Die Hexe als Transvestit
Grandiose Inszenierung von »Hänsel und Gretel« in Neustrelitz
Will Operndirektor Wolfgang Lachnitt in seiner letzten Saison am Neustrelitzer Landestheater noch einmal zeigen, was er und sein Ensemble drauf haben? Mit der Inszenierung von „Hänsel und Gretel“ beweist er das auf jeden Fall, auch wenn es trotzdem ein wenig zu kritteln gibt.
Auf die Frage „erst die gute oder die schlechte Nachricht?“ entscheidet sich der Mensch in der Regel für die schlechte. Daher auch zur Premiere der Oper „Hänsel und Gretel“ in Neustrelitz anfangs die weniger guten Anmerkungen. Im zweiten Bild lässt Komponist Engelbert Humperdinck die beiden Geschwister im Wald einschlafen. Süße Träume begleiten den Schlaf – Träume von Essen und Engeln. Es liegt auf der Hand, dass Regisseure – in der Neustrelitzer Inszenierung Operndirektor Wolfgang Lachnitt – sowie Ausstatter (Sabine Lindner) ihrer Phantasie freien Lauf lassen, wenn es um die Ausgestaltung der Traum-welt geht. Bei dieser Inszenierung hat das Duo allerdings zu dick aufgetragen: Engelchen mit Lichterchen kreisen die beiden Schlafenden ein. Zugleich senken sich am Bühnenhimmel Engelsgesichter herab. Das ist einfach zu kitschig, zu schmalzig.
Bernd Könnes als Hexe. Foto: Tom Schweers
Ansonsten gibt es kaum etwas zu kritteln an der Inszenierung, mit der zugleich die Musiktheater-Saison 2015/16 der Theater- und Orchester GmbH Neubrandenburg/Neustrelitz eingeläutet wird. Sänger und Philharmonie beweisen wieder einmal eine perfekte musikalische Harmonie. Bühnenbild und Kostüme sind stimmig. Sabine Lindner gelingt eine Kombination aus sparsam eingesetzten klassischen Elementen wie der ärmlichen Hütte des Besenbinders mit modernistischen Konstruktionen wie den Riesen-Eulen, die für eine nächtlich-gruselige Waldatmosphäre sorgen. Hinzu kommen jede Menge genialer Regie-Einfälle. So räumen die Waldgeister – elegant dargestellt von jungen Tanzhaus-Tänzerinnen – Stühle und Tische aus dem Besenbinder-Haus von der Bühne, um den Platz für die Waldszenen zu schaffen, ohne dass das Spiel unterbrochen werden muss.
Der außergewöhnlichste Coup ist Lachnitt & Co. aber mit der Figur der normalerweise furchteinflößenden Knusperhexe gelungen. Lachnitt hat seiner Hexe, dem Sänger Bernd Könnes, eine rote Perücke aufgesetzt und sie in ein schillerndes Kleid und Netzstrumpfhosen gesteckt. Damit kommt die Alte eher wie ein Transvestit denn wie eine gefährliche Kinder-Esserin daher. Doch dank seiner Stimmgewalt macht Könnes schnell klar, wer im Hexenhaus die Herrin ist. Könnes erhält als einziger Darsteller Szenenapplaus – kurz bevor die Hexe im Ofen mit einem herrlichen Knall explodiert.
Zwischenapplaus hätten alle anderen Sänger auch verdient, allerdings lässt das flott vorgetragene Stück kaum Gelegenheit dafür. Allen voran glänzen Gretel (Rebekah Rota) und Hänsel (Lena Kutzner) mit Gesang und Spiel. Rebekah Rota gibt ein zartes Mädchen, das unter den Neckereien ihres Bruders leiden muss, im Kampf gegen die Hexe dann aber Mut beweist. Lena Kutzner zeigt, wie universell sie einsetzbar ist. Sie spielt einen wunderbar tollpatschigen Hänsel.
Es liegt in der Natur des Hänsel-und-Gretel-Themas, dass die Eltern nur eine untergeordnete Rolle spielen, was die Bühnenpräsenz betrifft. Diese füllen Sebastian Naglatzki als Besenbinder und Vater sowie Marion Costa als seine Frau gewohnt professionell aus. Es ist einfach nur Wahnsinn, wie Naglatzkis Stimme mit einem der berühmtesten Lieder der Oper den Saal füllt: „Hunger ist der beste Koch! Ja, ihr Reichen könnt euch laben, wir, die nichts zu essen haben, nagen ach, die ganze Woch‘, sieben Tag‘ an einem Knoch.“ Zusammen mit den Damen des Tanzhauses, des Opernchores und dem Kinderchor der Grundschule Kiefernheide in Neustrelitz sorgen die Musiker für eine grandiose Inszenierung.
Minutenlanger Beifall und ein stehendes Publikum belohnten zur Premiere alle Darsteller. Lachnitt beweist wieder einmal, was in dem kleinen, aber feinen Musiktheater-Ensemble steckt, dessen Schicksal mit der Theaterreform allerdings wohl besiegelt ist. Der Operndirektor verlässt mit dem Ende der Saison das Schiff. Zuvor gibt er den politischen Entscheidungsträgern in seiner Eröffnungsrede aber noch gewichtige Worte aus der Humperdinck-Oper mit auf den Weg: „Merkt des Himmels Strafgericht: Böse Werke dauern nicht. Wenn die Not aufs höchste steigt, Gott der Herr sich gnädig zu uns neigt!“
Frank Wilhelm |