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Portrait

Nach und vor und nach dem Krieg

Die Geschichte der Berliner Opernhäuser (Teil 9) · Von Susanne Geißler

Die Stimmung nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg war in Deutschland, speziell in Berlin, alles andere als depressiv. Lange unterdrückte Kräfte mobilisierten sich und explodierten am 9. November 1918 in einer Revolution. Sie fegte die Monarchie hinweg und mit ihr den Tross der Hofbeamten. Der Opern-General Georg von Hülsen-Haeseler demissionierte schon am 10. November. Richard Strauss erkannte seine Chance und besetzte kommissarisch „opfermutig aus reiner Liebe zur Sache und aus alter Anhänglichkeit“ den vakanten Posten des Generalintendanten. Zu seinem Leidwesen behielt er ihn nicht, denn das Opernensemble wählte den Komponisten und Dirigenten Max von Schillings zum Intendanten des Opernhauses Unter den Linden, während das Schauspielhaus am Gendarmenmarkt von Leopold Jessner geleitet wurde. Beide Häuser bildeten zusammen die „Preußischen Staatstheater“, die dem Land Preußen unterstanden. Schillings Wahl machte viel böses Blut, vor allem wegen seiner Liebesbeziehung zu der Sängerin und späteren Ehefrau Barbara Kemp, die ihn auf den Intendantenposten gehievt hatte. Äußerst indigniert schrieb Strauss, Schillings einstiger Förderer und Mentor, an seinen Librettisten und Freund Hugo von Hofmannsthal: „Meine Beziehungen zur Berliner Oper dürften nunmehr ihr Ende haben.“

Abschied von der Starre

Schillings war keineswegs ein Revolutionär, eher ein Konservativer, der in seinen eigenen Kompositionen noch unter dem Einfluss Wagners stand. Er war aber flexibel genug, neue musikalische Strömungen zu tolerieren. Aus Stuttgart holte er sich 1920 Ludwig Hörth als Oberspielleiter und übergab das Ausstattungswesen dem aus Griechenland ausgewiesenen Panos Aravantinos und Emil Pirchau. Diese vier Persönlichkeiten erlösten die Lindenoper aus der Starre höfischen Pomps und leer laufender Äußerlichkeiten. Für die musikalische Qualität der Aufführungen sorgten neben Schillings selbst der 1913 zum Generalmusikdirektor berufene Leo Blech und eine Reihe weiterer Kapellmeister, unter ihnen auch der junge George Szell. Die Sinfoniekonzerte der Staatskapelle dirigierte 1920/21 Wilhelm Furtwängler, dann für ein Jahr Hermann Abendroth, 1923/24 Bruno Walter und schließlich seit dem 5. Dezember 1923 vorrangig der neu ernannte 33-jährige Erich Kleiber, der bis zu seiner Emigration aus Nazi-Deutschland mit seiner überragenden Künstlerpersönlichkeit das musikalische Gesicht der Staatsoper prägte.

Entrümpelung der Bühne

Der wohl wesentlichste Wandel im Profil der Staatsoper zwischen 1918 und 1933 lag in der Veränderung des Repertoires. Schillings wollte „die großen Meister des deutschen Volkes dauernd in ihren Hauptwerken in vorbildlicher Darbietung auf dem Spielplan haben“, allerdings sollten „an Neuheiten nur das Bedeutendste, Richtunggebende gebracht, für dramatische Unterhaltungsmusik und für Experimente vorerst kein Raum geschaffen werden“. Im Klartext hieß das: Neutöner mit ihrem Hang, aus Amerika herüberschwappende Rhythmen zu verarbeiten, waren noch verpönt, aber Komponisten wie Pfitzner, Schreker und Busoni sollten endlich in Berlin zu hören sein. Und so kamen sie denn zur Aufführung: Pfitzners „Palestrina“ und „Das Christ-Elflein“, Wolf-Ferraris „Susannas Geheimnis“, Straussens „Die Frau ohne Schatten“, Rubinsteins „Kostümball“, Schrekers „Die Gezeichneten“ und „Der Schatzsucher“, Busonis „Turandot“ und „Arlecchino“, Puccinis „Gianni Schicci“ und Rimski-Korsakows „Der goldene Hahn“.

