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Schöpferische Restauration
Opernproduktionen bei den Salzburger Festspielen · Von Frieder
Reininghaus Dass das Unternehmen fortdauernd erfolgreich und zur Nummer eins
aufsteigen würde, war ihm nicht an der Wiege gesungen: Die
Planung der Salzburger Festspiele durch Hugo von Hofmannsthal,
Max Reinhardt, Richard Strauss und andere vollzog sich 1919 im
revolutionsgebeutelten Wien unter ungünstigen Umständen. Österreich
war durch den Vertrag von Saint-Germain-en-Laye auf ein Zehntel
seines Staatsgebiets gestutzt worden (fast niemand im In- und Ausland
hielt den „Rumpfstaat“ für überlebensfähig).
Um so trotziger fiel der intellektuelle Reflex auf das politische
Desaster aus: Statt mit Armeen und Heiratspolitik sollte das Land
künftig kulturell an der Gestaltung Europas mitwirken.
Rüstiger Patient
Dem Vordenker Hofmannsthal ging es angesichts des Jammers um
das abhanden gekommene Kakanien nicht nur (wie Reinhardt) um eine
künstlerische
Sommerfrische im damals rückständigen Salzkammergut,
dessen Fremdenverkehrsgewerbe es aufzuhelfen galt, oder (wie Strauss)
um einen neuen Absatzmarkt, sondern um neuerliche Hegemonie: „Schöpferische
Restauration“ war seine Parole. Zum 90. Geburtstag des Festivals
wurde sie beherzigt. Nachdem Wolfgang Rihm im Mai 2009 bei den
Schwetzinger Festspielen sein „Proserpina“-Monodram
aufführen ließ (Text: Goethe), schrieb er nach 15-jährigem
Vorlauf für die Salzburger Festspiele mit „Dionysos“ ein
weiteres Musiktheaterwerk über die Einsamkeit. Dieses Mal
galt es der des Mannes. Der belesene Komponist stützte sich
dabei auf die späten „Dionysos-Dithyramben“ von
Friedrich Nietzsche.
Wie es von Anfang an guter Brauch des Festivals an der Salzach
war, haben sich auch für die Eröffnungsshow 2010 fünf
Geschäftsleute zusammengefunden, die jeweils unter den Branchenführern
rangieren: Neben Rihm der Maler Jonathan Meese aus Berlin-Mitte
(hübsch-ungebärdig), Pierre Audi (von der Regie Edelstill),
Ingo Metzmacher (vom Dienstleister Modern Solide) sowie Jürgen
Flimm (als amtlicher Generalunternehmer von Adabei). Dirigent Metzmacher
lobte zu Recht die Flexibilität des Wiener Staatsopernchors,
der zunächst nur aus dem Off singen sollte, dann aber doch
noch als wirkungsmächtige Säule der Produktion auf die
Bühne geholt wurde.
Sechs Szenen spielen im „Dionysos“ auf finale Lebensstationen
Nietzsches an: Zuerst geht der Blick auf einen Alpensee und unerfüllte
erotische Obsessionen des Philosophen hinsichtlich Frau Cosima,
die sich mit dem Kapellmeister Wagner verbunden hatte: „Ich
bin dein Labyrinth.“ Die Partie der Ikone wird hinreißend
gesungen (als wäre sie neuerlich Proserpina!) von der mit
Leichtigkeit in höchste Höhen abhebenden Mojca Erdmann.
Meese setzt große Symbole, zum Beispiel spitze Pyramiden
als Stellvertreter der einsamen Bergspitzen neben seine breiten
Pinselstriche und nimmt die „Opernphantasie“ ziemlich „naivisch“.
Mit Besuchen in Salon und Bordell bei vier „Hetären“ wird
die Sache theatral lebendiger.
Den Protagonisten N. bestreitet Johannes Martin Kränzle vorzüglich – als
dis-tinguierten Denker wie als in einen Strudel gerissenen Mann
stets mit guter Verständlichkeit der Worte. Der Wanderer gelangt
in eine Art Atelier. Dort gibt er zuerst einen Liederabend. Dann
zieht ihm der für den Gesang zuständige Gott Apoll die
Haut ab. Diese wird Zeuge, wie in Turin das legendäre Pferd
geschlagen wird. Der Gaul und die Pelle sinken in Ariadnes Arme.
An Nietzsches Denken und dessen Folgen reicht das delikate Menü nicht
wirklich heran. Rihm lieferte ein reflektiertes Oratorium mit differenzierten
Fließgeschwindigkeiten. In ihm finden sich hinreißende
Sirenengesänge am Abgrund, eindringliches Trommeln in der
heraufziehenden Nacht (auch unter Einsatz der aus der Karibik stammenden
Steeldrum), aufgewühlte Bach-Überschreibungen mit Chor-Wucht
und Mahler-Reminiszenzen. Vor allem aber wunderbare „Straussiana“ – bis
hin zum Rückgriff auf die „Alpensinfonie“, Echolote
und Terzenseligkeit. Richard Strauss erscheint ohnedies als großes
Vorbild. Insgesamt war im „Haus für Mozart“ ein
erfahrungsgesättigter, handwerklich versiert gefertigter,
leuchtkräftiger Musikabend zu erleben (manche meinen, er gliche
einem Lampenladen): das Dionysische gleichsam sozialversichert
und im Rahmen der Brandschutzverordnung.
Orpheus in Banalien
Die in ihren Lüsten, Lastern und Schulden verlebte herrschende
Kaste hatte Katzenjammer, als Glucks „Orfeo“ 1762 in
Wien erstmals auf die Bühne kam: Der weltweit geführte
Siebenjährige Krieg hatte für das schon so gut wie besiegte
Preußen eine günstige Wendung genommen: Österreich
musste Schlesien endgültig
an den großen innerdeutschen Rivalen abtreten. In dieser
Situation, in der ein „Ruck“ durchs Land gehen sollte,
kam das Stichwort von der „Reformoper“ gerade recht.
