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Nach und vor und nach dem Krieg
Die Geschichte der Berliner Opernhäuser (Teil 9) ·
Von Susanne Geißler
Die Stimmung nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg war in Deutschland,
speziell in Berlin, alles andere als depressiv. Lange unterdrückte
Kräfte mobilisierten sich und explodierten am 9. November 1918
in einer Revolution. Sie fegte die Monarchie hinweg und mit ihr
den Tross der Hofbeamten. Der Opern-General Georg von Hülsen-Haeseler
demissionierte schon am 10. November. Richard Strauss erkannte seine
Chance und besetzte kommissarisch „opfermutig aus reiner Liebe
zur Sache und aus alter Anhänglichkeit“ den vakanten
Posten des Generalintendanten. Zu seinem Leidwesen behielt er ihn
nicht, denn das Opernensemble wählte den Komponisten und Dirigenten
Max von Schillings zum Intendanten des Opernhauses Unter den Linden,
während das Schauspielhaus am Gendarmenmarkt von Leopold Jessner
geleitet wurde. Beide Häuser bildeten zusammen die „Preußischen
Staatstheater“, die dem Land Preußen unterstanden. Schillings
Wahl machte viel böses Blut, vor allem wegen seiner Liebesbeziehung
zu der Sängerin und späteren Ehefrau Barbara Kemp, die
ihn auf den Intendantenposten gehievt hatte. Äußerst
indigniert schrieb Strauss, Schillings einstiger Förderer und
Mentor, an seinen Librettisten und Freund Hugo von Hofmannsthal:
„Meine Beziehungen zur Berliner Oper dürften nunmehr
ihr Ende haben.“
Abschied von der Starre
Schillings war keineswegs ein Revolutionär, eher ein Konservativer,
der in seinen eigenen Kompositionen noch unter dem Einfluss Wagners
stand. Er war aber flexibel genug, neue musikalische Strömungen
zu tolerieren. Aus Stuttgart holte er sich 1920 Ludwig Hörth
als Oberspielleiter und übergab das Ausstattungswesen dem aus
Griechenland ausgewiesenen Panos Aravantinos und Emil Pirchau. Diese
vier Persönlichkeiten erlösten die Lindenoper aus der
Starre höfischen Pomps und leer laufender Äußerlichkeiten.
Für die musikalische Qualität der Aufführungen sorgten
neben Schillings selbst der 1913 zum Generalmusikdirektor berufene
Leo Blech und eine Reihe weiterer Kapellmeister, unter ihnen auch
der junge George Szell. Die Sinfoniekonzerte der Staatskapelle dirigierte
1920/21 Wilhelm Furtwängler, dann für ein Jahr Hermann
Abendroth, 1923/24 Bruno Walter und schließlich seit dem 5.
Dezember 1923 vorrangig der neu ernannte 33-jährige Erich Kleiber,
der bis zu seiner Emigration aus Nazi-Deutschland mit seiner überragenden
Künstlerpersönlichkeit das musikalische Gesicht der Staatsoper
prägte.
Entrümpelung der Bühne
Der wohl wesentlichste Wandel im Profil der Staatsoper zwischen
1918 und 1933 lag in der Veränderung des Repertoires. Schillings
wollte „die großen Meister des deutschen Volkes dauernd
in ihren Hauptwerken in vorbildlicher Darbietung auf dem Spielplan
haben“, allerdings sollten „an Neuheiten nur das Bedeutendste,
Richtunggebende gebracht, für dramatische Unterhaltungsmusik
und für Experimente vorerst kein Raum geschaffen werden“.
Im Klartext hieß das: Neutöner mit ihrem Hang, aus Amerika
herüberschwappende Rhythmen zu verarbeiten, waren noch verpönt,
aber Komponisten wie Pfitzner, Schreker und Busoni sollten endlich
in Berlin zu hören sein. Und so kamen sie denn zur Aufführung:
Pfitzners „Palestrina“ und „Das Christ-Elflein“,
Wolf-Ferraris „Susannas Geheimnis“, Straussens „Die
Frau ohne Schatten“, Rubinsteins „Kostümball“,
Schrekers „Die Gezeichneten“ und „Der Schatzsucher“,
Busonis „Turandot“ und „Arlecchino“, Puccinis
„Gianni Schicci“ und Rimski-Korsakows „Der goldene
Hahn“.
Aravantinos und Pirchau schufen Bühnenbilder dazu, die von
den Ideen des Bauhauses geprägt waren. Beide hatten sich eine
völlige Entrümpelung der Bühne auf die Fahne geschrieben.