Aravantinos und Pirchau schufen Bühnenbilder dazu, die von den Ideen des Bauhauses geprägt waren. Beide hatten sich eine völlige Entrümpelung der Bühne auf die Fahne geschrieben. Keine Postkutschen, Butzenscheiben, Ritterstiefel und Öllampenromantik in einem Alltag, der von politischen Erschütterungen, sozialem Elend und rasender technischer Entwicklung geprägt war. Pirchau hätte seine Sänger am liebsten in Straßenkleidern auf die Bühne geschickt. Diesen Wunsch erfüllten sich einige Jahre später Jürgen Fehling und sein Bühnenbildner Ewald Dülberg an der Kroll-Oper. Kurz: Der Alltag hielt Einzug auf der Bühne und beeinflusste das Geschehen in der Oper: Seit 1920 hatte sich die Wirtschaftslage konstant verschlechtert und die Preise kletterten bis ins Schwindelerregende. In der Hochzeit der Inflation musste ein Besucher der Lindenoper gut und gerne dreistellige Milliardenbeträge für eine Karte bezahlen, allein für die Garderobe musste er 10 Milliarden hinblättern. Ein Exodus berühmter Sängerinnen und Sänger wie Vera Schwarz, Gertrud Bindernagel, Frida Leider, Michael Bohnen, Heinrich Schlusnus und Theodor Scheidl setzte ein. Sie beantragten ständig Urlaub, um sich im Ausland harte Währung zu ersingen. Andere wie Leo Schützendorf und Richard Tauber ließen sich mit der leichten Muse ein.

Tietjen, Kleiber, Klemperer

Der undiplomatische Schillings setzte sich mit seiner Intendanz zwischen alle Stühle. Mit seinen Stars legte er sich an, weil er nicht jedem Urlaubsgesuch statt gab, das Kultusministerium bezichtigte er – nicht zu unrecht, aber unklug – der Einmischung in die Finanz- und künstlerische Politik seiner Oper. Im Ministerium wiederum sah man in ihm einen starrsinnigen Störer, dessen Leistungen mittlerweile als ungenügend beurteilt wurden. 1925 kam die fristlose Entlassung. An seine Stelle trat Heinz Tietjen, der Intendant der Charlottenburger Oper, ein geschmeidiger „Wundermann“. Mit dem Intendantenwechsel und der Verpflichtung des jungen, erst 33-jährigen Mannheimers Erich Kleiber zum Generalmusikdirektor erlebte die Staatsoper eine radikale künstlerische Erneuerung, die die Presse von Schillings vergeblich gefordert hatte: „Wo bleiben die großen Fragen der Gegenwart? Wir verlangen das Unmögliche, das noch nie Dagewesene. Wir wollen das Heute, nicht mehr das Gestern.“

Als erste Großtat setzte der junge GMD die als unspielbar geltende „Jenufa“ von Leos Janacek aufs Programm. Von nun an ging es Schlag auf Schlag mit Wolfgang Korngolds „Die tote Stadt“, Hans Pfitzners „Die Rose vom Liebesgarten“, Igor Strawinskys „Geschichte vom Soldaten“ und Modest Mussorgskys „Boris Godunow“. Kurt Weills „Royal Palace“ und Sergej Prokofjews „Die Liebe zu den drei Orangen“ kamen in einer komplett kubistischen Ausstattung auf die Bühne. Darius Milhauds „Christoph Columbus“ wurde zum Medientheater mit bisher in der Oper noch nicht gesehenen Filmprojektionen. Als 1931 die Kroll-Oper geschlossen wurde, nahm Erich Kleiber den heimatlos gewordenen Otto Klemperer mit offenen Armen in seinem Haus auf, was diesen recht gallig keineswegs zu Begeisterungsstürmen veranlasste: „Man will mich zwar nicht auf die Teufelsinsel schicken, aber an die Lindenoper deportieren.“ Dennoch konnte er hier noch eine Produktion im Sinne seiner Ideale verwirklichen, den Tannhäuser. Als die Premiere am 13. Februar 1933, also knapp zwei Wochen nach der Machtübernahme Hitlers, herauskam, quittierte die nationalsozialistische Presse das Ereignis mit übelsten Drohungen gegen Tietjen und Klemperer: „Man reiche uns auf einer Silberschüssel den Kopf des Herren Generalintendanten.“

Nazi-Wende

Adolf Hitler hasste die moderne Oper. Einige Jahre zuvor hatte er an der Kroll-Oper eine Vorstellung von Paul Hindemiths „Neues vom Tage“ gesehen. Die sich vermeintlich nackt (sie trug ein fleischfarbenes Ganzkörpertrikot) in einer mit Watteschaum gefüllten Badewanne aalende Protagonistin Laura sang dabei eine Hymne auf die Warmwasserversorgung. Das traf den zukünftigen Führer so an seinem Prüderienerv, dass er die Vorstellung nie wieder vergessen sollte und dem Komponisten ewige Rache schwor. Allzu rasch sollte er Gelegenheit dazu bekommen.

