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Leistung für die Neue Musik
Der Münchner via-nova-chor · Von Tim Koeritz
Wie Chor entstehen kann und wie zeitgenössische Musik
für Chor ist, da könnte ein Graben zugeschüttet
werden, der zwischen Experten und Menschen. Gibt es noch eine
heutige Musik, die alle anspricht? Können wir das überhaupt
mit der menschlichen Stimme? Solch ein Chor wie der via-nova-chor
ist für mich der Beweis, dass es geht.
Der das sagt, ist der in München geborene Komponist Peter
Michael Hamel. Vor drei Jahren äußerte er sich in dieser
Weise über den Münchner via-nova-chor, der damals sein
25-jähriges Bestehen feierte. Dieser Chor ist einer der wenigen,
der die A-capella-Musik des 20. Jahrhunderts nun schon seit 28 Jahren
zu seinem Schwerpunkt gemacht hat und das im konservativen
Bayern. 42 Sängerinnen und Sänger gehören zum Stamm
des Chores, der zu einem Großteil aus aktuellen oder ehemaligen
Musikstudenten des Faches Schulmusik oder Gesang, aber auch aus
Laien besteht. Semiprofessionell könnte man seine Zusammensetzung
also nennen. In aufbauenden Schritten hat er sich seit seiner Gründung
1972 zu einem ausgesprochenen Leistungschor von Rang entwickelt,
der durch sein Engagement für die Neue Musik auffiel und weiterhin
auffällt. Peter Michael Hamel hat selbst die Gründung
des Chores 1972 miterlebt. Damals hatte er, selbst noch Schüler
des musischen Pestalozzi-Gymnasiums München, für die Aufführung
einer eigenen Chorkomposition aus dem vorhandenen Schulchor einen
Kammerchor gebildet, der dann nach dem Abitur fortbestehen wollte.
Bei dem ausgesprochenen Chorpädagogen, dem Schulmusiker und
Professor Kurt Suttner, fanden die chorbegeisterten Abiturienten
dann eine Heimat.
Begegnung mit dem Komponisten
Hamel macht mit seinen Äußerungen über den via-nova-chor
aber auch die Problemlage des zeitgenössischen Komponierens
für Chor deutlich: Was die eigene Chorerfahrung für
das Komponieren bedeutet, das weiß der Komponist, der nie
mit Chor gearbeitet hat, und denkt: Das ist so wie beim Klavier.
Spiel ich einfach ein Cis und ein C und ein H, diese Töne.
Und eben das kann ein Chor nicht. Und was ich da gelernt habe mit
dem Kurt Suttner, das ist mir natürlich geblieben. Ich kann
jetzt sagen, dass ich für Chor schreiben kann und ich kann
es auch als Kompositionslehrer beibringen, wie man mit Chor umgehen
sollte.
Eines wird aus diesen Aussagen deutlich: Es entstehen keine aktuellen
Chorkompositionen, die auch für Laienchöre singbar sind,
wenn es keine wirkliche Begegnung zwischen Komponisten und Chören
gibt. Wichtig ist, dass ein Komponist unmittelbaren Einblick in
die Chorarbeit hat, weiß, wo die Schwierigkeiten bei der Erarbeitung
liegen. Wie muss man komponieren, damit es wirklich chorgerecht,
sangbar ist, ohne sich dabei gleich populistisch anzubiedern? Einem
Komponisten, der für Chor schreiben will, tut es gut, wenn
er eine unmittelbare Beziehung zu einem Ensemble hat, das seine
Werke aufführt, vor allem, wenn dies, wie im Falle des via-nova-chores,
mit Engagement und Qualität geschieht. Ein gegenseitiges Voneinander-Lernen
zwischen Komponisten und den Chören scheint ein wesentlicher
Schlüssel für das Fortbestehen einer jeweils zeitgenössischen
A-capella-Chorliteratur zu sein. Und hier nun besteht die besondere
Leistung des Münchner via-nova-chores, der seit seinem Bestehen
gut 20 Uraufführungen bestritt. Von Peter Michael Hamel brachte
der Chor vor drei Jahren dessen Passion zur Uraufführung,
zuvor seine Missa und sein Dona nobis pacem.
Um genau diese enge Beziehung besonders zu Münchner Komponisten
geht es dem Chor und seinem Leiter Kurt Suttner. Genutzt werden
dabei die bestehenden Kontakte zu den Komponisten vor Ort in München.
