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Kulturpolitik

Auf ein Wort mit Ralf Dörnen

Ballettdirektor und Intendant am Theater Vorpommern

Im Gespräch mit Barbara Haack und Gerrit Wedel

Ralf Dörnen erhielt seine Ballettausbildung am Institut für Bühnentanz in Köln und an der Hamburgischen Staatsoper. Es folgte ein Engagement am Hamburg Ballett bei John Neumeier, ab 1986 als Solist. Von 1993 bis 1997 war er freischaffender Choreograf an zahlreichen Bühnen im In- und Ausland. Seit 1997 ist er Ballettdirektor und Chefchoreograf des BallettVorpommern, für das er über 60 Ballette kreierte. 2009 wurde seine Choreografie zu „Endstation Sehnsucht“ für den Theaterpreis DER FAUST nominiert. 2016 wurde er mit dem Kulturpreis des Landes Mecklenburg-Vorpommern ausgezeichnet. 2021 wurde Ralf Dörnen zum Intendanten des Theaters Vorpommern berufen. Barbara Haack und Gerrit Wedel sprachen mit ihm über seine Doppelfunktion, seine Pläne und aktuelle Herausforderungen.

Oper & Tanz: Sie sind seit 1997 am Theater Vorpommern Ballettdirektor, seit 2021 zusätzlich auch Intendant. In diesen 25 Jahren gab es sehr viele Entwicklungen und kulturpolitische Veränderungen im Land Mecklenburg-Vorpommern. Wie haben Sie diese im Land, aber auch an Ihrem Haus erlebt?

Ralf Dörnen: Wenn ich über die letzten 25 Jahre spreche, dann natürlich als Ballettdirektor. In der Zeit, als ich hier anfing, gab es überall das große Tanzsterben. Wenn eine Sparte abgebaut wurde, war es immer die Ballett- oder Tanzsparte. Vor der Fusion war auch hier in Greifswald gerade die Tanzsparte abgebaut worden. 1994 sind die Häuser Greifswald und Stralsund zusammengelegt worden, und es entstand mit 16 Tänzern wieder ein Ballett am Theater Vorpommern, das ich dann 1997 übernommen habe. Da stand die Schließung der Sparte aber schon wieder kurz bevor. Ich habe damals gesagt: Lasst es mich zwei oder drei Jahre lang versuchen. Das hat offensichtlich geklappt, denn seitdem spricht keiner mehr davon, dass die Sparte geschlossen werden soll, es redet überhaupt niemand mehr über Spartenschließungen. Das war und ist allerdings mit sehr viel Arbeit verbunden.

Ralf Dörnen. Foto: Peter van Heesen

Ralf Dörnen. Foto: Peter van Heesen

Hier in Mecklenburg-Vorpommern hat das Publikum eine ganz besondere Art und Weise, Dinge aufzunehmen. Ich habe oft das Gefühl, dass es intuitiv weiß, ob etwas gut ist oder nicht. Ganz anders als in großen Metropolen, wo sowieso alles immer gut ist, was eine bestimmte Person macht, und eine andere macht es immer schlecht. Ich merke das in Kritiken, wo ich oft eine vorgeformte Meinung finde. Viele Journalisten wollen sich selbst bestätigen in ihren Meinungen, die gucken nicht wirklich hin. Das ist hier, sowohl beim Publikum als auch, wie ich finde, bei den Journalisten anders. Die gehen hin, die sehen sich das an, die lassen sich davon einnehmen oder nicht. Das ist an diesem Publikum hier ganz besonders.

O&T: Wenn Sie sagen, es hat geklappt, dann heißt das, dass tatsächlich auch mehr Publikum in diesen ersten Jahren gekommen ist?

Dörnen: In den ersten vier oder fünf Jahren hat sich das Pub-
likum für die Sparte Ballett ungefähr verzehnfacht. Die Compagnie war allerdings vorher auch in einem desolaten Zustand. Niemand hat sich wirklich darum gekümmert. Da ist man auch als Tänzer nicht sehr inspiriert. Es hat dann drei oder vier Jahre gebraucht, um wieder eine Linie hineinzubringen. Anfangs kam ich in den Ballettsaal, da war eine Mauer um die Tänzer herum. Das Einzige, was man machen konnte, war arbeiten, arbeiten, arbeiten – gar nicht viel erklären. Die Tänzer sollten über die Arbeit sehen, dass ich sie und die Sparte ernst nehme, dass ich meine Arbeit ernst nehme und dass ich sie brauche. Ein Choreograf ohne Tänzer ist gar nichts. Dieses Gefühl muss man den Tänzern geben.

