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Die alten Tragödien
Opernaufführungen der Salzburger Festspiele · Von
Gerhard Rohde
Am Anfang der Salzburger Festspiele des Jahres 2000 stand ein
Satz von Octavio Paz: Vom Leben und vom Tod gleichermaßen
fasziniert, ist die Liebe Sturz und Flug, Wahl und Unterwerfung.
Liebe und Tod, Eros und Thanatos das alte Thema umschlang
und durchzog die Opernaufführungen der Festspiele: Berlioz
Monumentalwerk Les Troyens konterkariert vom
Satyrspiel der Belle Hélène Jacques Offenbachs.
Die furchtbaren Geschehnisse, die sich mit dem Namen Troja verbinden,
wirken weiter in den Geschichten, die in Glucks Iphigénie
en Tauride und Mozarts Idomeneo erzählt werden.
Von Liebe und Tod, von Gewalt, Zerstörung und Untergang handeln
auch Don Giovanni, Richard Wagners Tristan und
Isolde und Cherubinis Medée. Von Liebe
und Sterben, von verzehrender Sehnsucht und von tödlicher Nähe
spricht Kaija Saariahos Lamour de loin (Die ferne
Liebe), die in Salzburg uraufgeführt wurde. Und dass Mozarts
Così fan tutte, die tändelnde Täuschungs-
und Verwirrungskomödie um eine frivole Liebes- und Treuewette,
einen doppelten Boden, dunkle Seelenabgründe und surreale Albträume
birgt, auch das war in Salzburg eindringlich zu erfahren. Das Thema
von Liebe und Tod spiegelte sich in vielen Konzerten, in Liederabenden
und Schauspielinszenierungen. Und in Wolfgang Rihms Kammeroper Jakob
Lenz, die in einer faszinierenden Aufführung der Sommerakademie
in der Universität Mozarteum gleichsam den Finalakt zum Thema
beisteuerte: die Zerstörung des Menschen in einer wüsten
Welt. Vielleicht noch nie erschien das Programm der Festspiele so
dicht und geschlossen wie in diesem Jahr, so dramaturgisch durchdacht
und intellektuell ausgeformt.
Künstlerisch geprägt wurde es durch die unterschiedlichsten
Handschriften und Stile der Regisseure, Bühnenbildner, Dirigenten
und Sänger. Herbert Wernicke stellte für die Trojaner
ein bühnenhimmelhohes, weißgestrichenes Halbrund auf
die Szene des Großen Festspielhauses. Hinten in der Wand findet
sich ein ebenso hoher, schmaler Spalt, durch den die Menge sich
zwängt: Die Eingeschlossenen von Troja. Im Spalt wird ein abgestürzter
Kampfjet sichtbar, später zieht in Zeitlupe und nur in Segmenten
sichtbar, das bekannte hölzerne Pferd vorüber. Die Soldaten
tragen die Waffen und Uniformen von heute: Troja ereignet sich immer
wieder, bis auf den heutigen Tag. Wernicke hält mit seiner
Berlioz-Interpretation eine Philippika wider jeden Krieg. Der kollektive
Tod der trojanischen Frauen gerät zu einer erschütternden
Anklage. Am Ende des zweiten Teils, wenn Aeneas nach Italien aufbricht,
eine neues Reich zu gründen, zerreißen Karthager und
Trojaner ihre nationalen Symbole in Rot oder Blau eine leicht
flächig wirkende Chiffre. Dazwischen breitet sich die Liebesgeschichte
zwischen Aeneas und der Karthagerkönigin Dido weitschweifig
aus. Doch singt Deborah Polaski die Königin wie schon im ersten
Teil die Seherin Cassandra wunderbar expressiv und kantabel. Jon
Villars zeichnet den Aeneas präzis in der Zerrissenheit zwischen
Gefühl und göttlichem Auftrag. Yvonne Naef stattet die
Anna mit schönem Wohllaut aus. Faszinierend breitet Sylvain
Cambreling mit dem Orchestre de Paris die Riesenpartitur aus: Leuchtend
in den Klangfarben und instrumentalen Farbmischungen, ohne sämigen
Streicherteppich, dafür mit plastisch modellierten Bläsereinsätzen,
alles von äußerster Beredtheit und Präsenz des Vortrags.
