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Auf der Suche nach Neuland
Oper und Tanz im Staatstheater Darmstadt · Von Klaus Trapp
Darmstadt ein Ort mit etwa 130.000 Einwohnern, im Rhein-Main-Gebiet
gelegen, leicht zu erreichen von Frankfurt, Wiesbaden, Mainz, Mannheim
und Heidelberg. Darmstadt, offiziell Wissenschaftsstadt
genannt, ist zugleich eine Stadt, die sich zu ihren kulturellen
Traditionen bekennt. Die Zeiten, in denen sie großherzogliche
Residenzstadt war, haben trotz der Zerstörungen durch den Zweiten
Weltkrieg deutliche Spuren hinterlassen: Schloss, Orangerie und
Jagdschloss Kranichstein, Stadtkirche, Altes Landestheater und Hessisches
Landesmuseum sind nur einige markante Zeugnisse dafür.
Tradition hat auch das Darmstädter Theater. Aus dem einstigen
Hoftheater hat sich das heutige Staatstheater entwickelt, und mancher
wundert sich, dass sich eine vergleichsweise kleine Stadt ein Großes
Haus für das Musiktheater mit 956 Plätzen, ein Kleines
Haus für das Schauspiel mit 482 und eine Werkstattbühne
mit etwa 150 Plätzen leisten kann. Dieses von der Stadt und
dem Land Hessen gemeinsam finanzierte Theater benötigt Jahr
für Jahr etwa 50 Millionen Mark, und überdies steht in
den kommenden Jahren eine aufwendige Renovierung an, um deren Finanzierung
zwischen Land und Stadt noch gerungen wird alle Verantwortlichen
bekennen sich zu ihrem Theater. Dieses Haus ist indes
nicht nur für die Darmstädter Bürger gebaut, auch
Besucher aus dem Umland, der Bergstraße, dem Odenwald, dem
Ried kommen regelmäßig in die Vorstellungen.
Die Wurzeln des Darmstädter Theaters lagen in einer Reithalle,
die, 1617 erbaut und mehrfach verändert, bis 1944 immer wieder
als Spielstätte für Schau- und Singspiele, Ballette und
Opern diente. Neue Impulse erhielt das Musiktheater durch den Bau
eines großen Opernhauses, das Großherzog Ludwig I. bei
seinem Oberbaudirektor Georg Moller in Auftrag gab. 1819 wurde das
Haus mit seinen rund 2.000 Plätzen eröffnet. Das Orchester
wuchs in den Folgejahren auf fast hundert Musiker an, die meisten
Proben leitete der musikbegeisterte Großherzog selbst.
Dreispartentheater
Im 19. Jahrhundert bereits zeigte sich, dass man in Darmstadt
dem Neuen gegenüber besonders aufgeschlossen ist. Immer wieder
gab es Uraufführungen und Deutsche Erstaufführungen, wie
beispielsweise 1843 Carl Amand Mangolds Köhlermädchen,
1846 Mangolds Tannhäuser, 1857 Verdis Sizilianische
Vesper, 1861 Gounods Margarethe, 1868 Verdis Don
Carlos. Früh fanden auch Werke Richard Wagners Eingang
ins Darmstädter Repertoire. Das Engagement des Ballettmeisters
Carl Tescher als Direktor des Hoftheaters bezeichnete 1850 einen
organisatorischen Neubeginn: die Tradition des bis heute gepflegten
Dreispartenhauses begann wenn man das vom Staatstheater Darmstadt
gebotene Konzertprogramm berücksichtigt, könnte man gar
von einem Vierspartenhaus sprechen.
1918 wandelte sich das Hoftheater zum Landestheater, Dirigenten
wie Felix Weingartner, Karl Böhm, Hans Schmidt-Isserstedt,
Carl Maria Zwißler prägten die musikalischen Geschicke
Darmstadts. Nach 1933 hörte zwar die Zeit des Einsatzes für
neueste Musik auf, doch hielten Dirigenten wie Karl Friderich, Heinrich
Hollreiser und Fritz Mechlenburg die künstlerische Qualität
aufrecht. Der Zerstörung Darmstadts im September 1944 fielen
auch die beiden Theatergebäude zum Opfer. Schon 1945 wagte
man einen Neubeginn in der Orangerie als improvisierter Spielstätte.
Man verzichtete auf den Wiederaufbau des Moller-Theaters, das erst
viele Jahre später als Staatsarchiv eine neue Nutzung fand.