Keine Postkutschen, Butzenscheiben, Ritterstiefel und Öllampenromantik
in einem Alltag, der von politischen Erschütterungen, sozialem
Elend und rasender technischer Entwicklung geprägt war. Pirchau
hätte seine Sänger am liebsten in Straßenkleidern
auf die Bühne geschickt. Diesen Wunsch erfüllten sich
einige Jahre später Jürgen Fehling und sein Bühnenbildner
Ewald Dülberg an der Kroll-Oper. Kurz: Der Alltag hielt Einzug
auf der Bühne und beeinflusste das Geschehen in der Oper: Seit
1920 hatte sich die Wirtschaftslage konstant verschlechtert und
die Preise kletterten bis ins Schwindelerregende. In der Hochzeit
der Inflation musste ein Besucher der Lindenoper gut und gerne dreistellige
Milliardenbeträge für eine Karte bezahlen, allein für
die Garderobe musste er 10 Milliarden hinblättern. Ein Exodus
berühmter Sängerinnen und Sänger wie Vera Schwarz,
Gertrud Bindernagel, Frida Leider, Michael Bohnen, Heinrich Schlusnus
und Theodor Scheidl setzte ein. Sie beantragten ständig Urlaub,
um sich im Ausland harte Währung zu ersingen. Andere wie Leo
Schützendorf und Richard Tauber ließen sich mit der leichten
Muse ein.
Tietjen, Kleiber, Klemperer
Der undiplomatische Schillings setzte sich mit seiner Intendanz
zwischen alle Stühle. Mit seinen Stars legte er sich an, weil
er nicht jedem Urlaubsgesuch statt gab, das Kultusministerium bezichtigte
er – nicht zu unrecht, aber unklug – der Einmischung
in die Finanz- und künstlerische Politik seiner Oper. Im Ministerium
wiederum sah man in ihm einen starrsinnigen Störer, dessen
Leistungen mittlerweile als ungenügend beurteilt wurden. 1925
kam die fristlose Entlassung. An seine Stelle trat Heinz Tietjen,
der Intendant der Charlottenburger Oper, ein geschmeidiger „Wundermann“.
Mit dem Intendantenwechsel und der Verpflichtung des jungen, erst
33-jährigen Mannheimers Erich Kleiber zum Generalmusikdirektor
erlebte die Staatsoper eine radikale künstlerische Erneuerung,
die die Presse von Schillings vergeblich gefordert hatte: „Wo
bleiben die großen Fragen der Gegenwart? Wir verlangen das
Unmögliche, das noch nie Dagewesene. Wir wollen das Heute,
nicht mehr das Gestern.“
Als erste Großtat setzte der junge GMD die als unspielbar
geltende „Jenufa“ von Leos Janacek aufs Programm. Von
nun an ging es Schlag auf Schlag mit Wolfgang Korngolds „Die
tote Stadt“, Hans Pfitzners „Die Rose vom Liebesgarten“,
Igor Strawinskys „Geschichte vom Soldaten“ und Modest
Mussorgskys „Boris Godunow“. Kurt Weills „Royal
Palace“ und Sergej Prokofjews „Die Liebe zu den drei
Orangen“ kamen in einer komplett kubistischen Ausstattung
auf die Bühne. Darius Milhauds „Christoph Columbus“
wurde zum Medientheater mit bisher in der Oper noch nicht gesehenen
Filmprojektionen. Als 1931 die Kroll-Oper geschlossen wurde, nahm
Erich Kleiber den heimatlos gewordenen Otto Klemperer mit offenen
Armen in seinem Haus auf, was diesen recht gallig keineswegs zu
Begeisterungsstürmen veranlasste: „Man will mich zwar
nicht auf die Teufelsinsel schicken, aber an die Lindenoper deportieren.“
Dennoch konnte er hier noch eine Produktion im Sinne seiner Ideale
verwirklichen, den Tannhäuser. Als die Premiere am 13. Februar
1933, also knapp zwei Wochen nach der Machtübernahme Hitlers,
herauskam, quittierte die nationalsozialistische Presse das Ereignis
mit übelsten Drohungen gegen Tietjen und Klemperer: „Man
reiche uns auf einer Silberschüssel den Kopf des Herren Generalintendanten.“
Nazi-Wende
Adolf Hitler hasste die moderne Oper. Einige Jahre zuvor hatte
er an der Kroll-Oper eine Vorstellung von Paul Hindemiths „Neues
vom Tage“ gesehen. Die sich vermeintlich nackt (sie trug ein
fleischfarbenes Ganzkörpertrikot) in einer mit Watteschaum
gefüllten Badewanne aalende Protagonistin Laura sang dabei
eine Hymne auf die Warmwasserversorgung. Das traf den zukünftigen
Führer so an seinem Prüderienerv, dass er die Vorstellung
nie wieder vergessen sollte und dem Komponisten ewige Rache schwor.
