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Aktuelle Ausgabe

Editorial von Tobias Könemann
Schaffen wir das?

Kulturpolitik

Brennpunkte
Zur Situation deutscher Theater und Orchester

Lust und Leiden eines „Ost“-Theaters
Claus Dobberke über das Hans Otto Theater Potsdam vor und nach der Wende

Mauerfall und Wiedervereinigung
Thomas Heymann blickt zurück auf die Wendezeit und auf 25 Jahre gemeinsame VdO

Hoffnungen, Ängste, Gänsehaut
Drei VdO-Mitglieder über ihre Erinnerungen an Wende und Wiedervereinigung

Theater Ost – Theater West
Die Sendung „Contrapunkt“ im Jahr 2002 zur Theaterlandschaft vor und nach der Wend

Spätes Erinnern
Die Komische Oper Berlin erinnert mit Stolpersteinen an jüdische Künstler

Klar, transparent, schön
Der Theater-Website-Check: Deutsche Oper am Rhein

Gesundheit

Gefährdungspotenziale und Prävention
Bundesweite Studie zur Tänzergesundheit

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Der amerikanische Traum
Musical »Ragtime« am Staatstheater Braunschweig

Oper als Reizstoff
Michail Glinkas „Iwan Sussanin“ in Frankfurt

Start in eine neue Ära?
Georges Delnon, Kent Nagano und der Spielzeitstart an der Hamburgischen Staatsoper

Die Hexe als Transvestit
Grandiose Inszenierung von »Hänsel und Gretel« in Neustrelitz

Zu wenig Utopie
„Siegfried“ und „Götterdämmerung“ am Staatstheater Nürnberg

L‘Arlesiana
Francesco Cilea: L’Arlesiana

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Kulturpolitik

Theater Ost – Theater West

Die Sendung „Contrapunkt“ im Jahr 2002 zur Theaterlandschaft vor und nach der Wende

„Oase Ost – Wüste West“: So lautete der Titel der Radiosendung „Contrapunkt“, einer Gemeinschaftsproduktion des Bayerischen und des Mitteldeutschen Rundfunks am 19. Februar 2002 im Münchner Goethe-Forum. Es ging in dieser Sendung um das Theater, um die Frage: Was unterscheidet sich (noch)? Wo blüht das Theater – wo stirbt es?

Bemerkenswert ist, dass viele der damals geführten Diskussionen heute noch oder wieder aktuell sind. Spartenschließungen, Fusionen, Theatersparen: damals so brisante Themen wie heute. Gäste waren unter anderem Klaus Baschleben, Theaterkritiker bei der Leipziger Volkszeitung, Dirk Schütz, Mitbegründer des Kulturmanagement Network, Enoch Lemcke, Abteilungsleiter Kultur im Schweriner Ministerium für Bildung und Wissenschaft, und Reinhold Röttger, Intendant des Mainfranken Theaters Würzburg. Telefonisch zugeschaltet wurde innerhalb der Sendung Stephan Märki, Intendant des Deutschen Nationaltheaters in Weimar, der zu dieser Zeit über die Idee einer Fusion mit dem Theater Erfurt verhandelte. Moderiert wurde die Sendung von Theo Geißler (Herausgeber von „Oper & Tanz“ und der neuen musikzeitung) und Manfred Wagenbreth (MDR).

Theo Geißler: Deutsche Theaterlandschaften haben wir uns heute als Thema ausgesucht. Deutsche Theaterlandschaften haben wir auch gleich definiert, recht grobschlächtig als „Wüste West – Oase Ost“. Da mag jede Menge Sentimentalität dahinterstecken: damals, als noch ein Felsenstein, ein Kupfer, ein Müller, eine Berghaus in der sogenannten DDR tätig waren, als wir manchmal sogar ein bisschen neidisch waren hier im Westen: Wir hatten oft den Eindruck, dass Theater, dass Oper in der DDR von der Bevölkerung ganz anders, intensiver, näher wahrgenommen wurde. Die DDR ein Land der Seligen sozusagen. Seit wir Westler dieses Gebiet fest in unseren Griff genommen haben, ist dort eine ganze Menge passiert: Stellenabbau, Fusionen… Da ist die Oase Ost ein bisschen trocken geworden.

Klaus Baschleben: Sicher war die Kultur, war Theater, Film, in gewisser Weise auch Fernsehen schon eine Oase im Osten: sehr kräftig gefördert, unterstützt, mit viel Publikum. Das Theater wurde immer mehr zu einem Medienersatz. Der gelernte DDR-Bürger war sehr geübt darin, zwischen den Zeilen zu lesen und auch zwischen den Sätzen zu hören. Diese Funktion hat das Theater übernommen; das war einer der Gründe, weshalb es diesen enormen Stellenwert beim Publikum hatte.

