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Berlin Jerusalem Berlin
Der israelische Komponist Josef Tal · Von Georg Beck
Am 18. September 1910 in Pinne bei Posen geboren, in Berlin aufgewachsen
und ausgebildet, in Jerusalem zu Hause. Josef Tal im israelischen
Musikleben engagiert und involviert ist sich seiner europäischen
Wurzeln stets bewusst geblieben. Auf Empfehlung von Boris Blacher
wird er 1969 Mitglied der Akademie der Künste. Namhafte Bühnen
zeigen seine Opern: 1971 Ashmedai (Hamburg), 1976 Die
Versuchung (München), 1987 Der Turm (Berlin),
1988 Der Garten (Hamburg), 1996 Josef (Rostock).
Doch Wurzeln geschlagen hat das umfangreiche, alle Gattungen umfassende
Oeuvre dieses Komponisten hier zu Lande kaum. Die national-identifikatorischen
Wunschbilder seiner israelischen Heimat hat Josef Tal vermutlich
ebenso oft enttäuscht wie die konventionell-europäischen
Erwartungen an einen jüdischen Komponisten. Auch einer trendsetzenden
Darmstädter Ästhetik musste eine Musik, die zwischen Bibel
und moderner Literatur, Symphonik und Elektronik, Judentum und Zwölfton
vermittelt, bestenfalls unverständlich bleiben. Georg Beck
traf den Komponisten anlässlich seines 90. Geburtstages in
seiner Wohnung in Jerusalem zu einem Gespräch, aufgrund dessen
der folgende Text entstand.
Als Komponist und Erzähler ist Tal Grafiker. Jedes Erinnerungsbild
wird Linie. Die Summe aller Linien ergibt ein Leben. Dessen Anfang
liegt in Berlin. Dreh- und Angelpunkte dort sind Musikhochschule
und rabbinisches Elternhaus, sprich: Judentum und Moderne
nicht als deutsch-jüdische Symbiose, wie trotz
Gershom Scholems klarem Widerspruch die Verklärungsformel weismachen
will. Denn wo schneiden sich Parallelen? Allenfalls im unendlichen
Augenblick, wie ihn Josef Tal alias Gruenthal tatsächlich in
einer Kindheitserinnerung aus den frühen zwanziger Jahren bewahrt
hat.
An der Seite des Vaters betritt er an einem Sabbat-Abend eine kleine
Synagoge im damaligen Scheunenviertel. Rabbiner Dr. Julius Gruenthal,
im Hauptberuf Dozent an der Hochschule für die Wissenschaft
des Judentums und in dieser Eigenschaft zeitweise einem Studenten
namens Franz Kafka vortragend, hat eine Vorliebe für diesen
Ort. Ostjuden haben sich hier, mitten im ausgelassenen Treiben der
Großstadt, ein Refugium geschaffen. Ihr Bethaus in der Grenadierstraße,
so erinnert sich Tal, ist indes nicht mehr als ein Zimmer. Schmucklos.
Ohne Bank und Stuhl. Einhundert Männer, pittoresk in bodenlange
Kaftane gekleidet, drängen sich zusammen, ein jeder versunken
in Gebet und Andacht. Gebetbücher, Vorsänger, Vorbeter
sind überflüssig. Was einer für eine solche Stunde
braucht, trägt er in sich.
Eigentümlicher Sprechgesang erfüllt den Raum. Jeder dieser
Beter-in-Trance, so Tal, folgt seinem Rhythmus, seiner Melodie,
bewegt sich in seinem Tempo und seiner Klangfarbe. Eine Kunstübung
in der Nachbarschaft von Klangcollage, Sprechfuge und Ausdruckstanz.
Das religiöse Sehnen als Triebmoment und Werkmeister ästhetischer
Figuration, von der die Produzenten selbst kein Bewusstsein besitzen.
Adornos Forderung ans künstlerische Subjekt scheint ins Bild
gesetzt. Jede Stimme eine autonome Bewegung die Summe aller
Stimmen ein anderes Ganzes jenseits des Horizonts der Einzelstimmen.
