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Bewegtes Singen bewegt
Zum Aktionstag der Deutschen Chorjugend · Von Robert Göstl
Wer singt, muss sich auch bewegen können: Aus dem Blickwinkel
der chorischen Stimmbildung heraus ist diese Forderung mittlerweile
beinahe ein Allgemeinplatz. Die meisten Chorleiterinnen und Chorleiter,
auch viele Sängerinnen und Sänger wissen: Wenn der ganze
Körper am Singen beteiligt ist, lösen sich stimmtechnische
Schwierigkeiten, werden ungeahnte Leistungen erreicht und auch
der Klang wird schlichtweg besser. Wer singt, sollte sich also
bewegen.
„Singen bewegt“ ist auch das Motto eines bundesweiten
Aktionstages der Deutschen Chorjugend (DCJ) am 2. Oktober 2010.
In der DCJ sind
derzeit etwa 100.000 Kinder und Jugendliche in circa 3.500 Chören
erfasst, die Zahlen sind im Segment der jungen Menschen hier wie
auch in anderen Verbänden im Wachsen begriffen. Es bewegt
sich also etwas, nicht nur rein stimmbildnerisch betrachtet, sondern
auch in Zahlen messbar.
Zu deuten wäre „Singen bewegt“ jedoch noch etwas
anders. Keine Sorge: Wer an dieser Stelle überlegt, nicht
mehr weiterzulesen, weil sie oder er fürchtet, eine weitere
der in letzter Zeit beinahe Mantra-mäßig wiederholten
Aufzählungen zu lesen, dass Singen intelligent macht und das
Sozialverhalten positiv beeinflusst, der hat es hiermit schon überstanden.
Diese Aussagen enthalten zwar auch einen Kern Wahrheit, und wenn
sich die so genannten Entscheidungsträger davon noch beeindrucken
lassen, so seien diese Argumente gerne immer wieder angeführt.
Aber gemeint ist noch einmal etwas anderes.
Die deutsche Sprache sagt oft mehr, als vordergründig aufscheint:
Jemand „geht“ in den Schulchor, jemand „besucht“ eine
Singschule, man „kommt“ zur Singstunde. All das sind
Wendungen mit Verben, die eine aktive Bewegung bezeichnen. Wer
in organisierter Gemeinschaft singen will, muss sich bewegen, darf
nicht zu bequem sein und braucht dazu vor allem eines: den nötigen
Antrieb. Heute nennt man den wohl landläufig Motivation, und
es wird interessanterweise vor allem von (Musik-)Pädagogen
und Chorleitern verlangt, dass sie Kinder und Jugendliche motivieren
können. Konstatiert wird damit etwas überspitzt ausgedrückt:
Diejenigen, die man zum Musikmachen oder zum Singen bewegen will,
haben keine Motivation dazu, man muss diese von außen an
sie herantragen, um den Karren in Bewegung zu bringen.
Und dann? Selbstverständlich stimmt es, dass mancher geradezu
Leidenschaft für eine Sache entwickeln kann, der er sich zunächst
nur ohne Lust und vielleicht sogar unter Druck gestellt hat. Schule
hätte sich ad absurdum geführt, wenn nur noch die Kinder
lesen lernen würden, die von vorne-herein einen großen
Drang dazu verspüren. Aber beim Stichwort „Schule“ und
den damit zusammenhängenden Debatten scheint die Problematik
auf, die einen durchgreifenden Wandel in unserer Gesellschaft dem
aktiven Musizieren gegenüber verhindert. Wenn allenthalben
Lern- und Entwicklungspsychologie sowie Hirnforschung bemüht
werden müssen, um Pädagogen und Eltern davon zu überzeugen,
dass aktives Musizieren ihren Sprösslingen zu besseren Entwicklungsmöglichkeiten
und zu einer „besseren Zukunft“ verhelfen kann, dann...