Manfred Wagenbreth: Dirk Schütz, mit kühlem Managerblick: Was macht die alten Theaterstrukturen in Ostdeutschland heute so anfällig?

Dirk Schütz: Zweierlei: natürlich der Kostendruck von außen, mit dem sich die Theater auseinandersetzen müssen. Andererseits die Anforderung, neue Strukturen aufbauen zu müssen. Dazu brauchen sie gewisse Rahmenbedingungen, die die Kulturpolitik schaffen muss.

Wagenbreth: Das Theater als Ort der Identifikation und Selbstverständigung des aufgeklärten Bürgertums – so lautet eine wohlwollende und inzwischen auch stark idealisierende Definition. Dieses Theater hat im Osten wie im Westen eine gemeinsame Tradition, die bis ins 19. Jahrhundert oder noch weiter zurückreicht. Welche Funktion konnte so eine Anstalt in einem Land haben, das vor 50 Jahren nach einem verheerenden Krieg versuchte aufzustehen, Herr Röttger?

Röttger: Ich weiß nur, dass die Bürger der damaligen DDR in ihren Theatern, in ihren Medien die Wahrheit zwischen den Zeilen suchten. Das, was wir im Westen überhaupt nicht nötig hatten. Wir konnten machen, was wir wollten. Wir waren ein Konsumverein.
Wagenbreth: Herr Baschleben, das Zwischen-den-Zeilen-Lesen ist ja nun nicht mehr nötig. Halten Sie das für einen großen Verlust?

Baschleben: Nein. Problematisch für das DDR-Theater ist eher, dass es nach der Wende plötzlich vor einer Art von Nichts stand, weil es plötzlich seine Funktion verloren hatte, auf die es sich in den 70er-, 80er-Jahren zunehmend stärker kapriziert hatte. Das war in den Anfängen noch anders. Der antifaschistische Gedanke spielte im DDR-Theater in den Anfangsjahren eine große Rolle, als Leute wie Brecht zurückkamen. Da ging es darum, gegen die Kriegsgreuel wieder Humanität zu setzen. Diese Funktion veränderte sich aber immer mehr, je mehr die DDR zu diesem von der SED bestimmten Staat wurde. Und das war plötzlich weg. Nun ist das DDR-Theater, das ehemalige, auf der Suche nach seiner Selbstbestimmung – wie die Theater im Westen auch.

Wagenbreth: Wer heute über die Situation der Bühnen sprechen will, der kommt um das leidige Thema Geld nicht herum. Enoch Lemcke, als ehemaliger Kultursenator von Rostock und derzeitiger Abteilungsleiter Kultur im Ministerium für Bildung, Wissenschaft und Kultur in Mecklenburg-Vorpommern. Sie können sicher ein trauriges Lied davon singen.

Lemcke: Ja, ich kann ein Lied davon singen, wenngleich ich sagen muss, in Mecklenburg-Vorpommern hat sich die Landesregierung dazu verständigt, für vier Jahre den Theaterhaushalt und die Theaterzuschüsse stabil zu halten. Das ist sehr gut, andererseits wissen wir natürlich auch, dass wir uns darüber Gedanken machen müssen, was nach den vier Jahren kommt. Insofern, denke ich, sind diese finanziellen Fragen für das Theater schon sehr wichtig.

Geißler: Dirk Schütz, wie geht es Ihnen, wenn Sie die Traurigkeiten auf der einen Seite, die flehenden Bitten auf der anderen Seite und die hochgesteckten inhaltlichen Ziele – vielleicht auf der dritten Seite – hören? Hat das Theater Ihrer Meinung nach in der Form eine Chance?

Stephan Märki:
„Wenn es nicht mal in Weimar gelingt, die Eigenständigkeit zu behaupten, sehe ich ziemlich schwarz für die meisten ostdeutschen Theater und Orchester. Fusionen sind immer Rückzugsgefechte, sie sind unkünstlerisch und widersprechen dem Wesen eines Stadttheaters, das der Identifikationspunkt einer Stadt ist.“

Schütz: Mir ist eigentlich gar nicht bange um die Theaterlandschaft in Deutschland. Ich glaube, wir diskutieren zu viel über Geld. Es geht vor allem darum, über Inhalte zu reden: Was soll Theater in der heutigen Gesellschaft überhaupt noch leisten, welchen Anspruch stellt die Gesellschaft an das Theater?

