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Früh anfangen
Thesen zur Gesangspädagogik · Von Charlotte Lehmann
Ab wann soll man auf Entdeckung stimmlicher Begabung gehen, die
unsere Chöre als Nachwuchs brauchen und suchen? Ab wann darf
und soll man junge Stimmen fordern und sie fördern?
Diese Fragen beschäftigte intensiv die Fachleute und Organisatoren,
als es vor zehn Jahren darum ging, die vokale Seite in den bisher
ausschließlich dem instrumentalen Musizieren gewidmeten Wettbewerb
Jugend musiziert einzubeziehen. Charlotte Lehmann, Professorin
an der Musikhochschule Würzburg und viele Jahre lang Präsidentin
des Bundesverbandes Deutscher Gesangspädagogen, hatte die Einführung
der Kategorie Gesang all die Jahre hindurch beratend und in Jurygremien
mitwirkend begleitet. Zur vokalen Frühförderung fasst
sie ihre Eindrücke, Erfahrungen und Empfehlungen zusammen.
Es war meines Erachtens eine der verdienstvollsten Maßnahmen,
auch das Fach Gesang in den Wettbewerb Jugend musiziert
zu integrieren. Die steigenden Teilnehmerzahlen in dieser Disziplin
und parallel dazu der unerwartete Boom an den Musikschulen im Fach
Gesang sind sichtbare Erfolge. Es scheint sich herumgesprochen zu
haben, was man in Italien schon im 17. Jahrhundert wusste, dass
in allen Disziplinen sich früh krümmt, was ein Häkchen
werden will. Wir müssen ja nur glauben, was wir sehen,
begreifen, was wir immer wieder miterleben, um uns klar darüber
zu werden, wo unsere pädagogischen Chancen liegen: noch bevor
man einem Kleinkind eine Rassel in die Hand drücken kann, noch
bevor es die Möglichkeit hat, seine Wünsche zu verbalisieren,
bringt es seine Bedürfnisse, seine Freude und seine Ängste
mit seiner Stimme eindrucksvoll und unmissverständlich zum
Ausdruck. Diese spontane Äußerung wird natürlicherweise
durch den Spracherwerb etwas zurückgedrängt, um nicht
zu sagen ver-drängt. Stimmumfang und Dynamik verkümmern.
Deshalb sollte gleichzeitig mit dem Erwerb der artikulatorischen
Fähigkeiten auch ein Tonhöhenbewusstsein entwickelt werden,
damit die Lust, sich mit dem ureigenen Instrument auszudrücken,
in Bahnen gelenkt wird, die durch unsere Musikkultur vorgegeben
sind. Das Heinrich-Schütz-Konservatorium Dresden hat diesen
Zusammenhang klar erkannt und Konsequenzen daraus gezogen. Dort
wurde eine Piepmatzgruppe eingerichtet, in der Mütter
und/oder Väter in Anwesenheit ihrer Kleinst- und Kleinkinder
und bald auch mit ihnen zusammen Lieder singen lernen. Ich bin sicher,
dass diese Kinder den Weg in einen Kinderchor oder eine Gesangsklasse
finden, ohne dass man ihnen erklären muss, dass Singen ebenso
erlernbar ist wie Klavierspielen und Autofahren.
Stimmbruch Mutation
Auch die Mutation ist kein Grund, mit dem Singen vollständig
aufzuhören. Sicher ist der sogenannte Stimmbruch eine Zeit,
in der das Instrument mit äußerster Vorsicht behandelt
werden muss, aber gerade dann ist die Betreuung durch einen Lehrer
von größter Wichtigkeit. Eine Voraussetzung für
einen unproblematischen Übergang von der Kinder- in die Erwachsenenstimme
scheint mir zu sein, dass schon vor der Mutation das Organ sowohl
in der Kopf- als auch in der Bruststimme benutzt wird, das heißt
der Übergang von der Höhe zur Tiefe muss sich unbemerkt
vollziehen können. So geschult, sind dann auch Stimmumfänge
von drei Oktaven bei Zwölfjährigen keine Seltenheit. Die
Öffnung des Wettbewerbs Jugend musiziert auch für
die unteren Altersgruppen ist schon aus diesem Grund von ganz entscheidender
Bedeutung gewesen. Die Angst, man könne Kinder durch Konkurrenzdenken
überfordern und sie einem Stress aussetzen, dem sie unter Umständen
nicht gewachsen sein könnten, scheint mir völlig unbegründet.
Kinder brauchen und lieben den Vergleich mit anderen, sie suchen
den Wettkampf in all ihren Spielen, wir brauchen ihnen nur möglichst
sinnvolle Spielregeln an die Hand zu geben.
Ausbildung der Lehrkräfte
Ein dringliches Thema, das aber vermutlich nicht ohne kulturpolitische
Richtlinien auskommt, da unsere Hochschulen fast durchgängig
zu unbeweglich sind, um eigenständig auf diese Bedürfnisse
reagieren zu können. Hier sollte im Rahmen des Faches Didaktik
und Methodik des Gesangs dringlich die Stimmbildung für Kinder
und Jugendliche thematisiert werden. Eine praxisbezogene Information
über die Ausbildung und Behandlung der Kinderstimme
und zwar nicht nur für Studierende der pädagogischen Bereiche,
sondern auch der künstlerischen Ausbildungsgänge
könnte so manchem Hochschulabgänger den Übergang
in das Berufsleben erleichtern. Denn nicht alle Absolventen können
sofort oder in absehbarer Zeit ein Theaterengagement erhalten. Sie
werden durch Auftritte als Konzertsänger und durch Unterrichten,
meist jüngerer Sänger, den Einstieg in die angestrebte
Karriere zu finden versuchen.
Geradezu verhängnisvoll ist, dass der Unterricht im sogenannten
Pflichtfach Gesang für Schul- und Kirchenmusiker an manchen
Hochschulen gekürzt und/oder von Lehrbeauftragten unterrichtet
wird, die für diese speziellen Aufgaben nur selten gerüstet
sind.
Singen in der Schule
In den Vor- und Hauptschulen könnte der Unterricht, der in
den sechziger Jahren zu dem abprüfbaren Fach Musik hochstilisiert
wurde, vielleicht wieder Singen heißen. Singen ist die
beste Kunst und Übung, die Jugend soll man stets zu dieser
Kunst gewöhnen? Daran hat sich bis heute nichts geändert.
Charlotte
Lehmann
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