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Macht und Ohnmacht der Gefühle
Auftragsopern von Reimann und Kalitzke in Wien · Von Christian
Tepe
Wie ein Monolith steht das Opernschaffen Aribert Reimanns in der
zeitgenössischen Musiktheaterlandschaft da. Unbeirrt von aller
experimentellen Verunsicherung der Gattungsgrenzen ist jedes neue
Bühnenwerk Reimanns ein Bekenntnis zur Oper und damit zur
Magie des menschlichen Gesangs. Und paradoxerweise verleiht gerade
diese selbstgenügsame Unbekümmertheit gegenüber
den jeweiligen ästhetischen Trends seinen Opern eine oft beklemmende
Aktualität.
Eindringlicher Beleg dafür ist die Ende Februar an der Wiener
Staatsoper als Auftragswerk uraufgeführte „Medea“ nach
dem Trauerspiel von Franz Grillparzer. Seit „Lear“ hat
Reimann die Einsamkeit des modernen Menschen, das brutale Ausgeliefertsein
des Menschen an eine ihm feindselige Welt mit ebenso bedrohlichen
wie zerbrechlichen Klangchiffren beklagt. „Medea“ handelt
nun von einem weiteren existentiellen Ausnahmezustand: Es geht,
wie man heute wohl sagen würde, um ein Migrantenschicksal.
Ein Thema also, das unter dem Schlagwort der „Integration
von Zuwanderern“ im großen Stil medial ausgeweidet
und politisch instrumentalisiert wird: Man pocht auf Integration
als einseitige Anpassungsleistung. Natürlich liegt Reimann
nichts ferner, als dieser leidigen Diskussion noch eine weitere
These hinzuzugeben. Die Musik seiner neuen Oper schildert einfach
nur, wie sich Integration wohl für diejenigen anfühlen
mag, die gezwungen sind, sich unterzuordnen. Bereits bei Grillparzer
ist Medea die von allen Verlassene, die Fremde; jemand, dem die
einfache Anerkennung als Mensch versagt bleibt. Zugleich verdeutlicht
Grillparzer, wie Medea mit ihrem verzweifelten Bemühen, die
eigene Identität und Biographie zu verleugnen, scheitern muss:
Der Grieche Jason und die Kolcherin Medea erhalten mit ihren Kindern
Asyl in Korinth. Vor den Mauern Korinths vergräbt Medea alles,
was sie an ihre Vergangenheit erinnert. Mit aller Kraft versucht
sie, sich der griechischen Kultur anzugleichen. Zur Katastrophe
kommt es, als Medea Jason an die junge Griechin Kreusa verliert
und sich zuletzt auch noch ihre inzwischen gut assimilierten Kinder
von ihr abwenden.
Grillparzers Verständnis für die Titelheldin eskaliert
bei Reimann zu einer klaren Parteinahme bis hin zur Identifikation.
Die Musik illustriert nicht den Handlungsverlauf, sie kommentiert
nicht Medeas Worte oder Empfindungen; sie ist die Seele Medeas. Über
das Orchester sind die Zuhörer wie durch ein gigantisches
neuronales Verbundsystem unentrinnbar mit dem Erleben Medeas verbunden.
Massive Akkordschläge, Schlagzeug- und Blechentladungen, schneidende
Instrumenten-Kombinationen, dann wieder narkotisch kreiselnde und
flirrende Klanggründe verwandeln Medeas Schmerz zu einem inneren
Erfahrungsinhalt der Hörer. So zum Beispiel in jenem unheilvollen
Augenblick, wenn Kreusa die Kinder in der Gegenwart ihrer Mutter
als „heimatlose Waisen“ zu sich ruft und wie ein präverbaler
Reflex dazu unvermittelt Flageolett-Töne in den hohen Streichern
anheben. Michael Boder und das Orchester der Wiener Staatsoper
musizieren die Partitur mit fast kühler Rationalität
- und dringen derart bis zum Extrem des Ausdrucksziels vor. Die
Titelpartie ist eine Referenz an die Sopranistin Marlis Petersen.
Ihr Porträt einer zugleich archaisch und modern anmutenden
Frau, überfließend vor Menschenweh, wird zum künstlerischen
Mittelpunkt des Abends. In sprunghaft zucken-der Melodik und bizarr
auflohenden Koloraturausbrüchen offenbart sich das unaufhebbare
Anderssein der unglücklichen Kolcherin, während Medeas
weiblicher Widerpart, die unkomplizierte und schöntuerische
Kreusa vom Komponisten mit glatten, leichtläufigen Koloraturen
bedacht worden ist, die Michaela Selinger mit genau angemessener
sinnleerer Bravour tiriliert.