Allzu rasch sollte er Gelegenheit dazu bekommen.
Kaum an die Macht gekommen, organisierten die Nazis die gesamte
Kulturlandschaft neu, mit dem eindeutigen Ziel, nunmehr die Herrschaft
über sämtliche Institutionen auszuüben. Die Kunst
wurde als Vehikel der Propaganda vereinnahmt. Die Eingriffe in das
Opernleben waren massiv. Otto Klemperer wurde im Sommer 1933 fristlos
entlassen, ebenso der Kapellmeister Fritz Zweig. Mehrere Solisten
wurden Opfer des faschistischen Rassenwahns. Die Sänger Alexander
Kipnis und Emmanuel List konnten in die USA emigrieren, ebenso die
Sängerin Tilly de Garmo. Marcel Noë floh nach Jerusalem,
Lotte Schöne verbarg sich in den französischen Alpen,
Ottilie Metzger-Lattermann wurde von Belgien aus nach Auschwitz
deportiert. von der langjährigen Sopranistin Therese Rothäuser
nimmt man an, dass sie in Theresienstadt umkam. Wilhelm Furtwängler
schützte seine Musiker und seine Sekretärin Berta Geiss-
mar und erwirkte immer wieder Ausnahmegenehmigungen zu ihrer Weiterbeschäftigung.
Als es schließlich doch ratsam erschien, das Land zu verlassen,
unterstützte er sie, wo es nur ging. Selbst ein Komponist wie
Richard Strauss, dem man eine antinazistische Haltung nun wirklich
nicht nachsagen kann, bekam die mörderische Judenpolitik am
eigenen Leibe zu spüren: Seine Schwiegertochter war Jüdin,
und immer wieder musste er sich von den Machthabern demütigen
lassen, um ihr Überleben zu sichern. Zudem hatten Nicht-Arier
die Textbücher zu seinen Opern geschrieben. Als „Die
schweigsame Frau“ mit dem Libretto des jüdischen Schriftstellers
Stefan Zweig am 24. Juni 1935 in Dresden uraufgeführt wurde,
legte Goebbels dem Komponisten nahe, umgehend seine Ämter als
Präsident der Reichsmusikkammer und als Vorsitzender des Berufsstandes
der Deutschen Komponisten niederzulegen.
Doch es gab immer auch „Vorzeigejuden“, die das Dritte
Reich propagandistisch gegenüber dem Ausland benutzen wollte.
Der berühmte Tenor Jan Kiepura war trotz seiner jüdischen
Abstammung noch 1933 ein gern gesehener Gast in Berlin, und Göring
entblödete sich nicht, ihn sogar zum „Ratgeber in Intendanzfragen“
zu konsultieren. Als aber Kiepura, der gerade an der Lindenoper
den Herzog in „Rigoletto“ sang, seinen musikalischen
Einflussbereich auf den neben dem Haus liegenden Opernplatz ausdehnte,
schritt Göring ein. Nach einer Vorstellung erklomm der sangesfreudige
Tenor ein Auto, postierte sich auf dem Dach und erfreute die begeisterte
Menge mit Operettenliedern und Schnulzen. Solche Eigenmächtigkeit
liebten die Nazis gar nicht, und der humorlose Göring ließ
bei der nächsten Kiepura-Vorstellung den Platz kurzerhand absperren.
Auf- und Abstiege
Für den verjagten Klemperer berief man 1933 Wilhelm Furtwängler
zum Staatskapellmeister und wenige Monate später zum Operndirektor.
Er nahm den Kampf gegen jede politische Einmischung bei der Programmgestaltung
mutig auf und setzte sich via Presse in offenen Briefen für
Otto Klemperer, Bruno Walter, Max Reinhardt und vor allem für
Paul Hindemith ein. Eingedenk seiner traumatischen Erinnerungen
an die „obszöne“ Badewannenszene hatte Hitler höchstpersönlich
eine Wiederaufführung des Stückes kurzerhand verboten
und den Komponisten ein für alle Mal auf die rote Liste gesetzt.