Der Architekt Rolf Prange entwarf einen schnörkellosen, funktionalen
Theaterneubau, der drei Bühnen und sämtliche Werkstätten
unter einem Dach vereint und 1972 als Staatstheater eingeweiht wurde.
Unter den Intendanten Günther Beelitz, Kurt Horres und Peter
Brenner gewannen Oper und Schauspiel ein charakteristisches Profil,
das durch die neue Sicht auf Bewährtes wie durch die Suche
nach Neuland bestimmt war. Peter Girth und seit 1996
Gerd-Theo Umberg führten diese Tendenz mit unterschiedlichen
Akzenten fort. Von 1963 bis 1994, also über dreißig Jahre
lang, war Hans Drewanz ein engagierter, vielseitiger Generalmusikdirektor,
der bei allem Engagement für das Neue die Qualität der
künstlerischen Arbeit als oberstes Gesetz postulierte. Der
noch junge Marc Albrecht, der ihn 1994 ablöste und dem Orchester
wie dem Opernbetrieb starke eigene Impulse gab, wird das Theater
im kommenden Jahr verlassen. Der Schweizer Stefan Blunier ist sein
designierter Nachfolger.
Blickt man auf den Opernspielplan der letzten Jahre zurück,
dann fällt der hohe Anteil an Werken des zwanzigsten Jahrhunderts
auf, wobei die klassische Moderne wie die avantgardistische Szene
vertreten sind. Genannt seien Alban Bergs Wozzeck in
der Inszenierung des Operndirektors Friedrich Meyer-Oertel und unter
der musikalischen Leitung von Marc Albrecht, Richard Strauss
Elektra und Frau ohne Schatten sowie Arnold
Schönbergs Moses und Aron, Berthold Goldschmidts
fast vergessene Oper Der gewaltige Hahnrei, Sandeep
Bhagwatis Oper Ramanujan . In Uraufführung waren
zu erleben Jan Müller-Wielands Oper Die Versicherung,
Wolfgang Mitterers Ka und der Pavian sowie Jocy de Oliveiras
As Malibrans, in deutscher Erstaufführung Lars
Klits Einakter Der letzte Virtuose.
Entdeckungsfreudig
Friedrich Meyer-Oertel betont im Gespräch, dass das Darmstädter
Theater sich schon immer zu seiner Verpflichtung gegenüber
dem jeweils Neuen bekannt habe. Andererseits hätten viele frühere
Erfolgsstücke nicht mehr die alte Zugkraft. Wenn man gängige
Opern auf die Bühne bringe, müsse das Vertraute in neuem
Licht erscheinen, denn die Geschichte eines Werkes sei schließlich
mit jeder Aufführung weitergeschritten. Die künftige Umbauphase
des Theaters, die den zeitweiligen Umzug in Behelfsspielstätten
erzwingt, sieht Friedrich Meyer-Oertel auch als Chance: Es gehe
darum, Stücke zu finden, die den Improvisationsgeist der Theatermacher
herausforderten. Dass man auch bei oft gespielten Komponisten Entdeckungen
machen kann, will der Operndirektor demnächst mit Verdis Die
sizilianische Vesper zeigen.
Fruchtbare Chorarbeit
Friedrich Meyer-Oertel bedauert zwar, dass der Darmstädter
Opernchor nur etwas über vierzig Mitglieder zählt, doch
betont er, wie reibungslos und fruchtbar die Zusammenarbeit mit
diesen von Chordirektor André Weiss betreuten Sängern
verläuft. Für Werke mit grossen Chorpartien wird ein Extrachor
zur Verstärkung verpflichtet, der sich aus Mitgliedern verschiedener
Chorvereinigungen zusammensetzt. Bei den Inszenierungen von Wozzeck,
Macbeth und Othello beispielsweise wurde
die Schlagkraft und Differenziertheit der Chorszenen allgemein gerühmt.
Für die Realisierung von Schönbergs höchst anspruchsvoller
Oper Moses und Aron wurde zusätzlich der Rundfunkchor
Krakau hinzugezogen, so dass zwei Chorgruppen, sich beflügelnd,
gegenüberstanden. Meyer-Oertel liebt es, grosse Gruppen in
Bewegung zu bringen und, wo immer es möglich ist, die Individualität
der einzelnen Sängerinnen und Sänger aufzuspüren
und auf der Bühne zur Geltung zu bringen. Bedeutungsvoll ist
auch die intensive Arbeit mit dem Kinderchor: Hier wird gleichsam
das fachkundige Opernpublikum von morgen herangezogen.
