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Aktuelle Ausgabe

Editorial von Tobias Könemann
Schaffen wir das?

Kulturpolitik

Brennpunkte
Zur Situation deutscher Theater und Orchester

Lust und Leiden eines „Ost“-Theaters
Claus Dobberke über das Hans Otto Theater Potsdam vor und nach der Wende

Mauerfall und Wiedervereinigung
Thomas Heymann blickt zurück auf die Wendezeit und auf 25 Jahre gemeinsame VdO

Hoffnungen, Ängste, Gänsehaut
Drei VdO-Mitglieder über ihre Erinnerungen an Wende und Wiedervereinigung

Theater Ost – Theater West
Die Sendung „Contrapunkt“ im Jahr 2002 zur Theaterlandschaft vor und nach der Wend

Spätes Erinnern
Die Komische Oper Berlin erinnert mit Stolpersteinen an jüdische Künstler

Klar, transparent, schön
Der Theater-Website-Check: Deutsche Oper am Rhein

Gesundheit

Gefährdungspotenziale und Prävention
Bundesweite Studie zur Tänzergesundheit

Berichte

Der amerikanische Traum
Musical »Ragtime« am Staatstheater Braunschweig

Oper als Reizstoff
Michail Glinkas „Iwan Sussanin“ in Frankfurt

Start in eine neue Ära?
Georges Delnon, Kent Nagano und der Spielzeitstart an der Hamburgischen Staatsoper

Die Hexe als Transvestit
Grandiose Inszenierung von »Hänsel und Gretel« in Neustrelitz

Zu wenig Utopie
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L‘Arlesiana
Francesco Cilea: L’Arlesiana

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Gioachino Rossini: Aureliano in Palmira

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Berichte

Der amerikanische Traum

Musical »Ragtime« am Staatstheater Braunschweig

Es ist eine der Schlüsselszenen dieses Musicals von Stephen Flaherty, das am Staatstheater Braunschweig seine deutsche Erstaufführung erlebte; eine Schlüsselszene, in der sofort deutlich werden könnte, welche Relevanz dieser Broadway-Stoff im Europa der Gegenwart haben könnte. Ein wohlhabender Upper-Class-Man begibt sich zwecks Selbstfindung auf ein Segelschiff zum Nordpol. Im Hafen von New York kommt ihnen ein Schiff mit Einwanderern entgegen, Flüchtlinge aus der Alten Welt, die in Amerika ein besseres Leben suchen.

Alvin Le-Bass als Coalhouse Walker jr., Patricia Meeden als Sarah und das Harlem-Ensemble. Foto: Volker Beinhorn

Alvin Le-Bass als Coalhouse Walker jr., Patricia Meeden als Sarah und das Harlem-Ensemble. Foto: Volker Beinhorn

Im Angesicht der Freiheitsstatue winken sich beide Seiten zu, die einen, denen es so gut geht, dass sie sich Abenteuer-Auszeiten im Eis leisten können – und die anderen, die nichts haben als sich selbst und ein bisschen Hoffnung auf eine Zukunft. Was für ein Potenzial für ein Staatstheater, was für mehrdimensionale, erschütternde Bilder wären möglich gewesen, und das im oft geschmähten Genre des Musicals, das als Kulturgut nur eine begrenzte Wahrnehmung innerhalb des deutschen Feuilletons erfährt. Wenn man sieht, wie am Staatstheater Szenen wie diese aufgelöst werden, weiß man warum.

Da fährt ein Segelschiff, genauer, der Mast eines Segelschiffs auf der Bühne hin und her. Ein Matrose ist damit beschäftigt, die dicken Stoff-Segel zu hissen, bis sie mangels Wind müde vom Mast herabhängen. Aus dem Nebel, der hier eine in Streifen geschnittene Bühnengaze ist, taucht ein zweites Schiff auf, voller dunkler Gestalten. Auf einem der Boote steht ein Kapitän in weißer Sonntags-Uniform. Es ist die Traumrolle eines Statisten, der mit dem goldfarbenen Fernrohr bis in den dritten Rang hinaufspäht. Regisseur Philipp Kochheim sucht in seinen Arbeiten keine Auseinandersetzung mit Amerika, das hat er unlängst bereits mit seiner West-Side-Story auf dem Braunschweiger Burgplatz bewiesen, in der die New Yorker Dächer wie ein Ufo aus einer anderen Zeit über den Problemen unserer Gegenwart schwebten.