Gerrit Wedel: Ich hatte immer den Eindruck, dass die Publikumsstruktur in Greifswald eine andere ist, dass man viel mehr Möglichkeiten hat, auch an junges Publikum heranzukommen, das vielleicht auch weniger voreingenommen ist. Nehmen Sie wahr, dass man gerade durch den universitären Charakter der Stadt freier ist zu agieren?

Dörnen: Die Städte Greifswald und Stralsund sind sehr unterschiedlich in der Zuschauerstruktur. Wir haben in Greifswald 12.000 Studenten. Das macht natürlich etwas mit der ganzen Stadt. Sie ist einfach offener, lebendiger. Stralsund ist da etwas gesetzter. Dadurch, dass der studentische Anteil der Stadt nahezu 20 Prozent der Einwohnerzahl beträgt, hat die Stadt eine ganz andere Dynamik als Stralsund. Natürlich gibt es dadurch für uns andere Möglichkeiten zu agieren. Aber es ist auch nicht immer leicht. Viele junge Menschen fahren übers Wochenende, wenn wir hier Vorstellung haben, lieber nach Berlin zum Partymachen.

O&T: Wenn wir noch einmal auf die letzten 25 Jahre blicken: Es gab eine Zeit lang konkrete Planungen, Theater zu schließen oder zu fusionieren. Es gab unsägliche Diskussionen, teure Beraterverträge waren im Spiel. Wie schätzen Sie die kulturpolitische Situation in den einzelnen Städten, aber auch im Land, heute ein?

Theater Vorpommern Greifswald. Foto: Peter van Heesen.

Theater Vorpommern Greifswald. Foto: Peter van Heesen.

Dörnen: Wir hatten bis vor drei oder vier Jahren die Diskussion, dass Greifswald-Stralsund-Putbus auch noch fusionieren sollte mit Neubrandenburg-Neustrelitz, eine unsägliche Kombination mit 140 Kilometern zwischen den Spielstätten. Auch als Ballettdirektor habe ich dagegen gekämpft. Ich habe damals ein großes Interview gegeben, in dem ich die Politiker direkt angegriffen habe: Alle sagen immer, Kultur sei wichtig, und dann machen wir hier in diesem Land ein Kulturcatering, das eigentlich nicht mehr zu unterbieten ist, bei dem in fünf Städten das Gleiche läuft, obwohl die Bühnen und die Zuschauerstrukturen ganz unterschiedlich sind. Diese Fusion ist abgeblasen worden, und wir haben jetzt in beiden Städten in der Bevölkerung einen sehr guten Rückhalt.

O&T: Macht sich das auch bei der Sanierung des Greifswalder Theaters bemerkbar?

Dörnen: Ja, die Bürgerschaft hat dreimal hintereinander mit großer Mehrheit beschlossen, dass wir eine Interimsspielstätte bekommen, die sehr teuer ist: ein Theaterzelt, das an den Museumshafen gestellt werden soll. Die Bevölkerung will diese große Interimsspielstätte haben. In Stralsund spüren wir diesen Rückhalt auch, dort wurde das Haus schon vor zehn Jahren saniert.

O&T: Sie haben diese besondere Situation mit drei Spielstätten, mit unterschiedlichen Publikumsstrukturen. Bespielen Sie tatsächlich diese Städte auch unterschiedlich?

Theater Vorpommern Stralsund. Foto: Peter van Heesen

Theater Vorpommern Stralsund. Foto: Peter van Heesen

Dörnen: Derzeit machen wir das tatsächlich, weil wir in Greifswald keine vergleichbare Bühne haben wie in Stralsund. Die Interimsstätte steht noch nicht. Wir müssen uns also hier in der Stadt andere Spielstätten suchen, in denen wir Produktionen realisieren, die nur dort gespielt werden und die auf eine andere Bühne nicht übertragbar sind. Es war uns wichtig, dass wir hier in der Stadt für unser Publikum präsent bleiben.

