Opernsänger sind keine Orgelpfeifen
Ein Kommentar von Bernd Weikl
Als Stellungnahme zum Artikel „Keine Angst vor dem Stimmarzt“ von
Dirk Deuster in „Oper & Tanz 1/10“ erreichte uns
ein Brief von Bernd Weikl, in dem er sich aus der Sicht des Sängers
und Professors zu den Inhalten des Beitrags äußert und
den wir hier gerne abdrucken.
Mit dem aufrechten Gang unserer menschlichen Vorfahren senkte
sich die Kehlkopfposition und damit auch der sich darin befindliche
Kehldeckel. Mit dieser stetigen Vergrößerung des Mund-
und Rachenraumes ist ein Hohlraum entstanden, in welchem bei entsprechend
willentlichem Anstoß die von den Stimmbändern (Stimmlippen)
im Kehlkopf produzierten Schwingungen in der Atemluft verstärkt
werden können. Als Geräusche oder Töne vernehmen
wir sie über unser Gehör. Die Stimmbänder werden
aber keinesfalls durch ausströmende Atemluft in Schwingungen
versetzt! Nur durch einen gedanklichen Anstoß - auch was
die jeweilige Tonhöhe und Klangstärke betrifft.
Stimmbilden bedeutet ein Regenerieren des sonst verkümmernden
Organs hin zu einem naturgewollten Zustand, der aufgrund eines
offensichtlichen Bedürfnisses im Laufe von vielen hunderttausend
Jahren Evolution entwickelt wurde. Die Mehrzahl unserer Zeitgenossen
besitzt alle stimmlichen Anlagen, benützt sie aber nur mangelhaft.
Analog zum Corpus einer Bassgeige oder eines Konzertflügels
dürfen wir unser Instrument möglichst nicht unter der
Last oder Freude der Beanspruchung räumlich verändern.
Also werden auch unsere Lungen nicht bei jeder Gesangsphrase völlig
entleert, sondern behalten immer soviel Restluft, dass der minimale
subglottische Druck der ausströmenden Atemluft konstant gehalten
werden kann. Unser Instrument darf sich also niemals gravierend
verkleinern. Darstellerische Aktivitäten auf der Bühne,
welche die Atemluft tangieren und damit auch Einfluss nehmen auf
die Größe des Instruments, behindern die (professionelle)
gesangliche Aussage. Die Kunstformen Schauspiel und Oper unterscheiden
sich auch hier ausdrücklich!
Unsere Lungen können sich organisch nur nach unten ausdehnen.
Alles Schultern-Hochziehen bleibt ohne positives Ergebnis. Im Gegenteil,
dadurch wird auch die Hals- und Nackenmuskulatur aktiv und beeinflusst
unseren Kehlkopf und damit auch die Stimmbänder negativ.
Beim laienhaften Singen sind nicht immer alle Vokale im Mund-
oder Rachenraum an derselben Stelle positioniert. Um unseren Gesang
zu „fokussieren“ (Beispiel: Gebündelter Lichtstrahl)
suchen wir hier für alle Vokale einen möglichst gemeinsamen
Platz in unserem Ansatzrohr. Man nennt das einen Vokalausgleich.
Der Mundraum, Kehldeckel, Gaumen, die Zunge und Lippen fungieren
dabei wie der Trichter einer Trompete. Vokale entstehen nur im
Ansatzrohr und nicht zwischen den Lippen.
Ein Hertz (Hz) ist die Tonschwingung von einer Sekunde, die in
Luft gemessen eine Wellenlänge von dreihundertvierzig Metern
aufweist. Natürliche Töne bestehen aus sich überlagernden
Schwingungen, einem Grundton und so genannten Obertönen, welche
in mathematischen Abständen darüber liegen. Dort, wo
sich Obertöne bündeln entsteht ein für unsere Zwecke
günstiger Formant. Er hilft die Stimme zu „fokussieren“.
Der Vokal A hat dabei die günstigste Anzahl Hz (Frequenz)
für unser Anliegen, immer gut hörbar zu sein.
Durch eine tiefe Kehlkopfposition (Einatmen durch die Nase) und
eine Öffnung des Mundinnenraums wie zu einem Gefäß erreichen
wir auch für die Vokale E, I oder U usw. eine Annäherung
an den physikalischen und daher akustischen Vorteil von Vokal A,
also eine bessere Tragfähigkeit für alle Vokale. Professionelles
Singen ohne elektroakustische Hilfen muss sich also von der Umgangssprache
entfernen. Dies ist eine Hauptaufgabe der Stimmbildung.
Ein Abflachen der Zwerchfellkuppel nach unten hindert die Luft
am raschen Austritt aus unseren Lungen. Die Luftsäule in unserem
Ansatzrohr - dem Rachen- und Mundraum gibt jetzt dem gesungenen
Ton die Möglichkeit, sich mit Vibrato zu projizieren. Solche
Töne erreichen dann den Zuschauerraum - auch über ein
dickes Wagner- und Straussorchester hinweg.
Auch durch Resonanzvorstellungen, ein Hindenken in bestimmte Kopf-,
Hals-, Brust- oder Nackenpartien - um diese in der Vorstellung
für den Aufbau eines Stimmklangs zu „öffnen“ oder
zu aktivieren - wird das komplexe Zusammenwirken aller zum Singen
benötigten Körperfunktionen beeinflusst.
Die Stimmlippen lassen sich nicht trainieren und sollen auch nie über
die Maßen beansprucht werden. Entsprechendes Körpertraining
zur Aktivierung der Muskulatur rund um das Zwerchfell ist die eigentliche
Aufgabe. Ein „Waschbrettbauch“ oder Jogging sind kontraproduktiv
...
Bernd Weikl
Kammersänger
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