Märki (via Einspieler zur geplanten Fusion): Wenn es nicht mal in Weimar gelingt, die Eigenständigkeit zu behaupten, sehe ich ziemlich schwarz für die meisten ostdeutschen Theater und Orchester. Man hat dieses unselige Fusionsmodell angezettelt, das hinten und vorne nicht funktionieren wird. Ich bin prinzipiell gegen Fusionen, weil Fusionen nur in einer Kulturpolitik, die nicht gestaltet, als Vision gelten können. Fusionen sind ja immer Rückzugsgefechte, sie sind unkünstlerisch und widersprechen dem Wesen eines Stadttheaters, das ein Identifikationspunkt einer Stadt ist. Die Fusion von Theatern zweier Städte ist geradezu kontraproduktiv, denn bestenfalls kommt dabei eine Normkultur heraus, die dann auf beide Städte passt. Gerade solch eine kulturelle Grundversorgung hat lediglich Alibifunktion, und das wird man den Theatern später wieder vorwerfen. Man muss versuchen, das Theater in eine andere Rechtsform als eine Landes- oder staatliche Form zu bringen, um eigene Manteltarifverträge aushandeln zu können, also Tarifverträge, die auf ein Theater zugeschnitten sind. Man müsste natürlich aus dem Bühnenverein austreten und mit den Gewerkschaften verhandeln, ob sie das mitmachen, notfalls auch eine Gewerkschaft wechseln oder eigene Tarifverträge mit den Mitarbeitern aushandeln.

Geißler: Macht man es sich nicht ein bisschen leicht, wenn man nur die Politiker prügelt? Gibt es nicht auch Defizite im Selbstbewusstsein unseres Theaters Ost oder unseres Theaters West, unserer Oper Ost, unserer Oper West?

Baschleben: Ich weiß nicht, was Sie darunter verstehen. In den letzten zehn Jahren haben alle Theater – abgesehen davon, dass es eine Reihe von Osttheatern gar nicht mehr gibt – so runtergespeckt, dass sie auf einem Level sind, auf dem sie sagen: Jetzt können wir gerade noch spielen!

Lemcke: Wir haben ja schon mehrfach erlebt, dass Theater, die in solch einer Krisensituation waren, sich künstlerisch nochmal aufgerichtet haben, weil sie gemerkt haben: Es geht nicht ums Geld, sondern es geht darum, was man auf die Bühne bringt.
Was Herr Märki zu den Tarifverträgen und zum Verhältnis zum Deutschen Bühnenverein sagt, halte ich für äußerst problematisch. Wenn nicht sogar für falsch. Er darf nicht davon ausgehen, dass wenn man aus dem Bühnenverein austritt, die Tarifverträge nicht mehr gültig sind. Die gelten, bis man neue abgeschlossen hat. Er darf auch nicht denken, dass er als Einzeltheater im Handeln mit den Gewerkschaften erfolgreicher ist als ein Arbeitgeberverband, der wirklich Erfahrung hat auf dem Gebiet.
Baschleben: Das beste Argument für Theater ist natürlich ein volles Theater. Dort, wo die Leute hingehen, wo sie das Theater stürmen, fällt es auch dem schlimmsten Politiker schwer, ein Argument zu finden.

Geißler: Das bedeutet in der Voraussetzung ja, dass ich mich bei einem Publikum unentbehrlich mache. Ist das nicht ein recht opportunistischer Ansatz? Geht es dann um einen möglichst populistischen Spielplan?

Baschleben: Nein, das glaube ich nicht. Es ist ja so, dass das Publikum nach der Wende, was die DDR-Theater betrifft, erst einmal weggeblieben ist.

Geißler: Vorher war es reichlich da.

Baschleben: Udo Zimmermanns sehr anspruchsvoller Spielplan, mit dem er die Oper Leipzig weit über Leipzig hinaus in den europäischen Raum hineingetragen hat, hatte auch nicht zur Folge, dass mehr Publikum gekommen ist, sondern eher weniger. Aber mittlerweile kommt das Publikum wieder, und es kommt eben nicht nur zum „Vetter aus Dingsda“, sondern es kommt zu Stücken, die etwas zu tun haben mit ihrem Leben. Es gibt ein Interesse des Publikums, eine Auseinandersetzung mit dem, was ist, mit dem, was es umgibt, mit der Gesellschaft, mit der Politik, über den Weg des Theaters.
Wagenbreth: Die Perspektive des deutschen Theaters: Wie viel von den rund 868 Bühnen hierzulande werden das Jahr 2010 erleben?

Baschleben: Als der Film aufkam, wurde das Theater totgesagt. Als das Fernsehen aufkam, wurde das Theater totgesagt. Jetzt haben wir die globale Vernetzung, jetzt wird das Theater wieder totgesagt. Ich glaube, das Theater wird leben. Ob es in diesen Formen leben wird, das weiß ich nicht, das wird sich verändern, aber es wird leben.
Lemcke: Wir werden Schwerpunkte setzen müssen, und das heißt, es wird weniger Theater geben, aber deshalb muss es nicht schlechteres Theater geben.

Die komplette Sendung nachhören
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