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Inbegriff der Romantik
Die Ballettfigur „Giselle“ feiert 165 Jahre Bestehen
· Von Vesna Mlakar
„Nun haben wir auch ein deutsches Ballett gehabt; es spielt,
oder tanzt vielmehr, in Schlesien, nicht weit von Breslau, und ein
deutscher Dichter, Heinrich Heine, hat die Idee dazu gegeben. Es
ist dies die Sage von den Wilis, jenen mit ungestilltem Liebesverlangen
gestorbenen Bräuten, welche um Mitternacht dem Grabe entsteigen,
um die Männer, die ihnen nahen, zu Tode zu tanzen.“ –
Mit diesen Ausführungen beginnt Richard Wagner seinen Brief
an die Dresdener Abendzeitung vom 6. Juli 1841. Er ist nach Paris
gezogen, um sich in Europas bedeutendster Kulturmetropole einen
Namen als Komponist zu machen – was ihm gründlich misslingt.
So schlägt er sich unter anderem als Kritiker durch und zählt
zur illustren Gesellschaft, die der Premiere des Balletts „Giselle,
ou Les Wilis“ von Jules-Henri Vernoy de Saint Georges und
Théophile Gautier in der alten Pariser Opéra, rue
le Peletier, beiwohnt. Doch weder das Libretto noch die choreografische
Darbietung scheinen den ambitionierten Komponisten wirklich überzeugt
zu haben. Mehr als dass er Zeugnis über das Erlebte abgibt,
spickt er seinen Bericht mit scharfzüngigen Seitenhieben: „An
dieser phantasievollen Sage hat den Franzosen besonders die gute
Qualifikation zum Ballett gefallen; in der Tat, welche Gelegenheit
zur Geltendmachung der unsäglichen Pirouetten, der übersinnlichsten
Entrechats bietet nicht diese unheimliche Lust der Wilis dar? Übrigens
ist es mit diesem Ballett, wie mit allen andern; man tanzt gut,
man hat schöne Dekorationen, man macht artige Musik. Diesmal
hat die letztere Herr Adam gemacht, der Mann, der den ,Postillon‘
und den ,Konditor‘ erschuf; dieser Schöpfer hat sich
schmählich schnell ausgeschaffen, er hat sich in beinahe ebenso
kurzer Zeit zu Tode komponiert, wie das Opfer der Wilis sich zu
Tode tanzt.“ Der Meister des musikdramatischen Gesamtkunstwerks
jedoch sollte Unrecht behalten.
Großer Erfolg
Die Uraufführung am 28. Juni 1841 war – Wagners abwertendem
Diktum zum Trotz – ein Riesenerfolg und das Werk avancierte
im Lauf der Geschichte zum Archetyp des romantischen Balletts, an
dessen Anfang 1832 Filippo Taglionis „La Sylphide“ gestanden
hatte. Neben „Schwanensee“ (1877) und „Nussknacker“
(1892) gehört die „Giselle“ mit ihrer seit 165
Jahren ungebrochenen Aufführungstradition zu den erfolgreichsten
Balletten überhaupt. Die gleichzeitige Forderung nach tänzerischer
Virtuosität, technischer Leichtigkeit sowie darstellerischer
Expressivität und Wandelbarkeit verleiht der Titelpartie zudem
die Bedeutung eines Meilensteins im Repertoire einer jeden Ballerina.
Als Erste interpretierte die abendfüllende Rolle der Giselle
die damals 22-jährige Carlotta Grisi, die nur wenige Monate
zuvor – am 12. Februar 1841 – in einem Pas de deux mit
ihrem Partner Lucien Petipa an der Académie Royale de Musique
debütiert hatte. Ihr Name findet sich auf dem Theaterzettel
der Uraufführung in der untersten Zeile der Besetzungsangabe.
Im Gegensatz zur heute geläufigen Theaterpraxis wurde die zweiaktige
Ballett-Pantomime damals im Anschluss an eine Einzelaufführung
des dritten Akts von Rossinis Oper „Moïse“ gezeigt.
Die Entstehung des Werks
Einerseits inspiriert durch die Erscheinung der jungen, aufstrebenden
Grisi und andererseits angeregt durch zwei literarische Erzählungen
(Heinrich Heines Beschreibung der nächtlichen Geistergeschöpfe
in seiner Abhandlung über die „Elementargeister“
und Victor Hugos dem selben Stoff entlehntes Gedicht „Fantômes“
aus der Gedichtsammlung „Les Orientales“) begann der
Schriftsteller, Feuilletonist und Verehrer schöner Tänzerinnen,
Théophile Gautier – einer der führenden Köpfe
der romantischen Bewegung in Frankreich – mit dem Entwurf
eines Szenars. Er hatte es eilig, denn um mit seinem Stück
die Karriere seiner noch wenig bekannten neuen „Flamme“
zu fördern, musste er die Tournee-Abwesenheit der beiden Stars
– Marie Taglioni und Fanny Elßler – nutzen.
