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Oper im neuen Haus
Janáceks „Schicksal“ und Berlioz’ „Lélio“
in Darmstadt · Von Rotraut Fischer
Wiedergeburt durch die Kunst – welche Idee könnte geeigneter
sein, um nach zwei Jahren „Oper auf der Baustelle“ das
technisch und ästhetisch sanierte Darmstädter Theater
zu eröffnen! Das 1972 fertig gestellte Gebäude des Architekten
Rolf Prange mit seiner für die damalige Zeit typischen Bunkerarchitektur,
die in so merkwürdigem Gegensatz steht zu der gesellschaftlichen
und künstlerischen Aufbruchsstimmung jener Jahre, öffnet
sich nun durch einen dekorativen Vorbau in der Form eines Portals
nach dem Entwurf von Arno Lederer zur Stadt hin. Diesem Novum in
der architektonischen Sprache des Baus, der sich vorher eher vom
städtischen Raum abgekapselt hatte, entspricht freilich auf
der Seite der Stadt (noch?) keine urbane Struktur, die diesen Impuls
aufnehmen würde. Während man also von der großen
Terrasse weiterhin in die gewohnte städtebauliche Ödnis
blickt, bietet das Haus dem Besucher im Inneren überaus erfreuliche
Perspektiven: Hohe bronzefarbene Türen öffnen sich, man
betritt helle, klar strukturierte Räume, das elliptisch angelegte
Treppenhaus mit seinen Brüstungen aus Weißbeton bildet
einen kompakten Treppenkörper, zartfarbene Stoffsegel im Foyer
mildern optisch die niedrige Geschosshöhe.
Der künstlerischen Kreativität hat die lange Bauphase
nicht geschadet. Gespielt wurde im intimeren „Kleinen Haus“
oder in der neu errichteten Spielstätte, deren Konzeption einer
Auseinandersetzung mit den baulichen Gegebenheiten der 60er- und
70er-Jahre entsprang und das Theaterprovisorium in der Tiefgarage
platzierte. Technisch genügt das Große Haus nach einer
Fülle von Neuerungen höchsten Ansprüchen, denn es
bietet nicht nur exzellente künstlerische Gestaltungsmöglichkeiten,
sondern auch gute und sichere Arbeitsbedingungen. Am Eröffnungsabend
waren bemerkenswerte licht- und bühnentechnische Effekte zu
sehen.
Bei dieser ersten Musiktheater-Aufführung im neuen Haus entschied
sich Intendant John Dew nicht für ein „sicheres“
Paradestück, sondern für das künstlerische Experiment,
darin guter Darmstädter Tradition folgend. Er verband Leos
Janáceks selten gespielte Oper „Schicksal“ (Osud)
mit Hector Berlioz’ lyrischem Monodrama „Lélio
oder Die Rückkehr ins Leben“, einer Mischung aus gesprochenen,
gesungenen und instrumentalen Stücken, die der Komponist als
Fortsetzung seiner „Symphonie fantastique“ schrieb.
Von Künstlern und vom Spannungsverhältnis ihrer Biographie
zu ihrem Werk handeln beide Stücke, und als Klammer hat sich
Dew eine Künstlergestalt ausgedacht, die von Anfang bis zum
Ende auf der Bühne präsent ist, kostümiert als Doppelgänger
des Komponisten Zivný aus Janáceks Oper. Er ist Zivnýs
künstlerisches Alter Ego, das die biographischen Wirrnisse
überstehen und in dem als Fortsetzung gedachten Werk Berlioz’
durch die Kunst zu neuem Leben erweckt werden wird. Vorerst aber
trifft Zivný Mila wieder, seine große Liebe und Mutter
seines Sohnes. Er lebt mit ihr, bis der Irrsinn von Milas Mutter
– eine von Janáceks Bösen Müttern –
diese selbst und die Tochter in den Tod reißt. Zivný
ringt bis zum Ende seines Lebens um die Vollendung seiner Oper,
die sein eigenes Leben erzählt, und bricht schließlich
unerlöst zusammen, als er die Stimme der toten Mila zu hören
glaubt. In „Lélio“ erwacht er dann in der Gestalt
des Doppelgängers aus seinem Traum, setzt sich an den Flügel,
der trotz der Wechsel des Bühnenbildes stets in dessen Zentrum
verbleibt, um in den Erzeugnissen seiner künstlerischen Phantasie
neues Leben zu erlangen. Dieser aus der Romantik stammende Gedanke
einer Wiedergeburt des Lebens durch die Kunst realisiert sich in
monologisch gesprochenen Reflexionen und in den poetischen Phantasien
Lélios.
Trotz dieses interessanten Konzeptes wird die rechte Freude immer
wieder gestört durch Misstöne und Missgriffe der Regie.
Die Bewegungen auf der Bühne sind, besonders im Opern-Teil,
unbeholfen und unkoordiniert, wollen vielleicht die Sperrigkeit
der Figuren deutlich machen, wirken aber einfach ungekonnt. Sängerisch
verleiht Norbert Schmittberg der Figur des Zivný zwar eine
beachtliche Bühnenpräsenz, doch die Stimme ist in der
Höhe allzu gepresst. Yamina Maamars Mila klingt stumpf und
forciert. Die unselige Mutter dagegen, gesungen von Sonja Borowski-Tudor,
gibt mit gerundeter, glasklarer Stimme untheatralisch-nüchtern
und in sparsamen Gesten das Bild zunehmenden Wahnsinns. Lélios
Reflexionen und Assoziationen werden gesprochen von Hans Matthias
Fuchs. Zu sehen und zu hören ist hier ein Kunstschmerzensmann,
kein entfesselter Prometheus. In den Szenen, die Lélios künstlerische
Imagination schafft, kommen dann endlich Theater und Augenlust zum
Zuge, gelingen John Dew und dem Bühnenbildner Heinz Balthes
überzeugende Bilder: wenn auf der Bühne plötzlich
die pittoresken Gestalten einer Räuberbande durcheinanderwirbeln
oder wenn das bunte Gewimmel des Lebens in einer vorzüglichen,
auf klassischen Grundelementen beruhenden Choreografie Mei Hong
Lins über den Künstler hereinbricht und ihn mit fortreißt.
Glanz gewinnt dieser Abend durch die Musik. Die Partitur der Oper
stellt hohe Anforderungen nicht nur an die Sänger, sondern
auch an Streicher und Bläser. Das Orchester des Staatstheaters
unter der Leitung von Stefan Blunier breitet virtuos den kleingliedrigen
Klangteppich von Janáceks Komposition aus. Es gibt in diesem
selten zu hörenden Werk den Janácek der späteren
Jahre quasi in nuce zu entdecken. In hörbarem Kontrast zu dieser
dramatischen, aber gänzlich unromantischen Musik steht dann
die überbordende Phantastik und das Klangfarbenspiel der Gefühlswelt
in der Musik Berlioz’. Beide Klangwelten, prononciert und
in hoher Klangqualität von Orchester und Chor hingezaubert,
bildeten das solide Unterfutter dieser kontroversen Inszenierung,
die gleichwohl im besten Sinne „zu denken“ gibt.
Rotraut Fischer
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