Schaffen wir das?
Wieder einmal neigt sich ein Jahr dem Ende zu – Zeit für eine eher düstere Zwischenbilanz: Wir begehen den 70. Jahrestag der Befreiung Deutschlands und den 25. Jahrestag der deutschen Einheit, genauer gesagt, der Annektion der wirtschaftlich ausgebluteten DDR durch eine nicht ohne Arroganz agierende „Siegermacht“ BRD; er wird begleitet insbesondere in den „Neuen Bundesländern“ von pervertierten „Montagsdemonstrationen“ einer merkwürdigen Melange von frustrierten Menschenverächtern, ewig Gestrigen und Menschen, die ihre eigene jüngste Vergangenheit vergessen zu haben scheinen und ein „Abendland“ retten zu müssen glauben, das es in der von ihnen propagierten Form Gott sei Dank gar nicht gibt. Bleibt zu hoffen, dass dies – anders als vor gut 80 Jahren – eine Splittergruppe bleibt.
Die demokratieverachtenden Geheimverhandlungen zu TTIP und CETA werden trotz massiver öffentlicher Proteste ungeniert weitergeführt. Lippenbekenntnisse maßgeblicher Politiker zur „exception culturelle“ sind leider nicht durch nachweisbare Fakten untermauert.
Trotz oder gerade wegen des wirtschaftlichen Aufschwungs ist der soziale Frieden gestört: Deutschland erlebt in 2015 mehr Streiks als je zuvor in den letzten 20 Jahren. Die Ursachen sind sehr unterschiedlich: Teils ein Beharren auf nicht mehr zeitgemäßen Pfründen, teils Propaganda von Gewerkschaften, denen keine Sachargumente mehr einfallen, teils aber auch Kampf gegen die Vorenthaltung des legitimen Anteils am materiellen „Kuchen“, der von dessen Verwaltern verweigert wird. So mussten auch VdO und GDBA erstmals seit Jahrzehnten ihre tarifvertraglich zugesicherte Teilhabe an allgemeinen Tarifsteigerungen mit Warnstreiks durchsetzen.
Vor diesem Hintergrund hat eine merkwürdige Koalition neostalinistischer und wirtschafsliberaler Kräfte ein Tarifeinheitsgesetz durchgepeitscht: einen Angriff auf gleich ein ganzes Bündel von Grundrechten mit dem Ziel, autonomes gewerkschaftliches Handeln durch Zwangs-Gleichschaltung zu unterdrücken. Erste Folgen sind sichtbar. Die VdO zieht wie viele andere Organisationen die Konsequenz und bereitet eine Verfassungsbeschwerde vor.
Griechenland funktioniert trotz zweimal gewählter links-rechts-außen-Regierung, die eigentlich alles anders machen wollte, weiter als Waschanlage für Milliarden-Transferzahlungen öffentlicher Gelder an großinstitutionelle Kredit-Zocker, statt mit einem heilenden Bankrott-Schnitt, der in erster Linie genau diese Zocker treffen würde, eine reelle Chance für einen Neuanfang zu schaffen. Statt dessen wird weiterhin das europäische Währungssystem aufs Spiel gesetzt.
Die wohl einschneidendste Entwicklung dieses Jahres ist die Flüchtlingswelle, die Europa und insbesondere Deutschland erfasst hat – nicht wirklich überraschend, sondern vorhergesagt vor 40 Jahren durch den „Club of Rome“, dessen Mahnungen in den Wind geschrieben wurden. Statt dessen kehrte die Welt zurück zum kurzsichtigen Dogma des allein seligmachenden quantitativen Wachstums und plumper Machtpolitik. Die Folge: globales Versagen von Friedens-, Entwicklungs-, Umwelt- und letztlich Wirtschaftspolitik. Aber vergessen wir nicht: Das am Boden liegende Deutschland hat nach dem zweiten Weltkrieg innerhalb weniger Jahre 14 Millionen Flüchtlinge nicht nur verkraftet, sondern – zusammen mit Millionen weiterer Migranten, „Gastarbeiter“ genannt – zur Grundlage seines „Wirtschaftswunders“ gemacht – ein lebendiges Beispiel für die Chancen, die diejenigen, die jetzt zu uns kommen, für unsere demographieschwache Gesellschaft mit im Gepäck führen.
Natürlich gibt es dabei ein Integrationsproblem – auch ein kulturelles. Und eine aufnahmefähige Kultur ist weder eine problemverdrängende Wohlfühlkultur noch eine prekäre Schattenkultur, sondern vor allem eine starke, lebendige, offene Kultur, die Neues annehmen kann und das scheinbar „Fremde“ als Chance der eigenen Entwicklung begreift. Diese Verantwortung trifft uns als Kulturschaffende ebenso unmittelbar wie die Politik, die die Rahmenbedingungen unseres Schaffens und gesellschaftlichen Wirkens bestimmt. Nehmen wir sie wahr – frei von Ressentiments, Kurzsichtigkeit, falsch verstandenen Sachzwängen und unproduktiven Schuldzuweisungen!
In diesem Sinne wünsche ich uns allen schon jetzt ein positiv bewegtes Jahr 2016.
Tobias Könemann
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