Wir machen weiter, bis das Zelt steht. Es bedeutet einen enormen Aufwand, dass wir jetzt keine Produktionen haben, die zwischen Greifswald und Stralsund hin- und hergehen, was ja normalerweise der Fall ist.

O&T: Welche Rolle spielt Putbus?
Dörnen: In Putbus ist die Bühne nur zwei Drittel so groß wie die beiden anderen, besonders für den Tanz ist das sehr schwierig machbar. Für die großen Produktionen aller Sparten habe ich angeregt, eine Buslinie für die Besucher einzurichten, so dass Besucher aus Rügen diese in Stralsund so sehen können, wie sie künstlerisch gedacht sind. In Putbus selbst gibt es ja sehr viele Touristen. Die wollen leichte Kost, das finde ich auch legitim. Da wird per se ein anderes Programm gemacht.

O&T: Sie sind seit einem guten Jahr Intendant, verantworten derzeit Ihre zweite Spielzeit in dieser Funktion. Das aktuelle Spielzeitmotto heißt: „Wie weiter?“ Erzählen Sie uns, wie es dazu gekommen ist und wie Sie das auch künstlerisch füllen?

Dörnen: Meine erste Spielzeit haben wir einfach nur „Spielzeit!“ genannt, weil wir nach der Corona-Pandemie wieder Zeit und Raum hatten zu spielen. Irgendwann kam unser Chefdramaturg und fragte: Wie machen wir denn jetzt weiter? Gemeinsam haben wir dann gesagt: Das ist das Motto. Es gibt so viel Unsicherheit: Wir stehen vor einer Sanierung, von der wir nicht wissen, wie lange sie dauert. Wir wissen hier in Greifswald nicht, wo wir spielen, wann wir spielen. Wir wissen nicht, wie es mit dem Publikum weitergeht: Kommen die Zuschauer zurück? Was ist mit dem Krieg? Wie geht es mit der Menschheit weiter? Das ist ein allumfassendes Thema, dem wir uns mit den unterschiedlichsten Stücken und Produktionen widmen wollen. Ich habe gerade „Gilgamesch“ gemacht. Da stellt man auf einmal fest: Die haben sich schon vor 4.000 Jahren die gleichen Fragen gestellt wie heute. Da geht es um Macht, Machtmissbrauch, den Umgang mit der Natur und die Frage nach dem Sinn des Lebens. Das ist doch unglaublich. Wir lernen nichts. Es ist eine offene Frage: Wie soll es denn weiter gehen? Eine Frage, die wir auch an das Publikum stellen: Wie wollen wir denn weitermachen, miteinander, untereinander?

O&T: Glauben Sie, dass das Theater eine Antwort findet?

Dörnen: Ich glaube, Theater ist nicht dazu da, Antworten zu geben, sondern Anregungen. Ich würde mir niemals anmaßen, dass wir auf große Fragen Antworten geben können, aber wir können dazu beitragen, dass Menschen über die Dinge nachdenken. Ich weiß, dass wir Menschen bewegen können, dass wir sie in ihrem Denken positiv beeinflussen können. Natürlich können wir sie auch negativ beeinflussen, das wollen wir aber nicht. Wenn man Einfluss hat, bedeutet das auch immer Verantwortung. Unsere Aufgabe ist es, Menschen dazu zu bringen, über bestimmte Dinge nachzudenken – auch, wenn sie es nicht wollen.

O&T: Wie sehen Sie denn konkret die Aufgabe des Theaters in diesen Krisenzeiten? Wir erleben ja nicht nur den Krieg, sondern auch den Klimawandel als große Herausforderung.

Dörnen: Auch da ist die Frage: Wie weiter? Ich habe jetzt zum Beispiel gesagt, dass wir keine Programmhefte mehr drucken. Die Leute kaufen sie nicht mehr. Wir werfen einen Großteil der Hefte, die wir drucken, in den Müll. Das hat nichts mit Nachhaltigkeit zu tun.