Ein Dutzend Jahre nach dem Frieden, durch den Frankreich die ostasiatischen
Besitzungen und sämtliche Kolonien zwischen Florida und Kanada
an England abzutreten hatte, erschien das weitgehend überarbeitete
Werk in der Pariser Salle des Tuileries als „Tragédie-opéra“:
Im Mai 1774 wurde Louis XVI. inthronisiert und Marie Antoinette
an seiner Seite Königin. Indem reine Schönheit und Liebe
beschworen wurden, kam das Werk wie gerufen, um von den drängenden
Problemen des Alltags abzulenken.
Dieter Dorn inszenierte den politisch derart gerahmten „Orfeo“ nun
in Jürgen Roses Guckkasten, der die riesig breite Bühne
des Großen Festspielhauses verengte. Die Mitglieder des von
Thomas Lang bestens vorbereiteten Wiener Staatsopernchors treten
als Partygesellschaft durch die Öffnungen im Rundhorizont,
um in einem lichten, in weiß und hellblau gehaltenen Niemandsland
dem jungen Glück des Künstlerpaares Orfeo und Euridice
zu gratulieren. Jäh entgleitet Orfeo die Gattin durch einen
Schacht nach unten. Ihr rotes Kleid bleibt auf der weiten Fläche
liegen, wird von den nun rasch mit schwarzen Mänteln versehenen
Chorsängern mit Steinen bedeckt, dann durch Blumen und Kerzen
zu einer jener Gedenkstätten aufgestockt, die sich heute dort
einfinden, wo Katastrophenopfer zu beklagen sind.
Ein Sextett der alabasterfahlen olympischen Götter fährt
auf einem fliegenden Teppich in die lichten Weiten der Unterwelt.
Längere Strecken der eigentlich dem Ballett vorbehaltenen
Musik werden für eine Pantomime über die grundsätzliche
Unvereinbarkeit der männlichen und der weiblichen Interessen
und Wünsche genutzt. Riccardo Muti hat hörbare Mühen
mit den Wiener Philharmonikern. Hingegen überzeugen Christiane
Karg (Amore) mit einem nicht nur in der Höhe strahlenden Sopran,
Genia Kühmeier (Euridice) mit warmer intensiver Tongebung
und insbesondere Elisabeth Kulman mit ihrem elegisch austarierten
schlanken Alt. So bekam das Premierenpublikum (Preis pro Platz
bis 370 Euro) Liebesgrüße aus vergangenen Zeiten – aus
jenen des Ancien Régime und des althergebrachten Stadttheaters.
Lulu aus Trivialien
Das deutsche Stadttheater modernisiert sich in diffuser Weise.
Als eine der Leistungsträgerinnen dient sich dabei die aus
Rumänien stammende Regisseurin Vera Nemirova an, deren Bemühung
um „Lulu“ von Daniel Richter mit großflächigen
Bildern und Installationselementen bedacht wurde. Die Räume
für die ersten beiden Ehen der aus der Gosse aufsteigenden
Göre wurden mit einem riesigen Bild möbliert, das aussieht,
als fertige es ein Chagall-Schüler gerade an. Indem es sich
dreht, kommt für die Theaterwelt des Komponisten Alwa ein
teilweise erblindeter Spiegel zum Vorschein, der dem Publikum in
der Felsenreitschule vorgehalten wird. Die vielen Gesichter sind
dann das wesentliche Kennzeichen der grellen Tapete, die – hinter
einer großen schwarzen Pyramide für die dunklen Gestalten
aus Lulus Vergangenheit – das Domizil des Dr. Schön
ziert. Das einseitige Glück mit dem Chefredakteur endet in
einer – zugunsten der Frau interpretierten – bewaffneten
Auseinandersetzung. Die Halb- und Finanzwelt am Fluchtort Paris
beordert Nemirova, ganz nach der Art ihres Vorbilds Konwitschny,
in die ersten Reihen des Parketts – der Komponist Wolfgang
Rihm und seine Begleiterin durften mitwirken und passten gut ins
Bild. Für den endgültigen Abstieg auf den Straßenstrich
dient Richter eine breitformatige Winterlandschaft an und lässt
die schwarze Pyramide kippen: Sie stellt jetzt einen Dachgiebel
dar, unter dem die trostlosen Verrichtungen vonstattengehen, Alwa
erwürgt und Lulu erstochen wird.
Patricia Petibon, eine zierliche, schlanke Gestalt und Stimme,
hebt kapriziöse Aspekte der Titelrolle hervor. Grandios und
mit Appeal ihr Gegenspieler: Michael Volle als Dr. Schön und
Jack the Ripper, souverän und suggestiv. Franz Grundheber
verleiht dem alten Stadtstreicher Schigolch Würde. Tanja Ariane
Baumgartner behält als Gräfin Gesch-witz mit ihrem satt-samtenen
Mezzo das letzte Wort. Marc Albrecht sorgt für die Balance
zwischen Begleitfunktion und Hervorhebung der Bläser- und
Schlagwerkeffekte. Auch das in Friedrich Cerhas Vervollständigung
des dritten Akts aufblühende Streicher-Espressivo kommt nicht
zu kurz. Gefühlte Defizite hinterlässt die Regie: Dem „gewaltigen
Andante der Wollust“, von dem Alwa singt, bleibt Nemirovas
Normalisierung allzu viel schuldig. Dem historisch Materiellen
von Wedekinds Text und Bergs Musik alles. Man erhält zu den
oben erwähnten Preisen schicke Grüße aus Trivialien.
Frieder Reininghaus |