Der vokal so kontrastreich artikulierte Zusammenstoß zwischen
Kolchis und Griechenland, zwischen der ohnmächtigen Medea
und den Stützen der gesellschaftlichen Leitkultur, wird räumlich
und optisch beziehungsreich veranschaulicht. Marco Arturo Marelli
schöpft ganz aus der Inspiration durch die Musik. Medeas Terrain
ist ein wilder Geröllgrund, dessen Gesteinsbrocken synchron
zu ihren seelischen Erschütterungen lawinenartig in Bewegung
geraten. Das Leben der schick weiß gewandeten Griechen ist
dagegen in einem noblen Wohnkubus situiert, der rasch zur neuen
Wohlfühlheimat Jasons und der Kinder wird. Wenn zu Beginn
von Medeas Racheorgie dicker Qualm aus dem brennenden Glaspalast
dringt, nimmt nicht allein eine Familientragödie ihren Lauf,
sondern es wird zugleich der Untergang einer Gesellschaft besiegelt,
deren ethische Substanz zu dürftig war, um den Herausforderungen
durch das Fremde und Unbekannte, das immer auch die Tiefe der eignen
Psyche ist, gewachsen zu sein. - Ein zur Besonnenheit und Nachdenklichkeit
aufrufendes, ein notwendiges Stück. Diese Uraufführung
war eine kühne Tat, ein Beweis, dass die Oper lebt und alle
etwas angeht.
In all dem Entsetzlichen, von dem Reimanns Musik spricht, liegt
dennoch etwas zutiefst Tröstliches. Es gibt in dieser schrecklichen
Welt noch starke Gefühle und handelnde Menschen, eine kausale
Ordnung von Entschluss und Tat, von Schuld und Verantwortung. Solchen
Zuspruch mag Johannes Kalitzke, dessen neue Oper „Die Besessenen“ einige
Tage zuvor im Theater an der Wien ebenfalls als Auftragswerk uraufgeführt
wurde, nicht mehr spenden. In Witold Gombrowicz’ gleichnamigem
Roman, den Christoph Klimke als Libretto eingerichtet hat, wird
die Habsucht zur einzigen Gefühlsäußerung der sonst
apathisch gewordenen Menschen. Ein gewisser Cholawicki versucht
als Sekretär des greisen Fürsten und Schlossherrn Holszanski
an dessen Kunstschätze heranzukommen. Deshalb will die Ladenbesitzerin
Frau Ocholowska ihre Tochter Maja mit Cholawicki verkuppeln, während
Maja mit dem Tennisspieler Leszczuk den Gemälden nachjagt.
Als die Hochzeit mit Cholawicki platzt, steht der Millionär
Maliniak bereit, um Maja zu verkosten. Am Ende gibt es zwei Tote.
Schauplatz dieser Geschehnisse ist auch ein Spukschloss, das eine
ironische Reminiszenz an die Welt von Ges-tern mit ihren alten
Werten, zumal ihrem Glauben an die Kunst darstellen soll. - Kurzum:
Diese Vorlage ist kaum zu retten, wäre da nicht die mutige
Lösung von Regisseur Kasper Holten und Bühnenbildner
Steffen Aarfing gewesen. Sie verwandeln das ganze Szenario in einen Supermarkt, wobei ein
Teil der Handlung im Obergeschoss des Konsumtempels zwischen verschlungenen
Heizungsrohren spielt. Hier ist der quasi metaphysische Überbau
für das Reich Holszanskis und die Kulturgüter angesiedelt.
Schließlich spukt es heute ja nicht mehr in Schlössern
oder alten Gemäldekabinetten, sondern die ganz profane Konsumrealität
wird zur Gespensterbühne, wenn die Waren von den Menschen
so sehr begehrt, geliebt und vergöttert werden, als hätten
sie ein eigenes Wesen. Darin wurzelt die Besessenheit der Figuren.
Kalitzke komponiert eine Atmosphäre des Wahns, die keine Subjektivität
und Individualität zulässt. Damit sind die Expansionsmöglichkeiten
der Vokalcharakteristik erheblich eingeschränkt. Um so mehr
Tätigkeitsfelder eröffnen sich für die vortrefflichen
Instrumentalisten des Klangforums Wien (Leitung Kalitzke): Energetische
Impulse, die befremdlich ins Leere hetzen, nervöse Ostinati,
eine rumpfartig verstümmelte Melodik, Vierteltöne, sowie
Allusionen an historische und aktuelle Musikidiome, darunter auch
Diskosound, schaffen eine beklemmende, das Psychedelische streifende
Albtraumstimmung.
Zuletzt werden sämtliche Formelemente von einer Autolyse
erfasst. Mit diesem Orchestersatz hat Kalitzke ein eindringliches,
mementoartiges musikalisches Gleichnis für die Verfallenheit
des Menschengeschlechts an einen alternativlos erscheinenden Konsumkapitalismus
kreiert. Doch für eine ganze Oper reicht das nicht. Es ist
wünschenswert, ja unvermeidlich, dass im Musiktheater das
gesellschaftliche Leben der Menschen kritisch reflektiert wird.
Busoni nannte die ernste Oper deshalb einen Zauberspiegel. Aber
wo war an diesem Abend der Zauber?
Christian Tepe
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