Kaum an die Macht gekommen, organisierten die Nazis die gesamte Kulturlandschaft neu, mit dem eindeutigen Ziel, nunmehr die Herrschaft über sämtliche Institutionen auszuüben. Die Kunst wurde als Vehikel der Propaganda vereinnahmt. Die Eingriffe in das Opernleben waren massiv. Otto Klemperer wurde im Sommer 1933 fristlos entlassen, ebenso der Kapellmeister Fritz Zweig. Mehrere Solisten wurden Opfer des faschistischen Rassenwahns. Die Sänger Alexander Kipnis und Emmanuel List konnten in die USA emigrieren, ebenso die Sängerin Tilly de Garmo. Marcel Noë floh nach Jerusalem, Lotte Schöne verbarg sich in den französischen Alpen, Ottilie Metzger-Lattermann wurde von Belgien aus nach Auschwitz deportiert. von der langjährigen Sopranistin Therese Rothäuser nimmt man an, dass sie in Theresienstadt umkam. Wilhelm Furtwängler schützte seine Musiker und seine Sekretärin Berta Geiss- mar und erwirkte immer wieder Ausnahmegenehmigungen zu ihrer Weiterbeschäftigung. Als es schließlich doch ratsam erschien, das Land zu verlassen, unterstützte er sie, wo es nur ging. Selbst ein Komponist wie Richard Strauss, dem man eine antinazistische Haltung nun wirklich nicht nachsagen kann, bekam die mörderische Judenpolitik am eigenen Leibe zu spüren: Seine Schwiegertochter war Jüdin, und immer wieder musste er sich von den Machthabern demütigen lassen, um ihr Überleben zu sichern. Zudem hatten Nicht-Arier die Textbücher zu seinen Opern geschrieben. Als „Die schweigsame Frau“ mit dem Libretto des jüdischen Schriftstellers Stefan Zweig am 24. Juni 1935 in Dresden uraufgeführt wurde, legte Goebbels dem Komponisten nahe, umgehend seine Ämter als Präsident der Reichsmusikkammer und als Vorsitzender des Berufsstandes der Deutschen Komponisten niederzulegen.

Doch es gab immer auch „Vorzeigejuden“, die das Dritte Reich propagandistisch gegenüber dem Ausland benutzen wollte. Der berühmte Tenor Jan Kiepura war trotz seiner jüdischen Abstammung noch 1933 ein gern gesehener Gast in Berlin, und Göring entblödete sich nicht, ihn sogar zum „Ratgeber in Intendanzfragen“ zu konsultieren. Als aber Kiepura, der gerade an der Lindenoper den Herzog in „Rigoletto“ sang, seinen musikalischen Einflussbereich auf den neben dem Haus liegenden Opernplatz ausdehnte, schritt Göring ein. Nach einer Vorstellung erklomm der sangesfreudige Tenor ein Auto, postierte sich auf dem Dach und erfreute die begeisterte Menge mit Operettenliedern und Schnulzen. Solche Eigenmächtigkeit liebten die Nazis gar nicht, und der humorlose Göring ließ bei der nächsten Kiepura-Vorstellung den Platz kurzerhand absperren.

