodell aus dem „dekadenten“ Westen zur abschreckend gemeinten Charakterisierung einer korrupten Adelsgruppe eingesetzt wurde. Aber der Biterolf-Beat war in mindestens zwölf Inszenierungen der umjubelte Hit und Höhepunkt. Solche systemkritischen Konstellationen, die sich aus dem stummen Komplizentum zwischen Theaterschaffenden und Publikum ergaben, verschwimmen heute durch den immer größeren Zeitabstand zu den politischen Bedingungen des DDR-Theaters.

Die Entstehung von Conny Odds „Irene und die Kapitäne“, uraufgeführt an der Staatsoperette Dresden (1967), hatte aufgrund der Zusammenarbeit mit der Brigade „Bertolt Brecht“ des VEB Güterkraftverkehr in Dresden als erstes großes Beispiel für die Verwirklichung des Bitterfelder Wegs im Heiteren Musiktheater herausragende Bedeutung. Operette und Musical waren in der DDR Teil des Kulturauftrags und eine feste Position im Spielplan der Musik- und Mehrspartentheater. Alle Bestandteile erst eines paradigmatischen Operetten-, später Musical-Typs wurden in der DDR bei Fachkonferenzen und im Verbandsmagazin „Theater der Zeit“ penibel erörtert: Text, Musik, Tanz, Approximative der Inszenierung, dem Geschichts- und Menschenbild des Sozialismus folgend, sowie Strategien zur Breitenwirkung. Einige DDR-Werke konnten im eigenen Land, einige in den sozialistischen Bruderstaaten, einige auch bei den westdeutschen Nachbarn reüssieren. Das waren Titel wie „Terzett“ (Natschinski), „Karambolage“ (Conny Odd), „Verlieb dich nicht in eine Heilige“ (Siegfried Schäfer) sowie das fast durchkomponierte Musical „Casanova“ (Natschinski). Die Hochphase des Heiteren Musiktheaters der DDR dauerte etwa von 1960 bis Anfang der 1970er-Jahre. Vier Komponisten waren für die Gattung prägend. Herbert Kawan schuf bis 1960 Stücke, welche die Diskussion um Gegenwartsstoffe und deren Bühnentauglichkeit entscheidend beflügelten. Guido Masanetz experimentierte mit verschiedenen Handlungs- und Musikgenres. Conny Odd verlegte sich gemäß der parteilichen Vorgaben überwiegend auf „Geschichten aus dem sozialistischen Alltag“. Gerd Natschinski dagegen, der berühmteste von ihnen, wurde Intendant des Berliner Metropoltheaters und suchte seine Sujets in der Vergangenheit. Helmut Bez und Jürgen Degenhardt waren lange Zeit das erfolgreichste Texter-Gespann des DDR-Musicals.