O&T: Wie machen Sie es dann?

Dörnen: Wir bieten das online an. Wir haben gerade ein Klassenzimmerstück, das „Petty Einweg“ heißt. Da stellt eine Schauspielerin eine Einwegplastikflasche dar. Wenn wir so ein Stück in die Klassenzimmer schicken, können wir nicht gleichzeitig Programmhefte drucken, die wir dann in den Müll werfen.

O&T: Nach Corona ist es nicht leicht, das Publikum wieder zu gewinnen. Jetzt haben die Menschen auch noch Angst, nicht mehr genügend Geld zu haben. Ein Zitat von Ihnen lautet: 50 Prozent ist das heutige Ausverkauft…

Dörnen: … das ist nicht von mir. Ich habe das im Radio gehört von einem Vertreter der Veranstaltungsbranche…

O&T: Wie sieht es bei Ihnen aus? Sie bieten derzeit einen „Flotten Dreier“ an: 3 Karten für insgesamt 27 Euro innerhalb von drei Monaten. Wie läuft es damit?

„Gilgamesch“ mit Stefano Fossat in der Hauptrolle. Foto: Peter van Heesen

„Gilgamesch“ mit Stefano Fossat in der Hauptrolle. Foto: Peter van Heesen

Dörnen: Ich hätte mir mehr davon versprochen. Es läuft nicht schlecht. Wir haben ungefähr 200 davon verkauft, aber ich hätte mir 500 oder 600 gewünscht. Merkwürdigerweise gehen die Zahlen trotzdem hoch. Dieser „Flotte Dreier“ geht bis Ende November. Im Dezember gilt er nicht, und trotzdem sind die Zahlen im Dezember wieder höher. Wir merken gerade, dass es nicht nur am Preis liegt. Man muss auf jeden Fall daran festhalten, dass Kultur einen bestimmten Wert hat.

O&T: Zurück zur Sanierung. Der Deutsche Kulturrat hat sich gerade dazu geäußert, dass die Forderung nach 20 Prozent Energieeinsparungen in den Theatern oft gar nicht möglich ist, weil in der Vergangenheit Sanierungsbedarfe nicht berücksichtigt wurden.

Dörnen: Wir mussten gerade unseren Wirtschaftsplan machen und sehen, dass die Heizkosten ins Unermessliche steigen. Das alte Haus ist energetisch ein Problem. Solange da noch Menschen drin arbeiten, müssen wir das ganze Haus heizen. Wir haben eine Werkstätten-Anlage, die ebenso wie das Theater energetisch überhaupt nicht gedämmt ist. Aufgrund der baulichen Substanz ist da nicht wirklich viel möglich. Aber wir können die Mitarbeiter nicht frieren lassen.

O&T: Wie ist es mit dem Zelt?

Dörnen: Das ist das gleiche Zelt, wie es in Altenburg steht. Es hat eine externe Ölheizung, die warme Luft unter die Zuschauertribüne bläst. Was das letztendlich kostet, hängt davon ab, ob der Winter milde wird oder nicht. Das betrifft aber erst den Winter 2023/2024, und wir hoffen, dass Herr Putin sich bis dahin ein bisschen beruhigt.

Wedel: Sie hatten in Greifswald schon immer das Problem, dass die Bühne für den Tanz schlecht geeignet war. Auch da haben Sie vermutlich die Schwierigkeit zu gewährleisten, dass auch in den Ausweichspielstätten für den Tanz die nötigen Vorbereitungen getroffen werden?

Dörnen: Wir haben hier eine alte Turnhalle bekommen. Da liegt natürlich auch ein Schwingboden drin, der dann in das neue Haus, in den neuen Ballettsaal passt.

O&T: Nachdem Sie 2021 Intendant des Theaters wurden, sind Sie der einzige Intendant in Deutschland, der gleichzeitig auch Ballettdirektor ist. Wie war die Entscheidung für Sie, beides auf einmal zu machen?

Dörnen: Das musste sein. Ich kann nicht ohne Tanz sein.