Das gilt auch für den fabelhaften Chor: Donald Palumbo hatte
die Konzertvereinigung Wiener Staatsopernchor, den Slowakischen
Philharmonischen Chor und den Tölzer Knabenchor mit hoher Präzision
vorbereitet.
Was für ein bedeutendes Werk Glucks Iphigénie
en Tauride ist, auch das war in Salzburg wieder einmal
zu erfahren. Die Verrohungen des trojanischen Krieges wirken weiter,
bis ins Familiäre hinein. Um überhaupt zum Kriegsschauplatz
gelangen zu können, musste Agamemnon die eigene Tochter als
Blutopfer darbringen. Die grausige Tat zerstörte Seelen und
Herzen der Menschen. Zwar wurde Iphigenie von der Göttin Diana
gerettet und als Priesterin im Tempel auf Tauris eingesetzt. Doch
auch hier wird sie von der Vergangenheit eingeholt: der König
von Tauris, Thoas, verlangt von ihr ein furchtbares Opfer: Orest,
den eigenen Bruder.
Der Regisseur Claus Guth demonstrierte, dass sich hinter der klassizistischen
Fassade des Werkes ein erregendes Menschendrama vollzieht. Puppenspieler
mit überdimensionalen Kopfmasken spielen die vorangegangenen
Geschehnisse in die Operngeschichte ein: Ein blutiger Albtraum umstellt
die drei Hauptfiguren des Dramas. Susan Graham in der Titelpartie
ist als Erscheinung und Sängerin grandios, Thomas Hampson und
Paul Groves als Oreste und Pylade stehen ihr kaum nach eine
Luxusbesetzung. Und Ivor Bolton befeuerte das Mozarteumorchester
mit einer Energie, dass selbst Gluckexperten fassungslos konstatieren
mussten, die tauridische Iphigenie noch nie so dramatisch bewegt
und erregend vernommen zu haben. Auch hier glänzte wieder der
Wiener Staatsopernchor mit Klangfülle und beseeltem Ausdruck
(Einstudierung Donald Palumbo).
Der dritte Blick zurück auf Troja und die Folgen: Mozarts
Idomeneo. Die Inszenierung von Ursel und Karl-Ernst
Herrmann, mit Michael Gielen als Dirigent der Camerata Academica
Salzburg, wurde in Salzburg für das Kleine Festspielhaus erarbeitet.
Seit ihrer Inszenierung von Mozarts La Clemenza di Tito
anno 1982 in Brüssel, ihrer ersten Operninszenierung überhaupt,
sind die Herrmanns mit der Arbeit Gérard Mortiers eng verbunden.
Der damals für den Titus entwickelte Stil
ein fein ziseliertes psychologisches Spiel aus Gesten, Gebärden,
Bewegungen, Körperhaltungen, die seelische Vorgänge im
Innern der Personen sichtbar machen findet sich auch im Idomeneo
wieder: Sensibles Figurenspiel, deutliche Positionierungen, scharfe
dramatische Belichtungen, Klarheit des Spielraumes mit seinen Farben,
Lineaments, Zeichen. Michael Gielens Dirigieren vollendet die Einheit
von Szene, Spiel, Gesang und Orchester. Das Ensemble mit Vesselina
Kasarova als Idamante, Dorothea Röschmann als Ilia, Jerry Hadley
in der Titelpartie, Lubica Orgonasova als Elettra und Matthias Klink
(Arbace) präsentierte sich geschlossen, war von hoher Festspielqualität.
Tadelsfrei auch der von Howard Arman einstudierte Salzburger Bachchor.