Als Furtwängler eine öffentliche Entschuldigung für
sein „skandalöses Eintreten für artfremde Musik
und deren Komponisten“ ablehnte, legte ihm Hermann Göring
unmissverständlich den Rücktritt nahe. Furtwängler
folgte der Empfehlung und trat am 4. Dezember 1934 von seinem Amt
als Staatsoperndirektor zurück, legte die Leitung des Berliner
Philharmonischen Orchesters nieder und ließ sich von dem Amt
des Vizepräsidenten der Reichsmusikkammer entbinden. Viele
Deutsche, aber auch das Ausland rechneten ihm das hoch an und erwarteten
nun seine Emigration. Aus rein praktischen Gründen war Furtwängler
dies verwehrt: Hitler hatte seinen Pass einziehen lassen, denn der
Dirigent war in der Propagandamechanerie durchaus noch zu gebrauchen,
auch wenn er sich ideologisch immer wieder als äußerst
unzuverlässig erweisen sollte. Furtwängler blieb in Berlin,
und offenbar söhnte er sich schon drei Monate später wieder
mit Göring aus – wohl in der stillen Hoffnung, noch etwas
bewirken zu können.
Letzte Exilanten
Sein Nachfolger wurde der Hitlersympathisant Clemens Krauss, der
sich sofort breit erklärte, den Posten zu übernehmen.
Am 9. Dezember 1933 war Krauss aus Wien herbeigeeilt, wo er immerhin
Direktor der Staatsoper, aber wegen seiner Nazisympathie extrem
unbeliebt war. Er trat am nächsten Tag sein Amt an und folgte
damit seiner Frau, der Sopranistin Viorica Ursuleac, die von Göring
schon im November nach Berlin geholt und sogleich mit dem Titel
der Kammersängerin ausgezeichnet worden war.
Leo Blech wurde 1935 in die Pension geschickt und ging 1937 ins
schwedische Exil. Erich Kleiber dirigierte im November 1934 Alban
Bergs „Lulu“-Fragment. Seine Frau hatte sich vorher
in einem Gespräch mit Göring ausgebeten, die Aufführung
nicht stören zu lassen. Der ob des mutigen Auftretens der Dirigenten-Gattin
beeindruckte Minister sagte dies zu und hielt Wort. Die Uraufführung
der „Lulu“ vor wochenlang zuvor bereits ausverkauftem
Haus verlief ruhig und endete mit minutenlangen Ovationen. Einzig
ein Besucher brüllte, so laut er konnte: „Heil Mozart!“,
worauf Kleiber schlagfertig zurück rief: „Sie irren,
das Stück ist von Berg!“. Trotz des Erfolges legte Kleiber,
die Zeichen der Zeit richtig deutend, vier Tage später sein
Amt nieder und verließ Deutschland. Die Machthaber hatten
ihr Ziel erreicht: Der letzte unbequeme Musiker der Staatsoper war
vertrieben.
Zentrum der Wagnerpflege
Heinz Tietjen behielt seinen Intendantenposten, wurde aber in
allen Fragen von dem selbsternannten preußischen Ministerpräsidenten
Hermann Göring bevormundet. Tietjens leidenschaftlicher Einsatz
für die Werke Richard Wagners kam dem Geschmack der braunen
Machthaber entgegen. Zusammen mit dem Bühnenbildner Emil Preetorius
und dem Dirigenten Wilhelm Furtwängler machte Tietjen die Berliner
Staatsoper neben den Bayreuther Festspielen, die er seit 1931 ohnehin
künstlerisch leitete, zum Zentrum der Wagnerpflege. Die Dirigentenbesetzung
war für ihn problematisch. Clemens Krauss hatte 1936 die Lindenoper
wieder verlassen und war dem Ruf nach München gefolgt. Furtwängler
kehrte erst gastweise, ab 1937 fest an das Haus zurück, entsprach
aber gar nicht seinen Vorstellungen eines subalternen Weisungsempfängers.
Das Wunder Karajan
Tietjen suchte daher nach einem begabten, jungen Dirigenten. den
er gezielt gegen den renitenten Furtwängler ausspielen konnte.