O&T: Das ist Ihrer Biografie eindrücklich zu entnehmen. Die Frage lautet eher: Haben Sie als Intendant noch genug Zeit für das, was nach wie vor so ein wichtiger Lebensinhalt für Sie ist?

Szenenfoto aus Benjamin Brittens Oper „Ein Sommernachtstraum“ in der Inszenierung von Wolfgang Berthold mit dem Chor. Foto: Peter van Heesen

Szenenfoto aus Benjamin Brittens Oper „Ein Sommernachtstraum“ in der Inszenierung von Wolfgang Berthold mit dem Chor. Foto: Peter van Heesen

Dörnen: Ich habe einen sehr guten Ballettmeister, Adonai Luna, dem ich blind vertraue. Ich habe mich irgendwann zu diesem Schritt entschlossen, nicht, weil ich unbedingt Intendant werden wollte, sondern weil ich nicht damit einverstanden war, was mit diesem Haus passiert. Ich war davon überzeugt, dass man mit diesem Haus und seinen Mitarbeitern bessere Dinge anstellen kann. Dass jetzt gerade die vielen Krisen zusammenkommen, ist aktuell ein bisschen wie ein Albtraum. Aber ich habe ein sehr gutes Team, auch mit den anderen Spartenleitern. Grundsätzlich funktioniert das, was ich mir künstlerisch vorgestellt habe. Es hat einen großen künstlerischen Ruck nach vorne gegeben.

Wedel: Sie haben schon berichtet, dass Sie sich seinerzeit gegen die geplante Fusion eingesetzt haben. Das war auch der Punkt, an dem wir als Gewerkschaften mit Ihnen ins Gespräch gekommen sind. Ist diese Diskussion jetzt wirklich vorbei? Wir haben den Haustarifvertrag, der noch ein Jahr läuft, in 2024 dann noch ein Jahr nachläuft. Kommt diese Diskussion noch einmal wieder, oder ist das Thema in den politischen Gemeinden endgültig durch?

Dörnen: In diesen unsicheren Zeiten werde ich Ihnen nicht sagen, dass etwas endgültig ist. Wir gucken alle in eine Glaskugel. In diesen Zeiten kann es keine Garantie geben. Ich weiß, dass der Haustarifvertrag ausläuft, und alle wollen, dass er ausläuft. Aber was passiert danach? Ich werde jedenfalls alles dafür tun, dass wir an diesem Haus keine Sparte schließen müssen.

Keiner will das, aber im Hinterkopf ist der Gedanke natürlich da. Man will das noch nicht wahrhaben, genauso, wie wir noch nicht wahrhaben wollen, dass in Europa Krieg ist. Die Auswirkungen spüren wir jeden Tag, und wir können uns nicht aufs Sofa setzen und so tun, als ginge uns das nichts an. Wir sind im Krieg, auch wenn hier keine Bomben fallen. Was im nächsten Jahr passiert, weiß kein Mensch. Das spürt man auch an den Menschen. Das spüren wir am Publikum. Die Leute haben Existenzängste.

Wedel: Spüren Sie das auch in der Belegschaft?

Dörnen: Ja. Es sitzen ständig Leute bei mir, die sagen: Ich brauche mehr Geld, weil meine Heizungskosten steigen. Wir können nur sagen: Wir haben nicht mehr Geld. Unsere Gelder sind bis 2028, bis zum Auslaufen des Theaterpakts, gedeckelt. Im Moment sieht es nicht so aus, als ob wir auch nur einen Euro mehr kriegen. Vielleicht kommt etwas vom Bund, aber ob wir unter diese Energiepreisbremse fallen, oder ob Frau Roth sagt, dass nur die Freien unterstützt werden, weil die anderen Träger haben, wissen wir nicht. Der Bühnenverein hat ja noch im Juni die großartige Idee gehabt, die Grundgage zu erhöhen.

Wedel: Das war nicht unbedingt die Idee des Bühnenvereins.