Ein Synagogenerlebnis, eine Berliner Kinderszene von fremden Ländern
und Menschen als Stimulus fürs kompositorische Bewusstsein?
Zumindest stellt dieses Geschehen zwischen Improvisation und religiöser
Performance den Augen- und Ohrenzeugen Josef Tal vor ein Problem:
Wie der Gleichzeitigkeit ungleichzeitiger Ereignisse eine gültige
Form geben? Serialismus, Aleatorik, Elektronik auch am Nebeneinander
kompositorischer Schreib- und Denkweisen hat sich Tal stets gerieben,
hat sie seinem Instrumentalsatz anzuverwandeln gesucht.
Solche Vergleichzeitigung des Ungleichzeitigen hat freilich nicht
nur kompositionstechnische Bedeutung. Ihr existenzieller Sinn ist
ablesbar am Leben eines deutsch-jüdischen Künstlers, der
das nazivergiftete Berlin im März 1934 verlassen muss, der
als Pianist, Komponist und Musikerzieher in Israel heimisch wird,
aber die Brücken in die Stadt seiner Kindheit und Jugend
obwohl die Familie im Holocaust zugrunde geht nicht abbrechen
lässt. Berlin-Jerusalem das ist für Josef Tal auch
als Krebs ein begehbarer Weg.
Der Doyen des israelischen Musiklebens ist ein Komponist von bemerkenswerter
Altersproduktivität. Die erste Symphonie entsteht mit dreiundvierzig
Jahren, die beiden letzten von insgesamt sechs Werken dieser Gattung
erst mit einundachtzig Jahren. Sechs von acht Opern komponiert Tal
um sein sechzigstes Lebensjahr herum oder sogar noch später,
Josef gar erst mit dreiundachtzig Jahren. Und das geplante
Folgeprojekt Ein friedlicher Ort, eine Oper über
das Trauma Rostock-Lichtenhagen in allen Orten, bleibt lediglich
aufgrund eines akuten Augenleidens des Komponisten Fragment.
Eminente Altersvitalität, wohin der Blick auf das rund einhundert
Opusnummern umfassende Oeuvre fällt. Weitermachen ist
Pflicht, sagt Tal lakonisch über seine Arbeit. Dabei
hat das Spätwerk des israelischen Komponisten nichts Verrätseltes,
will nichts überwölben, schon gar nicht alles mit allem
versöhnen. Eher verstärkt Josef Tal das latent Karge seiner
Schreibweise.
Der Blick für die Ökonomie der Mittel wird schärfer,
die Intensität des Ausdrucks fast zwangsläufig größer.
Dies belegen insbesondere seine in den letzten Jahren entstandenen
Essays, ein insgesamt halbstündiger, für den
Berliner Pianisten Jeffrey Burns komponierter Klavierzyklus: Vorwärts
stürzende Quintolen-Ketten, die urplötzlich abgebremst
werden, ihre Energie in Ruhepunkten freisetzen und Reflexionsräume
hervorbringen, in denen nachgehört werden kann.
Was ist geschehen? Wie weiter? Der Sohn des Rabbiners
so Tals auf dem deutschen Buchmarkt seit Jahren vergriffene
Autobiografie verhält sich hier wie in einem gelehrten
rabbinischen Disput. Mit einer Frage kommen, hinhören, antworten,
eine neue Frage in der Antwort heraushören. Jedem Ende wohnt
ein Anfang inne. Josef Tal ist keiner Schule zuzurechnen. Für
einen israelischen Komponisten, der 1934 ins Land kommt,
ist dies insofern bemerkenswert, als er der Faszination des nationalidentifikatorischen
Mittelmeerstils widersteht. Was Schönberg 1938
in einem Brief an Joseph Klatzkin bitter beklagt Und
jetzt will man doch in Palästina, künstlich, eine jüdische
Originalmusik erzeugen, die meine Leistungen abweist
gilt nicht für die Musik Josef Tals. Nicht, dass sich der Komponist
als Schönbergianer verstanden hätte oder verstehen würde.
Tal bewahrt auch in dieser Hinsicht Selbstständigkeit, selbst
wenn sich seine Musik immer wieder zwölftönig strukturiert.