Innovatives Tanztheater
Eine Sparte mit ganz eigenem Gesicht ist das Tanztheater. Dessen
Leiterin Birgitta Trommler, 1996 von Münster nach Darmstadt
übergewechselt, hat die Suche nach Neuem, verbunden mit künstlerischen
Grenzüberschreitungen, auf ihr Panier geschrieben. Dies ist
nicht einfach an einem Theater, dass seither wenn man einmal
von der Zeit Gerhard Bohners in den Jahren 1972 bis 1975 absieht
nur das traditionelle Opernballett gekannt hat. Birgitta
Trommlers Konzept folgt einer neuen Ästhetik, die den Tänzer
im Spannungsfeld von Musik, Wort und Bewegung sieht, ihm Fantasie
und Improvisationsgabe abverlangt: Jeder einzelne ist Autor
seiner Rolle. Das konservative Theaterpublikum hat seine Probleme
mit einer solch kompromisslosen Haltung, und manche Besucher verweigern
sich der Koppelung von Opernabonnement und Tanztheaterbesuch. Doch
andererseits findet Birgitta Trommler ihr eigenes Publikum, das
interessiert dem Werkstattgedanken einer Arbeit folgt, die bereit
ist, sich selbst in Frage zu stellen. Die vierzehn Positionen, die
der Tanztheaterchefin zur Verfügung stehen, sind nicht auf
Dauer besetzt, so dass mit dem einkalkulierten Wechsel auch das
ständige Sammeln neuer Erfahrungen einhergeht. Birgitta Trommler
arbeitet gern eng mit Komponisten zusammen. So hat sie mit Moritz
Eggert die Stücke Gegenwart ich brauche Gegenwart
und Im Sandkasten kreiert, mit Philip Glass Looking
for Lulu und The Photographer. Ihre jüngste
Produktion verbindet das Tanztheaterstück Stranger than
fiction: M.M. nach Jocy de Oliveira, das dem Schicksal der
Sängerin Maria Malibran nachgeht, mit Philip Glass Einakter
The Fall of the House of Usher. Fürs nächste
Jahr plant Trommler zusammen mit Glass ein Stück nach Marguerite
Duras, in das eine Countertenor-Partie integriert werden soll.
Die innovative Einstellung des Darmstädter Tanztheaters spricht
auch aus der Erprobung neuer Veranstaltungsreihen: Das Festival
Serious Fun dient der Suche nach interdisziplinären
Theaterformen, der Wettbewerb Cutting Edge bietet, gleichsam
als in die Zukunft weisende Speerspitze, jungen Choreografen
und Theatermachern ein Forum für die Darstellung ihrer neuen
Konzepte. Birgitta Trommler sucht die öffentliche Diskussion.
Sie fordert nicht nur ihre Tänzer, sondern auch das Publikum
zum Mitdenken auf, und sie überlegt, wie Nachwuchsförderung
gelingen kann: durch Besuch öffentlicher Proben, Einführungsveranstaltungen,
engere Zusammenarbeit mit den Schulen, originelle Werbung fürs
Theater.
Pädagogische Arbeit
Theaterpädagogik spielt überhaupt eine sehr wichtige
Rolle in Darmstadt. Unter dem Motto Theater im Kontakt
werden Führungen mit einem Blick hinter die Kulissen, daneben
Theaterbesuche mit Vorbereitung und anschliessender Diskussion,
Workshops, Spielübungen und Bewegungstraining mit dem Ensemble
des Tanztheaters angeboten. Jugend- und Familienkonzerte suchen
Interesse für Musik und Musiktheater zu wecken, und auch Lehrer
und Lehrerinnen werden gezielt angesprochen. Neben den seit langem
fest etablierten Sinfonie- und Kammerkonzertreihen haben Musiker
des Staatstheaterorchesters einen eigenen Zyklus ins Leben gerufen,
der unter dem Stichwort Soli fan tutti Raritäten
und Kostbarkeiten der Kammermusik anbietet und zugleich den hohen
Leistungsstand des Orchesters bestätigt. Das Theater geht nach
draußen, sucht den Kontakt zu den Bürgern, macht von
sich reden nur so kann es seine Zukunft im Dschungel der
Mediengesellschaft sichern.
Klaus
Trapp
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