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Berichte
Ein Triumph des Hauses
Die posthume Uraufführung von Joachim Raffs „Samson“ in Weimar
Das im Schatten Franz Liszts entstandene Musikdrama von Joachim Raff (1822-1882) fand zu Lebzeiten des Direktors des Hoch‘schen Konservatoriums in Frankfurt am Main nicht den Weg auf die Bühne. Also musste das Image des seinerzeit viel gespielten Sinfonikers und Kammermusik-Komponisten Raff als seine Textbücher selbst schreibender Opernschöpfer bis in die Gegenwart leicht windschief ausfallen. „Dame Kobold“ (am Theater Regensburg in der Regie von Brigitte Fassbaender 2020), „Benedetto Marcello“ (vor 20 Jahren bei den Herbstlichen Musiktagen Bad Urach) und „Die Eifersüchtigen“ (Uraufführung durch das Opernkollektiv Zürich 2022) sind liebenswerte Komödien-Gebilde. Dem eindrucksvoll monumentalen und groß dimensionierten Raff begegnet man dagegen in seinem späten Oratorium „Welt-Ende – Gericht – Neue Welt“ op. 212 nach der Apokalypse des Johannes, das der Gewandhaus-Chor im Mai 2022 in der Pfarrkirche von Raffs Schweizer Geburtsort Lachen und in Leipzig zur Aufführung brachte, sowie in der sensationellen posthumen Uraufführung seines 1852 bis 1857 entstandenen musikalischen Trauerspiels „Samson“ am Deutschen Nationaltheater Weimar im September 2022. Ein Triumph des Hauses dank der Regie Calixto Bieitos, dank auch des Ensembles, des Opernchors (Leitung: Jens Petereit) und der Staatskapelle Weimar unter Dominik Beykirch.
Peter Sonn (Samson), Opernchor des DNT Weimar und Extrachor aus Studierenden der Hochschule für Musik Franz Liszt Weimar.
Foto: Candy Welz
„Samson“ bereichert das Bild vom 19. Opern-Jahrhundert durchaus. Das liegt einerseits an der wissenschaftlichen Akribie, mit welcher der Liszt-Mitarbeiter Raff in Weimar und Jena den heiklen Kraftmeier-Stoff aus dem alttestamentarischen „Buch der Richter“ auf Höhe der historischen Wissenschaft seiner Zeit aufdröselte. In seiner Studie „Zur Wagner-Frage“ hatte Raff die Strukturprinzipien Richard Wagners und Giacomo Meyerbeers verglichen. Raff selbst kam in „Samson“ dann zu ganz anderen Lösungen. Seine experimentelle Partitur blieb in der Schublade, während das 1877 auf Liszts Betreiben in Weimar herausgekommene Erotik- und Testosteron-Hybrid „Samson und Dalila“ von Camille Saint-Saëns zum Hit wurde. Gerade im Vergleich der Finali beider Werke zeigt sich Raffs musikdramatische Ambition neben einer filigranen wie exzessiven und faszinierenden Instrumentation. Gegen Ende liefert Raff wie Saint-Saëns im Tempel eine lange Ballettmusik. In dieser spielen der Chor des DNT und die Regie die schwebende Pantomime eines Kinderparadieses für Erwachsene mit unschuldigem Konsumkram. Eine schreiende Schwangere presst einen Basketball aus ihrem Unterleib.
Beykirch befeuert das Ganze mit der Staatskapelle Weimar. Raff erfand über den physisch-psychischen Grausamkeiten seines Textes überwiegend kammermusikalische Farbgemische. Den Primadonnen-Part hat keine Sängerin, sondern die Solo-Oboe. Zwei überdeutliche Zitate erlaubte sich Raff: Ein Bläser-Katarakt ist programmatisches Plagiat aus Meyerbeers „Robert der Teufel“, an einer anderen Stelle leuchtet Wagners „Tannhäuser“-Pilgerchor. Diese Oper hätte demzufolge echte Chancen, wenn der Musiktheater-Betrieb endlich Flagge gegen den Wagner- und Verdi-Zentralismus bekennen würde. Weil Raffs Musik und Textbuch das hergeben, gerät die Darstellung des zivilisatorischen Brutalitätenwahnsinns in Bestform und kurzweilig. Bieito und sein Bühnenbildner Philip Rubner pferchen den mit Studierenden der Hochschule für Musik Franz Liszt Weimar eindrucksvoll vergrößerten Opernchor in einen Saal. Acht Blechbläser auf der Bühne geben einen Vorgeschmack der Posaunen von Jericho. Das mit Intensität agierende Solistenensemble bereicherte den Abend überdies: Peter Sonn in der Titelpartie, Emma Moore als positive Delilah, Uwe Schenker-Primus als toxischer Abimelech, Taejun Sun, Avtandil Kaspeli und alle anderen lieferten ein starkes Musiktheater mit Tiefgang.
Roland H. Dippel
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