Auf- und Abstiege

Für den verjagten Klemperer berief man 1933 Wilhelm Furtwängler zum Staatskapellmeister und wenige Monate später zum Operndirektor. Er nahm den Kampf gegen jede politische Einmischung bei der Programmgestaltung mutig auf und setzte sich via Presse in offenen Briefen für Otto Klemperer, Bruno Walter, Max Reinhardt und vor allem für Paul Hindemith ein. Eingedenk seiner traumatischen Erinnerungen an die „obszöne“ Badewannenszene hatte Hitler höchstpersönlich eine Wiederaufführung des Stückes kurzerhand verboten und den Komponisten ein für alle Mal auf die rote Liste gesetzt. Als Furtwängler eine öffentliche Entschuldigung für sein „skandalöses Eintreten für artfremde Musik und deren Komponisten“ ablehnte, legte ihm Hermann Göring unmissverständlich den Rücktritt nahe. Furtwängler folgte der Empfehlung und trat am 4. Dezember 1934 von seinem Amt als Staatsoperndirektor zurück, legte die Leitung des Berliner Philharmonischen Orchesters nieder und ließ sich von dem Amt des Vizepräsidenten der Reichsmusikkammer entbinden. Viele Deutsche, aber auch das Ausland rechneten ihm das hoch an und erwarteten nun seine Emigration. Aus rein praktischen Gründen war Furtwängler dies verwehrt: Hitler hatte seinen Pass einziehen lassen, denn der Dirigent war in der Propagandamechanerie durchaus noch zu gebrauchen, auch wenn er sich ideologisch immer wieder als äußerst unzuverlässig erweisen sollte. Furtwängler blieb in Berlin, und offenbar söhnte er sich schon drei Monate später wieder mit Göring aus – wohl in der stillen Hoffnung, noch etwas bewirken zu können.

Letzte Exilanten

Sein Nachfolger wurde der Hitlersympathisant Clemens Krauss, der sich sofort breit erklärte, den Posten zu übernehmen. Am 9. Dezember 1933 war Krauss aus Wien herbeigeeilt, wo er immerhin Direktor der Staatsoper, aber wegen seiner Nazisympathie extrem unbeliebt war. Er trat am nächsten Tag sein Amt an und folgte damit seiner Frau, der Sopranistin Viorica Ursuleac, die von Göring schon im November nach Berlin geholt und sogleich mit dem Titel der Kammersängerin ausgezeichnet worden war.

Leo Blech wurde 1935 in die Pension geschickt und ging 1937 ins schwedische Exil. Erich Kleiber dirigierte im November 1934 Alban Bergs „Lulu“-Fragment. Seine Frau hatte sich vorher in einem Gespräch mit Göring ausgebeten, die Aufführung nicht stören zu lassen. Der ob des mutigen Auftretens der Dirigenten-Gattin beeindruckte Minister sagte dies zu und hielt Wort. Die Uraufführung der „Lulu“ vor wochenlang zuvor bereits ausverkauftem Haus verlief ruhig und endete mit minutenlangen Ovationen. Einzig ein Besucher brüllte, so laut er konnte: „Heil Mozart!“, worauf Kleiber schlagfertig zurück rief: „Sie irren, das Stück ist von Berg!“. Trotz des Erfolges legte Kleiber, die Zeichen der Zeit richtig deutend, vier Tage später sein Amt nieder und verließ Deutschland. Die Machthaber hatten ihr Ziel erreicht: Der letzte unbequeme Musiker der Staatsoper war vertrieben.

Zentrum der Wagnerpflege

Heinz Tietjen behielt seinen Intendantenposten, wurde aber in allen Fragen von dem selbsternannten preußischen Ministerpräsidenten Hermann Göring bevormundet. Tietjens leidenschaftlicher Einsatz für die Werke Richard Wagners kam dem Geschmack der braunen Machthaber entgegen. Zusammen mit dem Bühnenbildner Emil Preetorius und dem Dirigenten Wilhelm Furtwängler machte Tietjen die Berliner Staatsoper neben den Bayreuther Festspielen, die er seit 1931 ohnehin künstlerisch leitete, zum Zentrum der Wagnerpflege. Die Dirigentenbesetzung war für ihn problematisch. Clemens Krauss hatte 1936 die Lindenoper wieder verlassen und war dem Ruf nach München gefolgt. Furtwängler kehrte erst gastweise, ab 1937 fest an das Haus zurück, entsprach aber gar nicht seinen Vorstellungen eines subalternen Weisungsempfängers.

