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Berichte

Der Rest ist Schweigen?

Eine »Hamlet«-Trilogie in Hildesheim

Das Theater für Niedersachsen widmet sich großen Stoffen: Schillers „Die Räuber“ in der Spielzeit 2020/2021 und „Medea“ 2021/2022. Für Subventionstheater ist das eine Selbstverständlichkeit, allerdings nicht mit der dramaturgischen Zuspitzung wie in Hildesheim. Seit dem Antritt von Intendant Oliver Graf gibt es an einem Tag der Spielzeit „1+1+1 – das trilogie-event“ – zuletzt am 30. Oktober 2022 mit „Hamlet“: drei Vorstellungen auf einen Streich – mit Tanz, Oper und Schauspiel. Dazwischen Podiums- und Werkstattgespräche, Stückeinführungen, Rahmenprogramme und ein Film. Das macht Eindruck, vor allem auch, wenn man die enge Personaldecke des Theaters für Niedersachsen und dessen nicht minder enge Landesbühnen-Disposition mitdenkt.

„Ambleto“ mit Yohan Kim als Fengone und Kathelijne Wagner als Ildegarde. Foto: Tim Müller

„Ambleto“ mit Yohan Kim als Fengone und Kathelijne Wagner als Ildegarde. Foto: Tim Müller

Mit ihren „Hamlet“-Projekten hatten die Sparten Tanz, Schauspiel und Musiktheater jeweils die Spielzeit eröffnet. Alle drei Produktionen sind individuelle Annäherungen an den Stoff. Auf einer Werbekarte führt das Sternchen hinter Shakespeares „Hamlet“-Schlusssatz „Der Rest ist Schweigen“ zum Appell „Also: Raus mit der Sprache! Wie hat es Ihnen im TfN gefallen?“ Am TfN wird die Kommunikation mit dem Publikum auf breiter Basis praktiziert. Gleich mehrere Ziele werden mit dem Projekt erreicht: Weil „Hamlet“ zum Prüfungsstoff des niedersächsischen Abiturs 2023 gehört, ist der Run aus den Schulen auf die Vorstellungen absehbar. Mit der Musiktheater-Entdeckung „Ambleto“, für die der in Hamburg lebende Komponist Fredrik Schwenk die nur als Songbook überlieferten Arien aus Francesco Gasparinis Oper um Rezitative ergänzte, kitzelte man das Interesse überregionaler Tages- und Kulturmedien.

Die Entstehung des zwar geschlossen gedachten, aber letztlich offenen, innovativen Projekts folgt einer Vielzahl voneinander abhängiger Entscheidungen. Fakt ist, dass Oliver Graf und GMD Florian Ziemen nicht zu den Theaterleitern gehören, die in der beschworenen Publikumskrise nur zum Gefälligen, Heiteren, Populären greifen. Von acht Musiktheater-Premieren gehören nur zwei zu den Auslastungsmagneten („Carmen“ und „Die Fledermaus“), unter den fünf Premieren der Sparte Musical ist kein einziges internationales Zugstück. Wie bei der „Hamlet“-Trilogie finden sich essenzielle und berühmte Stoffe aus Vergangenheit und Gegenwart in Adaptionen anderer Sparten. Das TfN stellt das Weiter-, Um-, Mitdenken von Inhalten, Sujets und zeitrelevanten Fragen in den Mittelpunkt seiner konzeptionellen Arbeit: Theater als Forum und Gedankenschmiede – das funktioniert ebenso wie die Idee eines (natürlich sehr funktional und wandlungsfähig gedachten) Bühnenbilds für alle drei „Hamlet“-Stücke. Einziges Handicap im Hildesheimer Theaterherbst 2022 ist die „nur“ hörbare Präsenz des Opernchors des TfN, wie Chordirektor Achim Falkenhausen bedauert. In „Ambleto“ singt er hinter der Bühne, denn noch gilt am Veranstaltungstag die Abstandsregelung von 1,50 Meter.

„Hamlet“ als Tanztheater mit Antonio Carta als Hamlet und  Camille Jackson als Gertrude. Foto: Tim Müller

„Hamlet“ als Tanztheater mit Antonio Carta als Hamlet und Camille Jackson als Gertrude. Foto: Tim Müller

Ausstattungsleiterin Anna Siegrot versuchte in einem Einheitsbühnenbild für das „Hamlet“-Tripel die praktikablen und künstlerischen Visionen von Tanz, Musiktheater und Schauspiel zu berücksichtigen. „Nichts ist geheimnisvoller als eine geschlossene Tür“, steht über dem Aufsatz zu Siegrots Procedere in allen drei Stückprogrammheften. Damit sind nicht nur die physischen Türen auf der Bühne gemeint, sondern auch die wahren, falschen, gefälschten und manipulierten Informationen, die für die „Hamlet“-Handlung großes Gewicht haben und auch metaphorisch präsent sein sollen. Sie funktionieren für sich und bilden in übereinander gesetzten Reihen den konkreten Anblick einer Hauswand. Am „Hamlet“-Tag nützt sich diese Visualisierung nicht ab, offenbart durch Farbe, Licht, Anordnung der Dekorationselemente und Requisiten vor allem beim Schauspiel einen erstaunlich variantenreichen Entwicklungsraum.

