|

Mangelnde Programmvielfalt
Fünf Jahre Simone Young in Hamburg · Eine Zwischenbilanz
von Christian Tepe Als im Oktober 1955 das neue Hamburger Opernhaus an der Dammtorstraße
eröffnet wurde, ging dies mit einer Serie von zehn Premieren
binnen eines halben Monats, darunter sechs Neuinszenierungen, einher.
Neben der Uraufführung von Kreneks „Pallas Athene weint“ und
der deutschen Erstaufführung von Egks „Irischer Legende“ standen „Don
Carlos“ und „Aida“ auf dem Festwochenspielplan.
Auch in der Saison 2009/2010 gab es in Hamburg im März wieder
eine „Aida“-Premiere – jedoch erst als vierten
und zugleich auch schon letzten Abend mit szenischen Neuproduktionen
auf der Hauptbühne in der gesamten Spielzeit.
Zeitgenössisches im Abseits
Hamburg befindet sich damit inzwischen auf einer Höhe mit
der Wiener Staatsoper oder dem Aalto-Musiktheater in Essen, jedenfalls
was den Missstand der geringen Zahl von Opernpremieren im großen
Haus betrifft. Jene „Balance zwischen unterschiedlichen Spielplanlinien“,
die Intendantin und Generalmusikdirektorin Simone Young zu Beginn
ihrer Amtszeit im Herbst 2005 versprochen hatte, vermag sie so
kaum noch zu realisieren. Und die Marginalisierung des zeitgenössischen
Opernschaffens ist eine weitere, beinahe zwangsläufige Folge.
Seit den Zeiten Rolf Liebermanns war es in Hamburg üblich
und dann über die Jahre zu einem ausgewiesenen Erkennungszeichen
des Hauses geworden, dem breiten Publikum einen umfassenden Eindruck
von der aktuellen Entwicklung der Kunstgattung Oper zu vermitteln.
Mit dieser guten Tradition hat Simone Young gebrochen, worüber
auch die kürzlich erfolgte Uraufführung eines harmlosen
Einakters von Oscar Strasnoy oder die deutsche Erstaufführung
von Brett Deans „Bliss“ im September 2010 nicht hinwegzutäuschen
vermögen. Youngs Spielplangestaltung zielt da eher auf Werke,
die man schon vor einem halben Jahrhundert gerne mit dem leicht
mokanten Etikett von der „gemäßigten Moderne“ titulierte.
Mit Henze, Britten und Hindemith versucht sie Akzente zu setzen;
und ihre musikalische Interpretation von „Mathis der Maler“ rehabilitierte
tatsächlich ein hartnäckig verkanntes Meisterwerk. Verlust der Legitimation
Für die magere Anzahl von Neuproduktionen entschädigt
auch nicht die regelmäßige Ansetzung konzertanter Premieren.
Als ein vollends theaterfremder Einfall ist es zu bewerten, wenn
jüngst ausgerechnet Umberto Giordanos Revolutionsoper „Andréa
Chénier“ zum
handlungslosen Stück ohne Spiel entstellt wurde. So verliert
eine Kunstgattung ihre Legitimation. Konzertante Aufführungen
depotenzieren die Oper – von Werner Egk einmal trefflich
als „die höchste Potenz des Theaters überhaupt“ apostrophiert – zur
unverbindlichen Singshow. Sie verweigern genau das, was doch den
Reiz der Auseinandersetzung mit dem Repertoire ausmacht: die Befragung
eines historischen Sujets aus gegenwärtiger Sicht mit allen
Zaubermitteln der Theaterkunst. Woran es den ersten fünf Jahren
von Simone Young an der Alster also mangelt, das sind die alles
durchglühenden gestalterischen Ideen und der dezidierte Wille
zu einer reflektierten Zeitgenossenschaft.
Die Ursache für diese Problematik liegt weniger in der geistig-künstlerischen
Individualität Youngs als in der strukturellen Fehlentscheidung,
die Ämter der Chefdirigentin und der Theaterleitung in einer
Person zu vereinen, so dass die Superintendantin natürlich
besonders das spielen lässt, was die ambitionierte Generaldirektorin
gerne dirigieren möchte, mithin viel Wagner und Richard Strauss,
die ja an einem Haus mit 125 festangestellten Orchestermusikern
tatsächlich auch ihren Platz haben sollten. Nur: Seitdem auch
kleinere und mittlere Bühnen wie Detmold oder Lübeck
mit „Der Ring des Nibelungen“ reüssieren, wird
eine solche Ansetzung in Hamburg, obgleich einem Claus Guth die
Regie anvertraut wurde, nicht per se als singuläre künstlerische
Großtat wahrgenommen oder gar als ein Alleinstellungsmerkmal
anerkannt. Die Anekdoten über die allerorten beinahe unvermeidlichen
Zwistigkeiten zwischen Intendanz und musikalischer Leitung füllen
ganze Bücherregale. Das Beispiel Hamburgs lehrt nun, was es
bedeutet, wenn dieses mitunter auch sehr produktive Spannungsverhältnis
gänzlich fehlt. Zu welchen Ergebnissen es führen kann,
wenn der Dirigentinnenstab die Spielpläne schreibt, zeigt
beispielhaft die Premierenplanung für die Saison 2007/2008,
als auf die Reprise der Reprise von Marco Arturo Marellis „Rosenkavalier“-Inszenierung
auch noch eine mit Wien koproduzierte „Arabella“ folgte.