Zu den Tragödien um Troja gehört auch die Satire: Jacques
Offenbach komponierte sie 1864 auf ein Libretto Henri Meilhacs
und Ludovic Halévys. Die antiken Helden und die Femme fatale
namens Helena schlüpften ins Kostüm des zweiten Kaiserreichs
und verspotteten das amouröse Lotterleben hinter den fein angestrichenen
gesellschaftlichen Kulissen. Wernicke positioniert die Geschichte
in unseren Jahren: die Sozietät der Mächtigen benimmt
sich immer gleich, springt in die und aus den Betten, und gelegentlich
auch einmal an die Front zum schnellen Krieg: Ein Kindergarten für
Erwachsene, folglich fährt am Ende eine Spielzeugeisenbahn
quer über die Vorderbühne, beladen mit Panzern und der
Miniatur des hölzernen Pferdes aus der Berlioz-Oper.
Dazu plantschen die Heerführer und Politiker in einem Bassin
bis zur totalen Verblödung, von der vor allem der gehörnte
Menelaos befallen ist: Dale Duesing ist in seinem Komiker-Element.
Eine Augen- und Ohrenweide: Nora Gubisch als Helena, ein tragikomisches
Juwel: Buddy Elias als Calchas, vom Orakel zum Butler beim Dinner
for one degradiert. Das reduzierte Orchester steuert unter
Stéphane Petitjeans Leitung freche, angespitzte Klänge
und schön formulierte Melodien bei. Fazit: Operettenwitz der
besseren Art, abgeleitet aus Werkkenntnis und der genauen Beobachtung
unserer Zeitgenossen. Ein wirkliches Satyrspiel zu Berlioz
Les Troyens.
Natürlich gehören auch Tristan und Isolde
und mehr noch Don Giovanni in die Eros-und-Thanatos-Thematik,
himmelstürmend und nächtlich sich auflösend die erste,
gewalttätig und zur Hölle fahrend die zweite Liebessehnsucht.
Klaus-Michael Grübers Tristan-Inszenierung gewann
unter der neuen musikalischen Leitung mit Lorin Maazel und den Wiener
Philharmonikern (statt den Berlinern bei den Osterfestspielen
im Vorjahr) an musikalischer Geschmeidigkeit und expressiver Eleganz
des Singens (Waltraud Meier, Jon Fredric West, Matti Salminen).
Luca Ronconis Don Giovanni-Darstellung (das Don-Giovanni-Personal
in einem modernen Klang-Zeit-Raum, in dem die Figuren sichtlich
gealtert ihr Ende erleben), profitierte von der Vitalität des
neubesetzten Titelhelden mit Ferruccio Furlanetto, während
dem neuen Dirigenten der Aufführung, Valerie Gergiev, nach
furioser Ouvertüre im Voranschreiten der Handlung nichts Aufregendes
mehr gelang: Eine Enttäuschung trotz Wiener Philharmonikern.
Cosí fan tutte oder Die Blumen des Bösen:
Hans Neuenfels entdeckte hinter der Komödienfassade der Oper
die surrealen Abgründe. Giftige Blüten, gemeine Insekten,
wilde Hunde (in Gestalt zweier erniedrigter Mannsbilder, die Fiordiligi
hereinführt) spielen mit im Quidproquo der bösen
Liebe. Wers nicht vorher gelesen hat, könnte meinen,
in einem Bunuel-Film zu sitzen. Auf die Liebesprobe werden hier
nicht die Frauen und auch nicht die Männer gestellt, vielmehr
die Liebe selbst. Liebe nicht, wie man sie heilt, sondern wie sie
zum Verschwinden gebracht wird. Das wird von Neuenfels mit unerschöpflicher
Fantasie, überbordender Theatralik und großem Frage-Ernst
virtuos durchgespielt, wobei die vorherige Kenntnis der Oper das
Vergnügen an der neuen Deklination erheblich steigert. Glänzend
gesungen von Karita Mattila (Fiordiligi), Vesselina Kasarova (Dorabella),
Maria Bayo (Despina), Rainer Trost (Ferrando), Simon Keenlyside
(Guglielmo) und Franz Hawlata (Don Alfonso in Neuenfels-Maskierung)
und dirigiert von Lothar Zagrosek (mit den Wiener Philharmonikern)
konnten die Festspiele einen bemerkenswerten Mozart-Erfolg für
sich verbuchen, was in der Mortier-Ära nicht immer der Fall
war.