Er fand ihn in Aachen. Der dortige ehrgeizige 30-jährige Generalmusikdirektor
schien ihm neben den künstlerischen Fähigkeiten die rechte
Härte und Durchsetzungskraft zu besitzen. Sein Name: Herbert
von Karajan, der nach dem Krieg von sich selber sagen sollte, er
hätte jedes Verbrechen begangen, um den Berliner Posten zu
bekommen und wäre dazu „selbst über Leichen gegangen.“
Nach einigem Hin und Her, mit dem Tietjen seine Position stärken
wollte, lud er Karajan auf Befehl Görings zu einem Gastdirigat
des „Fidelio“ am 30. September 1938 ein. Drei Wochen
später dirigierte er den „Tristan“, und über
Nacht war das „Wunder Karajan“ geboren. Schnell kursierte
das Gerücht, der junge Dirigent sei von der Nazipresse hochgejubelt
worden, um als Konkurrent Furtwänglers aufgebaut werden zu
können. Politisch war auf den Newcomer jedenfalls Verlass.
In vorauseilendem Gehorsam trat er der NSDAP gleich zweimal bei.
Das erste Mal am 8. April 1933 in Salzburg, einen Tag nachdem die
Nazis mit dem „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“
die Juden aus ihren Ämtern trieben und die Aussicht auf viele
frei werdende Dirigentenstellen groß war. Drei Wochen später
unterzeichnete Karajan in Ulm erneut eine Beitrittserklärung,
am letzten Tag, ehe die Partei eine Aufnahmesperre von vier Jahren
verhängte. Dennoch behauptete der Opportunist später,
er sei in Aachen von der Partei zum Beitritt gezwungen worden, damit
er die Stelle als GMD am dortigen Theater bekommen konnte.
Künstlerisches Niveau
Mit Routine, Können, hin und wieder gezielt eingesetzten
Intrigen und diplomatischem Geschick verstand es Tietjen, das künstlerische
Niveau der Staatsoper hoch zu halten. Mut bewies er mit den Uraufführungen
von Werner Egks „Peer Gynt“ am 24. November 1938 und
Rudolf Wagner-Régenys „Die Bürger von Calais“
am 28. Januar 1939.
Beide Werke widersprachen der herrschenden Ideologie und wurden
prompt abgesetzt. Die übrigen, sich auf die „sicheren
Gefilde“ des traditionellen Repertoires beschränkenden
Aufführungen der Lindenoper besaßen hohes musikalisches
Niveau, getragen von Sängerpersönlichkeiten wie Erna Berger,
Maria Cebotari, Margarete Klose, Tiana Lemnitz, Maria Müller,
Viorica Ursuleac, Peter Anders, Willi Domgraf-Faßbaender,
Eugen Fuchs, Max Lorenz, Jan Prohasca, Helge Roswaenge, Erich Witte,
Marcel Wittrisch und viele andere mehr.
Wiederaufbau im Krieg
Dass die Berliner Staatsoper ein Prestigeobjekt der Nazis war,
erwies sich nicht zuletzt, als das Haus vom 9. zum 10. April 1941
im Bombenhagel in Flammen aufging. Zum Beweis angeblicher „Unbesiegbarkeit“
wurde der sofortige Wiederaufbau befohlen. Interimsbühne des
Staatsopern-Ensembles wurden die leer stehende Kroll-Oper und das
Schauspielhaus. Zum 200. Jahrestag der Operngründung am 7.
Dezember 1942 öffnete sich der Vorhang wieder vor einer Aufführung
der „Meistersinger“. Keine zwei Jahre später ,
mit dem von Joseph Goebbels befohlenen „Totalen Krieg“,
schlossen sich die Türen aller Theater, auch die der Lindenoper.
Die immer heftiger werdenden fast täglichen Luftangriffe hätten
einen Spielbetrieb überdies unmöglich gemacht. Nun sollten
auch die Theaterleute der deutschen Wehrkraft in der Rüstungsindustrie
dienen. Dank Tietjens Intervention bei Göring blieben jedoch
die Mitglieder der Staatskapelle von der Kriegsverpflichtung verschont.
Eine kleine Anzahl von Solisten, den „Gottbegnadeten“,
wie er sie nannte, gestattete Joseph Goebbels weiter aufzutreten.
Am 3. Februar sank die Staatsoper zum zweiten Mal unter dem alliierten
Bombenhagel in Trümmer. Der totale Krieg endete in der totalen
Vernichtung.
Schneller Neubeginn
Noch rauchten die Ruinen, als der erste sowjetische Stadtkommandant
Bersarin am 14. Mai 1945 Berliner Künstler aus allen Bereichen
zusammen rief, um mit ihnen über die Wiedereröffnung der
großen Bühnen zu sprechen. Auch für die zertrümmerte
Lindenoper hatte der kultursinnige Russe schon konkrete Pläne.