Aber während die kommod-gefällige Interpretation von
Sven-Eric Bechtolf mit dem altgoldenen Ambiente der Wiener Staatsoper
ausgezeichnet harmonisierte, wirkte die szenische Einrichtung derselben
Produktion durch Karin Voykowitsch im sachlich-kühlen Gehäuse
der Hamburger Theaterarchitektur von Gerhard Weber ziemlich verloren.
Dass die architektonische Gestaltung eines Opernhauses beim Gesamtkunstwerk
Oper quasi immer mitspielt und eine bestimmte Ästhetik oder
zumindest die bewusste Abgrenzung und Auseinandersetzung mit ihr
erheischt, ist ein Aspekt, der bei Übernahmen und Koproduktionen
ohnehin zu wenig beachtet wird. Unüberlegter Import Aus der Wiener Staatsoper, so scheint es, wurde unter Simone
Young nicht allein die „Arabella“, sondern auch ein wesentlicher
Teil der Gesamtauffassung vom Opernmachen in die Hansestadt importiert.
Hier ist die stärkere Fokussierung auf die Sänger ins
Feld zu führen, wobei Youngs Besetzungsentscheidungen wie
im Falle von Ha Young Lee in der Titelpartie von „Lucia di
Lammermoor“ bisweilen nicht überzeugen. Verdienstvoll
ist die sorgfältige Pflege des Repertoires, dessen Stellenwert
die Chefin auch dann, wenn sie nicht selber dirigiert, durch häufige
abendliche Präsenz im Haus unterstreicht. Zudem deutet das
vermehrte Buhlen um die Aufmerksamkeit der Touristen auf das Wiener
Modell hin. Außer Acht gelassen wird bei dieser Orientierung
aber die Vielfalt der Wiener Opernlandschaft, vor deren Hintergrund
das Profil der dortigen Staatsoper, die übrigens viel wagemutiger
als ihr Ruf ist, sich als durchaus zweckmäßig erweist.
In der Hansestadt fehlt es dagegen an der überaus belebenden
Konkurrenz von drei großen Opernhäusern, wodurch sich
das Aufgabenspektrum des Hamburger Monopolisten deutlich verändern
und vergrößern muss, ganz zu schweigen von den grundverschiedenen
Mentalitäten und geistigen Bedürfnissen in den beiden
Metropolen. Hinzu kommt nicht zuletzt die erwähnte Spezifik
der Gebäude.
In diesem Zusammenhang lohnt es sich, die Worte in Erinnerung
zu rufen, die Günther Rennert 1955 in seiner Festansprache zur Übernahme
des neuen Hamburger Opernhauses an der Dammtorstraße fand: „Es
liegt durchaus auf der Linie des Hamburger Bürgertums, dass
wir einen Zweckbau und nicht ein restauriertes, auf Repräsentation
abgestelltes Opernhaus errichtet haben. Es geht nicht um äußeren
dekorativen Glanz, sondern um die wirkungsvolle Darstellung dessen,
was wir als Sinn und Aufgabe unseres Lebens erkennen möchten.“ – Sinn
und Aufgabe unseres Lebens als Wertmesser der Kunst! Wenn es stimmt,
dass dies heute als eine fast schon verpönte Ausdrucksweise
gilt, dann drohte dem Musiktheater nicht durch ausbleibenden Publikumszuspruch
oder leere Kassen, sondern vielmehr durch ein geistiges Vakuum,
durch eine zum Prinzip erhobene ästhetische Konzeptionslosigkeit
der Garaus. Simone Young jedenfalls hat sich dem von Rennert umrissenen
Anspruch als Intendantin noch nicht in der wünschenswerten
Konsequenz gewachsen gezeigt. Die Staatsoper Hamburg hat damit
ihre Relevanz als eines der richtungweisenden Operninstitute Europas
vorerst eingebüßt. Christian Tepe |