Das Wunder Karajan

Tietjen suchte daher nach einem begabten, jungen Dirigenten. den er gezielt gegen den renitenten Furtwängler ausspielen konnte. Er fand ihn in Aachen. Der dortige ehrgeizige 30-jährige Generalmusikdirektor schien ihm neben den künstlerischen Fähigkeiten die rechte Härte und Durchsetzungskraft zu besitzen. Sein Name: Herbert von Karajan, der nach dem Krieg von sich selber sagen sollte, er hätte jedes Verbrechen begangen, um den Berliner Posten zu bekommen und wäre dazu „selbst über Leichen gegangen.“ Nach einigem Hin und Her, mit dem Tietjen seine Position stärken wollte, lud er Karajan auf Befehl Görings zu einem Gastdirigat des „Fidelio“ am 30. September 1938 ein. Drei Wochen später dirigierte er den „Tristan“, und über Nacht war das „Wunder Karajan“ geboren. Schnell kursierte das Gerücht, der junge Dirigent sei von der Nazipresse hochgejubelt worden, um als Konkurrent Furtwänglers aufgebaut werden zu können. Politisch war auf den Newcomer jedenfalls Verlass. In vorauseilendem Gehorsam trat er der NSDAP gleich zweimal bei. Das erste Mal am 8. April 1933 in Salzburg, einen Tag nachdem die Nazis mit dem „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ die Juden aus ihren Ämtern trieben und die Aussicht auf viele frei werdende Dirigentenstellen groß war. Drei Wochen später unterzeichnete Karajan in Ulm erneut eine Beitrittserklärung, am letzten Tag, ehe die Partei eine Aufnahmesperre von vier Jahren verhängte. Dennoch behauptete der Opportunist später, er sei in Aachen von der Partei zum Beitritt gezwungen worden, damit er die Stelle als GMD am dortigen Theater bekommen konnte.

Künstlerisches Niveau

Mit Routine, Können, hin und wieder gezielt eingesetzten Intrigen und diplomatischem Geschick verstand es Tietjen, das künstlerische Niveau der Staatsoper hoch zu halten. Mut bewies er mit den Uraufführungen von Werner Egks „Peer Gynt“ am 24. November 1938 und Rudolf Wagner-Régenys „Die Bürger von Calais“ am 28. Januar 1939.

Beide Werke widersprachen der herrschenden Ideologie und wurden prompt abgesetzt. Die übrigen, sich auf die „sicheren Gefilde“ des traditionellen Repertoires beschränkenden Aufführungen der Lindenoper besaßen hohes musikalisches Niveau, getragen von Sängerpersönlichkeiten wie Erna Berger, Maria Cebotari, Margarete Klose, Tiana Lemnitz, Maria Müller, Viorica Ursuleac, Peter Anders, Willi Domgraf-Faßbaender, Eugen Fuchs, Max Lorenz, Jan Prohasca, Helge Roswaenge, Erich Witte, Marcel Wittrisch und viele andere mehr.

Wiederaufbau im Krieg

Dass die Berliner Staatsoper ein Prestigeobjekt der Nazis war, erwies sich nicht zuletzt, als das Haus vom 9. zum 10. April 1941 im Bombenhagel in Flammen aufging. Zum Beweis angeblicher „Unbesiegbarkeit“ wurde der sofortige Wiederaufbau befohlen. Interimsbühne des Staatsopern-Ensembles wurden die leer stehende Kroll-Oper und das Schauspielhaus. Zum 200. Jahrestag der Operngründung am 7. Dezember 1942 öffnete sich der Vorhang wieder vor einer Aufführung der „Meistersinger“. Keine zwei Jahre später , mit dem von Joseph Goebbels befohlenen „Totalen Krieg“, schlossen sich die Türen aller Theater, auch die der Lindenoper. Die immer heftiger werdenden fast täglichen Luftangriffe hätten einen Spielbetrieb überdies unmöglich gemacht. Nun sollten auch die Theaterleute der deutschen Wehrkraft in der Rüstungsindustrie dienen. Dank Tietjens Intervention bei Göring blieben jedoch die Mitglieder der Staatskapelle von der Kriegsverpflichtung verschont. Eine kleine Anzahl von Solisten, den „Gottbegnadeten“, wie er sie nannte, gestattete Joseph Goebbels weiter aufzutreten. Am 3. Februar sank die Staatsoper zum zweiten Mal unter dem alliierten Bombenhagel in Trümmer. Der totale Krieg endete in der totalen Vernichtung.