Flucht vor der Wirklichkeit
„Die neue Rolle sollte ganz auf ihr Temperament zugeschnitten
sein, die elfenhafte Zartheit der Taglioni mit dem sinnlichen Feuer
und der dramatischen Verve der Elßler verbinden.“ In
Zusammenarbeit mit dem erfahrenen und renommierten Librettisten
Vernoy de Saint-Georges, der Gautiers Ursprungsidee, den ersten
Akt nach Hugos Vorlage in einem fürstlichen Ballsaal spielen
zu lassen, maßgeblich umgestaltete, entstand die in zwei kontrastreichen
romantischen Bildern erzählte fantastische Geschichte um das
hübsche Bauernmädchen Giselle. Während das dörfliche
Lokalkolorit den ersten Aufzug beherrscht, prägen die slawischen
Volkssagen entlehnten „Vilen“ – im fahlen Mondschein
tanzende und männermordende Geisterbräute – den
bald als „weißen Akt“ (ballet blanc) bezeichneten
zweiten. Kurz vor dem Aktwechsel zerbricht die glücklich-heitere
Atmosphäre, als Giselle den an ihr begangenen Betrug ihres
geliebten Albrecht erkennt, darüber – ganz nach dem Goût
der Zeit – den Verstand verliert und stirbt. Mit ihrem Tod
wendet sich die Handlung hin zur übernatürlichen Realität
der im fahlen Mondlicht lauernden Wilis. Kleine Verbindungsbewegungen
und Sprünge, vor allem aber ihre typischen, den Boden fliehenden
„Arabesquen“, mit weit ausgestreckten Armen und dem
in die Ferne schweifenden Blick, spiegeln ihren Bezug zur jenseitigen
Welt und das nach Transzendenz gierende Lebensgefühl der Romantik
wider.
Typische Motive
Es war ein offenes Geheimnis in Paris, das der Tänzer Jules
Perrot, Grisis Lehrer, Förderer und Partner seit deren Anfängen
1833 in Neapel, für all ihre Pas und Szenen verantwortlich
zeichnete, ohne namentlich genannt zu werden: „Ich kam ausgezeichnet
mit Perrot und Carlotta aus, und das Werk entstand sozusagen in
meinem Wohnzimmer“, erinnerte sich später Adolphe Adam,
der die Partitur im Zeitraum vom 11. April bis zum 8. Juni 1841
niederschrieb. Offiziell war der Pariser Ballettmeister Jean Coralli
mit der Choreografie beauftragt worden. Die erstmalige bewusste
Kombination von pantomimischen und rein tänzerischen Ausdrucksmitteln,
die einander beständig abwechseln, empfinden wir heute als
typisch für „Giselle“. Ebenso die Verwendung von
Leit- und Erinnerungsmotiven anhand derer die Hauptfiguren Giselle
und Albrecht, Hilarion und Myrtha sowie das in der Wahnsinnsszene
wiederkehrende Liebesthema musikalisch charakterisiert werden. Hinzu
kommt, dass das Tanzen selbst zum tragenden Handlungsmoment wird
und im Mittelpunkt des Balletts steht.
Im Strom der Zeit
Nur ein Jahr nach dem triumphalen Erfolg in Paris präsentierte
Jules Perrot am Her Majesty’s Theatre in London „seine“
„Giselle“ und verkörperte an der Seite von Carlotta
Grisi auch die Rolle des Albrecht. Im Auftrag des Zaren reiste er
1848 nach Sankt Petersburg, um mit dem dortigen Ensemble die Pariser
Fassung einzustudieren. Die Partie des Albrecht tanzte Marius Petipa
(Bruder des Uraufführungs-Albrecht Lucien Petipa), der ab 1850
auch als sein Assistent fungierte und während seiner sich anschließenden
50-jährigen Tätigkeit als Ballettmeister am Mariinsky-Theater
mehrere Wiederaufnahmen zu verantworten hatte. In einer Zeit, wo
der Hype für das romantische Ballett in Westeuropa abflaute
(Paris setzt das Werk 1868 ab) sicherte er damit die Tradierung
der Originalfassung auf russischen Bühnen.
Die meisten der auf uns gekommenen klassischen Interpretationen
– so auch Peter Wrights seit 32 Jahren im Repertoire der Bayerischen
Staatsoper lebendige „Giselle“ – beruhen auf Petipas
letzter Petersburger Choreografie von 1887, für die er unter
anderem den Einsatz der Flugmaschinerien strich und das ganze Corps
de ballet der Wilis auf Spitze tanzen ließ. Erst Diaghilews
Ballets Russes mit Tamara Karsavina und Vaclav Nijinski in den Hauptrollen
verhalfen dem Œuvre 1910 in Paris zu neuem Durchbruch und der
Tanzwelt zu einem wahren Ballettboom, den legendäre Primaballerinen
wie Anna Pawlowa, Olga Spessiwzewa, Galina Ulanowa, Alicia Markowa,
Yvette Chauviré, Margot Fonteyn, Alicia Alonso, Natalia Makarova
oder Carla Fracci weiter bis ins 21. Jahrhundert trugen. Natürlich,
beeindruckende Adaptionen wie Arthur Mitchells kreolische Auslegung
für das Dance Theatre of Harlem (1984) und radikale moderne
Umdeutungen wie Mats Eks 1982 für das Cullberg Ballet, inhaltlich
wie bewegungstechnisch gelungen, „entzauberte“, in einer
Irrenanstalt endende Version, bringen das Werk in Diskurs mit der
Gegenwart. Doch lockt nicht auch uns Zivilisationsgestresste immer
mal wieder die Flucht in die Irrealität?! Und sei es, um einer
jungen Tänzerin auf ihrem darstellerischen Weg vom tanzverliebten
Mädchen zur verzeihenden Liebenden beizustehen.
Vesna Mlakar
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