Er ernannte Heinz Tietjen zum provisorischen Intendanten der Staatsoper
und beauftragte ihn, das versprengte Ensemble wieder zu sammeln.
Bereits am 16. Juni konnte im Großen Sendesaal des Rundfunkhauses
in der Masurenallee das „Erste Große Operkonzert der
Bisherigen Staatsoper Berlin“ stattfinden. Bersarin, der diesen
Abend mit ermöglicht hatte, konnte daran nicht mehr teilnehmen.
Der Generaloberst war an diesem Tag durch einen Motorradunfall ums
Leben gekommen.
Vorrangig blieb in den Tagen des Neubeginns die Frage der Intendanz
zu klären. Heinz Tietjen wurde als Nationalsozialist denunziert,
der er nie gewesen war – ein Irrtum, der sich bald aufklärte
– und schien politisch untragbar. So wurde ein Mann gefunden,
der sowohl das Vertrauen der Opernmitglieder als auch das der sowjetischen
Kommandantur fand. Ernst Legal erfüllte die Bedingungen auf
das Glücklichste. Dadurch, dass er in den zwanziger Jahren
gemeinsam mit Klemperer die Kroll-Oper geleitet hatte, schien er
überdies ein Garant dafür, nun wieder an die Moderne anzuknüpfen.
Am 24. August 1945 wurde Legal von der gerade gebildeten „Kammer
der Kulturschaffenden“ zum Intendanten gewählt.
Wiedereröffnung
Wo aber sollte das sich langsam wieder formierende Ensemble der
Staatsoper auftreten? Die Lindenoper war eine Ruine, an deren Wiederaufbau
damals nicht zu denken war. Einzig der Admiralspalast, das frühere
Revuetheater in der Friedrichstraße, wies wenig Zerstörung
auf. „Nur“ das Dach musste repariert werden, und schon
das brachte fast unlösbare Probleme. Pferdekadaver, Uniformreste
und jede Menge Unrat waren zu beseitigen, im Keller stand das Wasser.
Hungrige und entkräftete Männer und Frauen aus allen Berufen,
Techniker, Bühnenpersonal und Künstler packten an und
schufen sich unter unvorstellbaren Mühen eine neue Heimstatt
für ihre Kunst. Buchstäblich aus dem Nichts musste ein
Repertoire wieder aufgebaut werden, jeder Fetzen als Kostüm
verwandt, jede Treppe als Dekoration eingesetzt, Instrumente aufgetrieben,
Noten zusammengestoppelt und vor allen viel Phantasie, Improvisation
und Organisationstalent von allen Beteiligten aufgebracht werden.
Am 23. August war es dann soweit. Das „neue“ Haus konnte
mit einem Festkonzert eröffnet werden. Zwei Wochen später
folgte die erste Opernpremiere: Christoph Willibald Glucks „Orpheus
und Eurydike“. Damit hatte offiziell die erste Nachkriegsspielzeit
der „Deutschen Staatsoper Berlin“, wie sie nun hieß,
begonnen. Zehn künstlerisch bewegte, spannungs- und ertragreiche
Jahre sollten noch vergehen, bis das Ensemble in sein wieder aufgebautes
Stammhaus Unter den Linden zurückkehren konnte. Professor Richard
Paulick, einst Mitglied des Bauhauses hatte den Wiederaufbau geleitet.
Die durch ihn vorgenommenen Veränderungen der Außen-
und Innenarchitektur gereichten dem Bau zum Wohle. Nach seinen eigenen
Worten wollte Paulick „die Oper so bauen, wie Knobelsdorff
sie errichtet hätte, wenn Friedrich II. ihm nicht so viel hinein
geredet hätte.“ Eröffnet wurde die rekonstruierte
Staatsoper am 4. September 1955. mit einem festlichen Staatsakt
unter Teilnahme aller wichtigen Parteifunktionäre und Amtsinhaber
der DDR mit...? Richtig: Wagners „Meistersingern von Nürnberg“.
Noch weitere 33 Jahre sollte es dauern, bis auch dieses politische
Regime überwunden war und die Opernhäuser der so lange
geteilten Stadt sich in künstlerischer Konkurrenz, jedoch im
gemeinsamen Bemühen um hervorragende Leistungen wieder ergänzen
konnten.
Susanne Geißler
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