Schneller Neubeginn

Noch rauchten die Ruinen, als der erste sowjetische Stadtkommandant Bersarin am 14. Mai 1945 Berliner Künstler aus allen Bereichen zusammen rief, um mit ihnen über die Wiedereröffnung der großen Bühnen zu sprechen. Auch für die zertrümmerte Lindenoper hatte der kultursinnige Russe schon konkrete Pläne. Er ernannte Heinz Tietjen zum provisorischen Intendanten der Staatsoper und beauftragte ihn, das versprengte Ensemble wieder zu sammeln. Bereits am 16. Juni konnte im Großen Sendesaal des Rundfunkhauses in der Masurenallee das „Erste Große Operkonzert der Bisherigen Staatsoper Berlin“ stattfinden. Bersarin, der diesen Abend mit ermöglicht hatte, konnte daran nicht mehr teilnehmen. Der Generaloberst war an diesem Tag durch einen Motorradunfall ums Leben gekommen.

Vorrangig blieb in den Tagen des Neubeginns die Frage der Intendanz zu klären. Heinz Tietjen wurde als Nationalsozialist denunziert, der er nie gewesen war – ein Irrtum, der sich bald aufklärte – und schien politisch untragbar. So wurde ein Mann gefunden, der sowohl das Vertrauen der Opernmitglieder als auch das der sowjetischen Kommandantur fand. Ernst Legal erfüllte die Bedingungen auf das Glücklichste. Dadurch, dass er in den zwanziger Jahren gemeinsam mit Klemperer die Kroll-Oper geleitet hatte, schien er überdies ein Garant dafür, nun wieder an die Moderne anzuknüpfen. Am 24. August 1945 wurde Legal von der gerade gebildeten „Kammer der Kulturschaffenden“ zum Intendanten gewählt.

Wiedereröffnung

Wo aber sollte das sich langsam wieder formierende Ensemble der Staatsoper auftreten? Die Lindenoper war eine Ruine, an deren Wiederaufbau damals nicht zu denken war. Einzig der Admiralspalast, das frühere Revuetheater in der Friedrichstraße, wies wenig Zerstörung auf. „Nur“ das Dach musste repariert werden, und schon das brachte fast unlösbare Probleme. Pferdekadaver, Uniformreste und jede Menge Unrat waren zu beseitigen, im Keller stand das Wasser. Hungrige und entkräftete Männer und Frauen aus allen Berufen, Techniker, Bühnenpersonal und Künstler packten an und schufen sich unter unvorstellbaren Mühen eine neue Heimstatt für ihre Kunst. Buchstäblich aus dem Nichts musste ein Repertoire wieder aufgebaut werden, jeder Fetzen als Kostüm verwandt, jede Treppe als Dekoration eingesetzt, Instrumente aufgetrieben, Noten zusammengestoppelt und vor allen viel Phantasie, Improvisation und Organisationstalent von allen Beteiligten aufgebracht werden. Am 23. August war es dann soweit. Das „neue“ Haus konnte mit einem Festkonzert eröffnet werden. Zwei Wochen später folgte die erste Opernpremiere: Christoph Willibald Glucks „Orpheus und Eurydike“. Damit hatte offiziell die erste Nachkriegsspielzeit der „Deutschen Staatsoper Berlin“, wie sie nun hieß, begonnen. Zehn künstlerisch bewegte, spannungs- und ertragreiche Jahre sollten noch vergehen, bis das Ensemble in sein wieder aufgebautes Stammhaus Unter den Linden zurückkehren konnte. Professor Richard Paulick, einst Mitglied des Bauhauses hatte den Wiederaufbau geleitet. Die durch ihn vorgenommenen Veränderungen der Außen- und Innenarchitektur gereichten dem Bau zum Wohle. Nach seinen eigenen Worten wollte Paulick „die Oper so bauen, wie Knobelsdorff sie errichtet hätte, wenn Friedrich II. ihm nicht so viel hinein geredet hätte.“ Eröffnet wurde die rekonstruierte Staatsoper am 4. September 1955. mit einem festlichen Staatsakt unter Teilnahme aller wichtigen Parteifunktionäre und Amtsinhaber der DDR mit...? Richtig: Wagners „Meistersingern von Nürnberg“. Noch weitere 33 Jahre sollte es dauern, bis auch dieses politische Regime überwunden war und die Opernhäuser der so lange geteilten Stadt sich in künstlerischer Konkurrenz, jedoch im gemeinsamen Bemühen um hervorragende Leistungen wieder ergänzen konnten.

Susanne Geißler

 

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