Markus Schneider als Jüngerer Bruder und Ensemble. Foto: Volker Beinhorn

MuMarkus Schneider als Jüngerer Bruder und Ensemble. Foto: Volker Beinhornstertext

Es geht Kochheim offensichtlich vielmehr darum, seinen Traum vom Hollywood-Kino mit allerhand Tricks auf der Bühne zu rekonstruieren. Da fährt in der Vorlage ein Pärchen in einem Oldtimer durch die Straßen von New York, auf der Bühne steht natürlich ein sorgfältig in den Werkstätten angefertigtes Holz-Automobil, auf einer Leinwand im Hintergrund laufen Schwarzweißbilder aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Kein Lüftchen soll hier die Illusion stören, kein Zeichen, kein Hinweis, kein Aufblitzen einer Erkenntnis, dass dieser Stoff auch jenseits schöner Kostüme etwas mit uns zu tun hat.

Dafür dürfen die Damen und Herren vom Chor endlich einmal alles geben. In Kostümen wie an einem Filmset lassen sie die Ragtime-Epoche in einem multifunktionalen Ballsaal und Illusionsraum wiederauferstehen, werfen die Beine hoch und schmeißen sich ran, mit allem, was sie haben, an das staunende Publikum. Der amerikanische Traum, in ihren engagierten Gesängen existiert er noch. Black-Facing war gestern, dafür hat das Staatstheater viele dunkelhäutige Sänger ins Ensemble eingekauft, die ihre Aufgabe toll erfüllen, aber ihrer Sache mit dieser unreflektierten Performance keinen Dienst erweisen.

Die Damen und Herren des Chors dürfen endlich einmal alles geben. Sie werfen die Beine hoch und schmeissen sich ran an das staunende Publikum.

Nathalie Parsa als Evelyn Nesbit. Foto: Volker Beinhorn

Nathalie Parsa als Evelyn Nesbit. Foto: Volker Beinhorn

Denn Rassismus und Ausgrenzung existieren auch im Amerika der Gegenwart. Ein Schwarzer, der im falschen Viertel von der Polizei angehalten wird, muss um sein Leben fürchten, nicht nur um den Glanz der Karosserie seines Oldtimers, den böse Buben in Kochheims Puppenstube von der Bühne schieben. Ein weißer Präsident, der auf einem sorgfältig als Kulisse aufgebauten Eisenbahnwagen falsche Versprechungen macht, ist keine gebannte Gefahr, man muss sich nur die Brandreden einiger republikanischer Präsidentschaftsbewerber ansehen. Und auch in Europa hat ein dunkelhäutiger Mensch längst nicht die gleichen Aufstiegschancen wie ein Weißer – im Gegenteil, er wird, wenn er Pech hat, erstmal als Flüchtling eingestuft.

All das interessiert Kochheim nicht. Stattdessen erzählt er brav die Geschichte vom jüdischen Einwanderer nach, der mit nichts nach Amerika kommt, um es dort kraft seiner Kreativität mit seinen Bilderbüchern zum Millionär zu bringen. Randy Diamond schiebt seinen wirklichen pittoresken Holz-Karren nebst süßer kleiner Tochter über die Bühne, um, nachdem er es zu Geld gebracht hat, endlich die schöne Frau aus besseren Kreisen zur eigenen zu machen. Na bitte, funktioniert doch, wer sich anstrengt, schafft es, „and best of all, it´s for sale the American dream“. Das Braunschweiger Publikum jubelt – vielleicht gerade, weil die Gegenwart bei dieser Spielzeiteröffnung des Staatstheaters Braunschweig wirklich ganz weit draußen bleibt.

Alexander Kohlmann

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