ja dann ist die musikpädagogische Bewegung zu einem Sisyphusakt
des Buhlens um Aufmerksamkeit und der Konkurrenz mit mathematisch-naturwissenschaftlichen
Disziplinen und den Sprachen verdammt; ein Kampf gegen vor allem
beruflich und damit wirtschaftlich existenzielle Disziplinen, den
man nur verlieren kann. Im Überangebot dessen, was man als
Kind oder als Eltern für das Kind „tun“ kann,
werden sich die Musik und das Singen immer nur am bildungsbürgerlichen
Rand behaupten können – eine nachhaltige und alle Gesellschaftsbereiche
erfassende Singbewegung werden wir so nicht erleben. Das klingt
skeptisch und das ist es offen gestanden auch. Diese Skepsis jedoch
bezieht sich hier einmal nicht auf die ach so singunfähigen
Erzieherinnen in Kindergärten oder auf
den im Schwinden begriffenen Musikunterricht in unseren allgemein
bildenden Schulen (beide wie viele weitere Standard-Lamentationen über
das verstummende Deutschland verkürzen die Darstellung einer
Landschaft mit vielen positiven Gegenbeispielen auf unverantwortliche
Weise), sondern sie bezieht sich auf die Tendenz der Gegenmaßnahmen.
Um Missverständnisse zu vermeiden: Dies ist kein Plädoyer
gegen Aufklärung und Aufrüttelung der Öffentlichkeit
oder gegen eine Qualifizierungsoffensive in den einschlägigen
Lehrberufen oder gegen plakative Großveranstaltungen zum
Thema, die medienwirksam positioniert werden. All das ist wichtig.
Aber die Durchschlagskraft der vielen Bewegungen, vom „Felix“ für
Kindergärten über die vielen Schulinitiativen bis hin
zu dem ein ganzes Bundesland erfassenden „Bündnis für
das Singen mit Kindern“ in Baden-Württemberg, bleibt
dürftig, wenn die Adressaten – die Kinder und Jugendlichen – mit
pädagogischer Finesse zum Singen getragen werden müssen
wie der sprichwörtliche Hund zum Jagen.
Sir Simon Rattle sieht laut einiger Interview-aussagen, die sich
wohl ohne grobe Fahrlässigkeit tatsächlich auf diesen
Satz verkürzen lassen, die Zukunft der klassischen Musik in
Venezuela. Der Grund dafür ist, dass die „Bewegung“ (notabene!)
ihren Antrieb aus einem doppelt existenziellen Bedürfnis bezieht.
Aus dem Antrieb eines Maestro Abreu mit seinen Freunden und engsten
Mitstreitern und aus dem der Kinder und jungen Menschen, die am
eigenen Leib und an der eigenen Seele erfahren, dass die Musik
ihr Leben verändert und ihm eine Perspektive gibt. Man darf
zu Recht bezweifeln, ob unsere mitteleuropäische und auch
deutsche Sattheit einen solchen gesunden Hunger noch entstehen
lassen kann.
„
Singen bewegt“ wäre ein gutes Motto, um dieser doppelseitigen
Motivationsgrundlage in Bezug auf unsere Breiten und das Singen
in Gemeinschaft, im Chor nachzuspüren. Denn sicher braucht
es einen „Aktionstag“ und sicher sind alle lokalen,
regionalen und bundesweiten beziehungsweise zentralen Veranstaltungen
hilfreich und wichtig, um das gemeinsame Anliegen so vieler engagierter
Menschen bei uns voranzubringen. Aber tragen wird das alles nur,
wenn jede und jeder, der agiert und versucht, zu motivieren, noch
Zeit und Muße findet, dieses so unglaublich bewegende Gefühl
zu spüren, dass das eigene Singen die eigene Existenz beseelt
und beglückt, sie damit stärkt und festigt. Wenn zwei
Prozent aller in Vorträgen, in Workshops, in Hochschulveranstaltungen,
in Artikeln, in Diskussionen und in Verbandssitzungen aufgewendeten
Zeit dafür eingesetzt werden würden, wären wir ein
großes Stück weiter. Wer bewegt singt, wird bewegen.
Robert Göstl
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