Dörnen: Der hat es aber durchgezogen. Da saßen auch die Träger am Tisch. Der Bühnenverein gibt anschließend eine Pressemitteilung heraus: Ihm ist klar, dass die Theater das nicht alleine stemmen können, da müssen die Träger ran. Aber die Träger gehen nicht mit ran. Die haben uns ein finanzielles Ei gelegt, das zusätzlich zur Corona-Krise kommt, zusätzlich zu der Tatsache, dass weniger Besucher kommen, zusätzlich zu der Steigerung der Materialkosten, zur Steigerung der Transportkosten. Da kommen ganz viele Dinge zusammen, auf die wir letztlich keinen Einfluss haben.

Wedel: Wenn es den gesellschaftspolitischen Konsens für einen Mindestlohn gibt, muss sich der natürlich auch im Theater widerspiegeln. Aus unserer Sicht können wir sagen: Wir haben jetzt ein bisschen was zurechtgerückt für die Beschäftigten.

Dörnen: Ich finde diese Anhebung ja richtig. Es hat niemand etwas dagegen, dass ein Anfänger 2.500 Euro bekommt, demnächst 2.900 Euro. Für uns bedeutet das aber, dass das gesamte Gagengefüge durcheinandergerät. Eine Sängerin, die seit fünf Jahren am Haus ist, verdient dann plötzlich weniger als ein Anfänger. Das ist natürlich nicht richtig, aber wo sollen wir denn das Geld hernehmen? Wir haben in diesem Jahr wahrscheinlich Mindereinnahmen von ungefähr einer Million.

O&T: Zurück zu Ihrer Doppelrolle als Ballettdirektor und Intendant. Wie viel können Sie noch künstlerisch arbeiten?

Dörnen: Eine Produktion pro Spielzeit möchte ich machen, muss ich auch machen, weil ich sonst nicht weiß, wofür ich das alles tue. Die Arbeit mit den Tänzern gibt mir die Kraft, dass ich das andere auch schaffe. Ich muss zwischendurch in den Ballettsaal gehen, um meine Energie dort herauszuholen.

O&T: Die Diskussion über den Machtmissbrauch im Theater reißt nicht ab. Wie sehen Sie Ihre Rolle als Intendant, als Chef in diesem Haus?

Dörnen: Das ist eine sehr wichtige Frage. Das muss man wirklich sehr gut beobachten. Wir haben eine Stelle eingerichtet, an die sich Leute wenden können. Ich habe allen gesagt: Wenn irgendetwas passiert, kommt bitte und sagt es. Ich habe auch in den Proben gesagt: Wenn ich etwas sage, das Ihr nicht richtig findet, sagt es mir. Wenn ich euch irgendwo anfasse, wo es euch stört (in den choreografischen Proben fasst man sich nun mal sehr viel an), müsst ihr mir es sagen. Das erwarte ich von meinen Mitarbeitern. Wir hatten Fälle, in denen wir reagieren mussten, und haben teilweise auch unangenehme Konsequenzen gezogen.

Wedel: Noch ein letztes Wort zum Musiktheater, zum Chor. Sie haben mit 24 Sängerinnen und Sängern einen relativ kleinen Chor…

Dörnen: Na ja...

Wedel: Das ist eigentlich die Mindestgröße. Es gibt natürlich Häuser, in denen die Chöre kleiner sind, aber das ist kein Idealzustand. Was planen Sie im Musiktheater? Früher gab es mal Intendanten, die unbedingt Wagner spielen wollten…

Dörnen: Das machen wir nicht. Ich habe das ganz klar mit meinem Operndirektor Wolfgang Bert-hold besprochen. Der ist auch der Meinung: Das sollen die Leute machen, die es wirklich können. Wir wollen doch dieses Haus nicht sprengen. Wir müssen das machen, was wir hier gut können. Ich mache ja auch im Ballett keinen „Schwanensee“ – ich habe nun mal nicht so viele Schwäne. Das ist dann eher eine Hybris einzelner Menschen. Als Aufmacher der letzten Spielzeit haben wir zum Beispiel „Jonny spielt auf“ gemacht: ein großartiges Stück, das kaum gespielt wird und auch groß ist. Aber es ist für uns machbar, und es ist sehr interessant.

Ein Leitmotiv für mich heißt: Wir machen Theater für die Menschen im Zuschauerraum, nicht für uns selbst. Wir wollen den Zuschauern gutes Theater auf dem Niveau bieten, das wir auch garantieren können.

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