Nicht der Schule, der Ausdrucksästhetik Schönbergs fühlt
sich Josef Tal verpflichtet. Dass an Musik als emotionaler Form
kunstvoller Gedankenführung etwas gelernt werden kann, dass
sie als materielle Seite des Geistes Teil eines ganzen Lebens ist
darin artikuliert sich für Josef Tal das Selbstverständnis
seiner Kunst. Gegen das Regressionsbedürfnis im Publikum und
bei Komponistenkollegen hält er fest an einem Ethos, das Komponieren
als Forschen und Erforschen von Neuland versteht. Was als Thema
in die Welt gesetzt wird, stellt Forderungen. Insofern ist Komponieren
die Verantwortung, die süße Pflicht, solchen Forderungen
gerecht zu werden. Der Kronzeuge: Beethoven. So gesehen ist verständlich,
wenn Tal gegenüber einer Ästhetik des schönen Scheins
heftige Abwehraffekte mobilisiert. Musik wird erdacht, nicht assoziiert.
Vom Ende des Weges fällt der Blick zurück auf die Anfänge.
Im Jahr 1934, in dem Tal mit einem kurzfristig erworbenen Fotografendiplom
emigriert, sind die Voraussetzungen für den jungen Musiker
denkbar günstig. Sie berechtigen zu größten Hoffnungen:
Das Klavierexamen hat er nach seinem Studium bei Max Trapp mit Bravour
hinter sich gebracht, ebenso das Fach Musiktheorie beim Schönbergianer
Heinz Tiessen. Zahlreiche Praxiserfahrungen in der Klavierpädagogik
hat er gesammelt, und als Begleiter in der avancierten Berliner
Tanzszene ist er immer ein gern gesehener Gast. Dazu hat er ein
exotisches Nebenfach absolviert. Tals Harfenstudium
beim verehrten Lehrer Max Saal ist mehr als eine akademische Pflichtübung.
Und dann, als die Republik bereits im Koma liegt, betritt Tal
eines Tages auch das Souterrain der Berliner Musikhochschule an
der Hardenbergstraße. Ein folgenreicher Besuch. Ingenieur
Friedrich Trautwein hat hier seine legendäre Erfindung, das
Trautonium aufgebaut, das später Hitchcocks Vögeln
die Stimme leihen wird. Ein akustisches Fenster in die Welt der
synthetischen Klangerzeugung ist aufgestoßen. Hindemith ist
ebenso begeistert wie der damals noch in seinen Anfängen steckende
Komponist Josef Tal. Wie ein Blitz traf es auch mich,
so Tal über diesen Moment der Erleuchtung.
Erst Jahrzehnte später kann er seine Vision praktisch werden
lassen. 1961 gründet Tal an der Hebräischen Universität
Jerusalem das Zentrum für elektronische Musik in Israel.
Die Zeit, in der er die Kibbuzim als frei konzertierender Pianist
bereist, ist da schon Vergangenheit. Tals Ruhm führt ihn von
1948 bis 1952 an die Spitze der Jerusalemer Musikakademie, 1965
in die Leitung der Musikabteilung der Hebräischen Universität.
Doch so tief Josef Tal im israelischen Musikleben verwurzelt ist,
so vielfältig die Bezugnahmen auf biblisch-jüdische Themen
sind in seiner Musiksprache entwickelt er seinen europäischen
Hintergrund weiter. Tals abstrakter Neoexpressionismus scheint allerdings
wenig zeitgemäß. Selbst die Wiedergutmachungs-Projektionen
einer Post-Tätergeneration, die in der Wendeära die Wahrnehmung
des vergessenen Berthold Goldschmidt gewissermaßen
aus dem Nichts bewirkten, bringen in diesem Fall keine
Schubkraft hervor. So bleibt für Hörer und Interpreten
allein die Musik. Doch wenn es stimmt, dass ein Künstler mit
der Darstellung seiner Werke geehrt wird, hätte Josef Tal seinen
Gratulanten nicht nur zum Neunzigsten vieles anzubieten.
Georg
Beck
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