Seit dem Mauerfall 1989 traten immer wieder Verteidiger und Kulturwissenschaftler mit Neugier auf das Heitere Musiktheater der DDR auf. Viel Aufführungsmaterial landete nach der Wiedervereinigung im Altpapier. Die Bestände des Verlags VEB Lied der Zeit wurden vom Schott Verlag übernommen, der bis heute noch keine breite Kampagne unter Berücksichtigung der historischen und ästhetischen Alleinstellungsmerkmale dieser Werkgruppe durchführte. Dabei sah es um 2000, also zehn Jahre nach dem Mauerfall, gar nicht so schlecht aus für eine Renaissance. Die Neuköllner Oper produzierte „Messeschlager Gisela“ in einer liebevollen Aktualisierung von Peter Lund. Das Theater Cottbus brachte wenig später die Originalfassung in der Regie von Steffen Piontek heraus, der in den kommenden Jahren „Servus Peter“ an den Sächsischen Landesbühnen Radebeul und am Volkstheater Rostock inszenierte. Piontek erinnerte sich Ende Juli 2023: „Natschinski sträubte sich erst lange gegen die Cottbuser Produktion, weil er Recherchen in seiner Vergangenheit vermeiden wollte. Seine Bedenken verflogen mit dem Erfolg.“ Auffällig ist, dass „Mein Freund Bunbury“ als einziges DDR-Musical eine fast lückenlose Aufführungsgeschichte hat – vor allem in den neuen Bundesländern. Die Produktion der Musikalischen Komödie Leipzig hält sich seit 20 Jahren. Die Komische Oper Berlin kündigt für die Spielzeit 2023/2024 eine Neuinszenierung von „Messeschlager Gisela“ an. Wieder also Natschinski. Seit dem Tod von Guido Masanetz im November 2015 verwaltet seine Witwe Sibylle dessen Nachlass. Einen Teil aus diesem überließ sie dem Deutschen Musicalarchiv der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg. In ihrem Haus im Berliner Norden bewahrt Sibylle Masanetz Autographe und Dokumente. Am 28. Juli 2023 schrieb sie: „Im Musikgenre ist eine große Vernachlässigung und Nichtbeachtung der Werke aller DDR-Komponisten zu verzeichnen. Das betrifft nicht nur das heitere Musiktheater, zum Beispiel die Werke meines Mannes, sondern auch Paul Dessau, Gerhard Rosenfeld, Rolf Kuhnert, Georg Katzer und so weiter. Aber auch die älteren Komponisten der alten Bundesländer, zum Beispiel Günter Bialas, sind betroffen.“ Diese Meinung bestätigt in Teilaspekten Steffen Piontek, der als langjähriger Regisseur, Intendant und heute bei der ZAV-Künstlervermittlung ein profunder Kenner ist. Er stellt fest, dass Produktionen ostdeutscher Werke wie Paul Dessaus „Die Verurteilung des Lukullus“ an der Oper Stuttgart Ausnahmerang haben. Im Nationalsozialismus entstandene Operetten wie „Maske in Blau“ oder „Hochzeitsnacht im Paradies“ blieben dagegen in der Nachkriegszeit auf westdeutschen Bühnen Favoritstücke; deren Schöpfer setzten ihr Schaffen nach 1945 ohne größere Zäsuren fort. Dagegen verschwanden nach 1989 so gut wie alle in der DDR entstandenen Operetten und Musicals von den Spielplänen; deren Autoren tauchten zumeist von der kreativen Eigenproduktion in reproduzierende Bereiche ab. Natschinski trat vorwiegend als Dirigent auf, der Textdichter Andreas Knaup („Rockballade“, „Carmagnole“) wurde als Musicalregisseur zum Spezialisten für West-Titel wie „Der kleine Horrorladen“.

Auffallend ist, dass die meisten Protagonist*innen des Heiteren Musiktheaters der DDR nach der Wiedervereinigung kaum eigene Impulse zu dessen Aufarbeitung und Präsenz entwickelten. Initiativen anderer Interessierter wurden von vielen nachsichtig belächelt oder als Übergriff in einen Bereich der eigenen DDR-Identitätsgeschichte empfunden. Fast 35 Jahre nach der Wende eröffnet der zeitliche Abstand jetzt die Chance, dass eine neue Generation sich dem weiten Feld des Heiteren Musiktheaters der DDR widmet. Auf Initiative des aus Bayern stammenden Stefan Klingele kam 2020 unter dessen Musikalischer Direktion an der Musikalischen Komödie Gerhard Kneifels „Bretter, die die Welt bedeuten“ heraus. An anderen Orten konnte Klingele bislang noch keine Mitstreitenden für weitere Entdeckungen aus dem Heiteren Musiktheater der DDR gewinnen. Er visionierte bei einem Gespräch am 20. Juli 2023 eine Liste mit zehn bis zwölf Titeln als repräsentative Schnupper-Auswahl mit epochenspezifischer Signifikanz und verfügbarem Aufführungsmaterial. Auf diese Liste gehören Titel wie „Irene und die Kapitäne“ und „Karambolage“ als „Geschichten aus dem sozialistischen Alltag“ sowie „Verlieb dich nicht in eine Heilige“ von Siegfried Schäfer als Spiegel des sozialistischen Alltags an einer vor-sozialistischen Epoche. „Mein schöner Benjamino“ von Guido Masanetz wäre auf aktuelle Bühnentauglichkeit zu prüfen, weil dieses Stück erst West- und Ost-Urlaubsregionen kontrastierte und vor der Uraufführung 1963 wegen des Mauerbaus offenbar stark umgewichtet wurde. Die Inszenierung von „Prinz von Preußen“ des Theaters Görlitz wäre ein innovativer Anfang zur abenteuerlichen Recherche-Kette über das Heitere Musiktheater der DDR. Eines steht fest: Zeitgeschichtliche Aha-Erlebnisse sind vorprogrammiert.

Lesehinweis:

  • Roland H. Dippel, Artikel „Heiteres Musiktheater: Operette, Musical, Musikalisches Lustspiel“, in: Musikgeschichte Online, hg. von Lars Klingberg, Nina Noeske und Matthias Tischer, 2018ff., online verfügbar.

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