Zu einem eindeutigen Publikumserfolg gelangte auch die Uraufführung
von Kaija Saariahos Oper Lamour de loin,
wohingegen die kritischen Beurteilungen stark voneinander abwichen.
Auf ein Libretto von Amin Maalouf schrieb die finnische, in Paris
lebende Komponistin die Geschichte einer märchenhaften
Fernliebe aus dem 12. Jahrhundert: Der provencalische Troubadour
Jaufré Rudel steigert sich in eine ferne Liebe zu der im
morgenländischen Tripoli lebenden Clémence, die er nur
durch die Erzählungen eines Pilgers kennt. Als er sich entschließt,
die ferne Geliebte zu besuchen, erkrankt er auf der Überfahrt
und stirbt in den Armen von Clémence: Ein zweiter Liebestod
sozusagen.
Kaija Saariaho wurde zu ihrer ersten Oper durch den Besuch von
Messiaens Franziskus-Oper 1992 in Salzburg angeregt.
Im Gestus von Lamour de loin lassen sich deshalb
gewisse Animationen durch Messiaens Werk feststellen. Auch liegt
als Vorbild ein Vergleich mit Debussys Pelléas et Mélisande
nahe, doch Saariahos Musik bleibt in Duktus und Ausdruck über
weite Strecken doch gar zu eindimensional, um das Reflexionsniveau
der genannten Vorbilder überhaupt auch nur annähernd zu
erreichen. Eher scheint ihre Musik von den Spektralisten, von Grisey
oder Murail, beeinflusst, und die Nähe zum Ircam-Computer mag
auch nicht für besondere Originalität gesorgt haben. Die
Inszenierung von Peter Sellars in der Felsenreitschule mit den beiden
gläsernen Türmen für die fernen Liebenden (Bühnenbild
George Tsypin), dem spiegelnden Wasser dazwischen und dem schwarzen
Nachen, mit dem der Troubadour (Dwayne Croft) schließlich
zur Überfahrt nach Tripoli aufbricht, konnte solange gefallen,
bis sich der Sterbende mit der in diesem Augenblick nahen Geliebten
vereint: Da versinkt die Inszenierung in einem planen, anekdotischen
Realismus, aus dem auch die wunderbar singende Dawn Upshaw als Clémence,
Kent Naganos spürbares Engagement (mit dem SWR-Sinfonieorchester
Baden-Baden/Freiburg) und der seitlich postierte Arnold-Schönberg-Chor
(Leitung und Einstudierung: Erwin Ortner) keinen Ausweg mehr zeigen.
Um mit einem Octavio-Paz-Zitat zu enden: Die Geschichte der
höfischen Liebe , ihrer Wandlungen und Metamorphosen,
ist nicht nur die unserer Kunst und unserer Literatur, sie ist auch
die Geschichte unserer Sensibilität und die Geschichte der
Mythen, die seit dem 12. Jahrhundert bis in unsere Tage die Fantasie
entflammt haben. Sie ist die Geschichte der Zivilisation des Okzidents.
Vielleicht hätten Auden und Henze dies in ihren besten Augenblicken
gestalten können, vielleicht sogar schon Benjamin Britten oder
in unseren Tagen Salvatore Sciarrino. Kaija Saariaho umhäkelt
den Stoff, sie ergreift ihn nicht: Mit der Gewalt des autonomen
Künstlers, der hier gefordert wäre.
Gerhard Rohde
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