Wie die Stückinhalte selbst. Sogar Shakespeares Tragödie erhielt durch die Inszenierung von Ayla Yeginer eine Veränderung. Die Fassung von Marius von Mayenburg versetzt sie vom dänischen Hof der grauen Vorzeit in eine von den höfischen Mitläufern Rosenkranz und Güldenster moderierte Talk-
show, in der Ophelias und Hamlets Annäherung zur poesiefreien Beziehungsrhetorik von heute degeneriert.

Auch beim Opern-„Hamlet“ sieht es mit der poetischen Aura eher prosaisch aus, obwohl Fredrik Schwenks Ergänzung von Gasparinis Arien einen praktikablen Opern-Organismus mit Polyvalenz, psychologischen Reibungen und Vitalität ergibt. Schwenks mit dem Dirigenten Florian Ziemen getroffene Entscheidung, ausschließlich Ressourcen aus dem Ensemble zu nutzen, hat zur Folge, dass es weder archaische Klangwirkungen durch Spezialinstrumente noch Gäste mit Spezialkompetenzen wie die inzwischen fast obligaten Counterstimmen gibt. Schwenk beobachtete das Leistungsspektrum des Musiktheater-Ensembles genau, und so machen die Sopran-, Tenor- und hohen Baritonstimmen das spezifische Klangkolorit von „Ambleto“ aus. Apostolo Zeno schrieb das Libretto, bevor Shakespeare in Italien bekannt wurde. Es hat bis auf einzelne Motive aus den „Gesta Danorum“ des Saxo Grammaticus, einer beliebten Stoffquelle, kaum etwas mit der Shakespeare-Tragödie gemeinsam. Schwenk ließ die Melodieführung der erhaltenen Arien Gasparinis weitgehend unberührt und setzt einen stilistischen Bogen zu seinen eigenen Vertonungen der Rezitative und Instrumentationen. Diese erweisen sich als hintergründiger, da unspektakulärer Seitenhieb auf die in die Jahre kommenden und deshalb ihre Stachel verlierenden Verstörungskonventionen der Neuen Musik: Eine exponierte Strapazierung der Gesangsparts wird vermieden, der Orchestersatz ist mit modernen Rhythmen aufgefächert. Das Ergebnis ist eine stimmenreiche, differenzierte und instrumental abwechslungsreiche Partitur, die der Szene viele Aktions- und Interpretationsmöglichkeiten zuspielt. Diese wurden von der Regisseurin Amy Stebbins allerdings nur marginal genutzt. Trotz einer von allen Mitwirkenden enthusiastisch getragenen Ensembleleistung bewegen sich die Figuren relativ kühl durch das an totalitäre Systeme der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts gemahnende Grau, zu dem im zweiten Teil Chorstimmen von der Hinterbühne singen. Aus dem Ensemble ragen Julian Rohde und Felix Mischitz mit satter bis weicher Intensität heraus, Yohan Kim zeigt einen Tenor mit farbreicher Kondition und Ausdruckskraft. Schwenks neue Oper hat Belcanto-Ambitionen, die sich nicht anbiedern.

Nur fünf Tänzer braucht die Choreografin Yamila Khodr für ihre „Hamlet“-Phantasie, zwei davon sind die beiden Seelen in der Brust des Dänenprinzen. Albrecht Ziepert holt Sound Designs aus dem Dark Rock, vibrierend langsamen Chills und viktorianischem Klangkolorit von Glockenschlägen bis frei assoziierbarem Klangmaterial. Zwei Stärken zeigt Khodr. Zum einen kann sie mit ihrer suggestiven Figurenarbeit auch die Musik verdichtend aufladen, so dass aus Tönen Drama und aus Bewegungen Affekt wird. Sie konzentriert sich auf die mit ihren Figuren möglichen Trieb- und Chaosmomente. Faszinierend David Pallants Solo mit dem Ineinander von Penetrationsgier, Antriebsschwäche und Selbstermächtigung des Usurpators Claudius. Ausdrucksstark, aber unter diesen Figuren dennoch klein dimensioniert, stürzt sich Camille Jackson auf Gertrude als an zwei Enden brennende Kerze. Ohne subtilen Text muss die ehebrüchige Königin an Tiefgang und Vielschichtigkeit einbüßen.

Die Doppelrolle Hamlets offenbart sich als intelligenter Coup, weil sich die Figur erst allmählich erschließt. Khodr polarisiert die physischen und künstlerischen Temperamente von Antonio Carta und Sami Similä und schweißt sie dann in kanonischen, supplementären, spreizenden und harmonischen Bewegungen aneinander. Dieses tänzerische Ereignis gibt keine einfache Bebilderung einer inkommensurabel entworfenen und in ihrer Wirkungsgeschichte noch mehr aufgeladenen Figur, sondern fragt vielmehr: „Wer und wie sympathisch ist Hamlet?“ Zwischen den Aufführungen gab es diese Frage immer wieder und fand nach dem Widerhall in den ausgeprägten ästhetischen Handschriften der drei Stücke ihren Weg auch ins Publikum. Erfolg total.

Roland H. Dippel

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