Aulis Sallinen kommentierte sein Werk so: Diese Geschichte wäre es kaum wert, erzählt zu werden, wenn es darin nicht ein Lied gäbe, das über alle anderen herausragt. Dieses Lied ist das Thema der Mutter Kullervos. In der Gestalt des Monsters, des unglücklichen Mannes sieht die Mutter den kleinen Jungen, den sie vor Zeiten verlor. Und in diesem Lied kulminiert die Musik zu einfacher archaischer Tonsprache, enthüllt den Mythos in einer Art Albtraumszene, indem die Ur-beziehung von Mutter und Kind reflektiert wird. Diese Arie sang Angela Nick ergreifend, ihre Darstellung der Mutter, die ihr Kind verlor, war von elementarer Kraft und Verzweiflung. Vor und nach diesem Wendepunkt ist diese Oper eine Lebenschronik Kullervos, dieses mit magischen Kräften begabten, rohen, aber schönen Kindes, das schließlich als Erwachsener Selbstmord begeht. Weil Kullervo sein Trauma nicht verarbeiten, sein Leiden als Sklave beim Onkel Unto nicht ertragen und seine angestauten Aggressionen nur in Gewalttaten ausleben kann. Nachdem Kullervo von Unto an den Schmied verkauft worden ist, versucht dessen junge Frau ihn zu verführen. Kullervo ist einzig fähig, sie zu ermorden. Im Übrigen hat die Darstellerin Wilhelmina van Helms bei der eindeutigen Erotik dieser Szene Glaubwürdigkeit mit übertriebener Deutlichkeit (Masturbationshandlungen) verwechselt. Ein überflüssiges Zugeständnis an eventuell publikumswirksame Effekte. Denn die drastische Körperlichkeit in den brutalen Ereignissen wurde sonst eher zurückhaltend gezeigt, und so entsprach die Lübecker Inszenierung Sallinens epischem Stil. Hier ergab sich aber das Dilemma der Kullervo-Oper schlechthin: Sallinen und mit ihm Regisseur Elmar Fulda stellten den Mythos auf der Bühne dar, aber sie deuteten die Figur Kullervo nicht schlüssig für die Gegenwart. Mindestens war die Interpretation zu schwach, um Kullervo, der auch mit seiner Schwester Inzest beging und sie deshalb in den Tod trieb, als sozial deklassierte und psychisch kranke Persönlichkeit so zu zeigen, dass er in unsere Zeit übertragbar wäre. Zumal Bariton Tom Sol die Kullervo-Partie zwar stimmlich fabelhaft präsentierte, aber von der massigen Statur her und mit Halbglatze und Vollbart nicht die optimale Besetzung war. Dazu kommt, dass Sallinen eine Musik geschrieben hat, die einen krassen Gegensatz zum turbulenten Geschehen des Mythos bildet. Sie ist tonal, daher einfach zu hören, doch bewegt sie sich langsam wie in Dünungen voran, lähmt deshalb die Handlung auf der Bühne, friert sie manchmal sogar ein. Vielleicht ist das ein Versuch, eine Legende als kristallisierte Geschichte zu erfassen, wie Sallinen meinte. Das einheitliche und schlicht geniale Bühnenbild eines tristen Großstadt-Hinterhofes mit dem großen, die ganze Bühne bedeckenden Leichentuch von Ruth Schäfer spricht dafür. Es war sowohl für den exzellenten Chor unter der Leitung von Gabriele Pott als auch für die Protagonisten ein überzeugender visueller Rahmen. Rüdiger Bohn dirigierte die Lübecker Philharmoniker souverän und selbst begeistert durch die anspruchsvolle Partitur. Die Kullervo-Premiere hatte trotz mancher Skepsis beim eher konservativen Lübecker Musikpublikum eine im Wesentlichen positive Resonanz. Mit lang anhaltendem Applaus und mehreren Vorhängen feierten die Lübecker einen fulminanten Einstand zum Schwerpunkt Finnland in dieser Saison. CD-Tipp:Aulis Sallinen: Kullervo. Opera in two Acts. Finnish National Opera Orchestra and Chorus, Leitung: Ulf Söderblom. Ondine ODE 780-3T (3 CDs). Im Original ist das düstere Epos vom gewalttätigen Kullervo von bedrückender Dichte. Bariton Jorma Hynninen singt die Titelrolle überzeugend vor transparentem Orchesterklang. Das finnische Ensemble hat die eigenartige Prosodie dieses Werkes bestens interpretiert. |
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