Es sind Beziehungen, die über die Münchner Musikhochschule,
in der man wöchentlich probt, zu zeitgenössischen Komponisten
bestehen, die dort zum Teil auch Dozenten sind. Der Chor will sich
ganz bewusst, so Suttner, diesen Künstlern und ihren Werken
zur Verfügung stellen. Komponisten wie Robert M. Helmschrott,
Präsident der Hochschule, Max Beckschäfer, Moritz Eggert
und Kay Westermann, aber auch Münchner Komponisten, die bereits
zu Klassikern der Moderne zählen, wie Wilhelm Killmayer, Harald
Genzmer und nicht zuletzt der bereits verstorbene Günther Bialas.
Dessen Heine-Lieder nach Texten aus der Matratzengruft
und sein Lamento brachte der Chor zur Uraufführung.
Für die Entwicklung des Chores spielte jedoch die Erarbeitung
von Bialas Im Anfang, einem Werk, dem die Schöpfungsgeschichte
in der Übertragung durch Martin Buber zu Grunde liegt, eine
noch größere Rolle. 1984 sang es der Chor zum katholischen
Kirchentag in München und nahm es drei Jahre später auch
auf Tonträger auf. Ein echter Meilenstein für den via-nova-chor.
Vorbild Eric Ericson
Neben den Münchner Komponisten besteht jedoch eine deutliche
Neigung des Chores, sich mit der neueren skandinavischen Chormusik
zu beschäftigen, und das hat seine Gründe besonders in
der gewachsenen Freundschaft Kurt Suttners zum Grandseigneur der
neueren schwedischen Chorkultur, Eric Ericson. Diesen Chorpädagogen
par excellence lernte Suttner in den 70er-Jahren auf einem Meisterkurs
für zeitgenössische Chormusik kennen. Gemeinsam mit den
Mitgliedern des via-nova-chores begegnete er ihm bei einem Workshop
Chormusik des 20. Jahrhunderts 1977 in Den Haag während
des International Koor Festivals, bei dem der Chor zudem
den ersten Preis gewann. Ericson hinterließ einen bleibenden
Eindruck. Fasziniert war der Chor von der Art, in der er Werke wie
Friede auf Erden von Arnold Schönberg und Lux
aeterna von György Ligeti mit diesem Workshop-Festival-Chor
erarbeitete, und vor allem davon, wie er den Sängern spürbar
die Angst vor dieser Musik zu nehmen verstand. Ericson wurde so
zum großen Vorbild für den Chor und seinen Chorleiter.
Weitere Begegnungen mit Ericson schlossen sich an. 1981 und 1985
kam er mit seinem berühmten Stockholmer Kammerchor nach München,
unter anderem für eine gemeinsame Aufführung der Messe
von Frank Martin. Dieses Werk stand wiederum auf dem Programm, als
Ericson vor zwei Jahren den Chor als Gastdirigent in der Münchner
Erlöserkirche leitete.
Tatsächlich ist es unter anderem wohl gerade die Pflege der
zeitgenössischen Chorliteratur, die den via-nova-chor hinsichtlich
seiner Intonationssicherheit enorm vorangebracht hat, weil eben
in diesem Bereich die moderne Chormusik Enormes fordert. Eric Ericson:
Weil der via-nova-chor so viel Neue Musik singt, sind natürlich
die Ohren geschärft. Und durch einen guten Umgang mit Neuer
Musik kommt es auch zu einer hochklassigen Intonation. Es geht nicht
anders. Die neuen Partituren funktioniern nur, wenn eine Sekunde
wirklich eine Sekunde ist und ein Tritonus ein Tritonus. Es zwingt
zu einer guten Intonation. Man kann von erzieherischer Musik sprechen.
Viel neue Musik zu singen, fördert also den Chorklang.
Zwei Werke dieser skandinavischen Chorliteratur führten dann
auch zu den bislang wohl experimentellsten Ausflügen in die
Moderne. Im Fall von Arne Mellnäs Komposition Succsim
erreichte der Chor die Grenze der improvisatorisch-aleatorischen
Ausdruckssprache der 60er-Jahre, und im Falle der Elegie
von Lars Edlund musste der Chor erstmals unter Anleitung eines Regisseurs
szenisch agieren.
Rätselspiel Neue Musik
Da fragt man sich, wie ein solcher Chor diese Aufgaben überhaupt
bewältigen kann bei lediglich einer wöchentlichen Probe,
ergänzt durch eine ganztägige Probe einmal im Monat und
einer Chorwoche einmal im Jahr. Kurt Suttner hat folgende Erklärung
parat: Es ist nicht nur das musikalische Leistungsvermögen.
Es ist auch das gemeinsame Wollen. Und das führe ich darauf
zurück, dass wir sehr viele Werke angehen, die zuerst wie ein
Rätselspiel sind. Zeitgenössische Musik ist häufig
zunächst wie ein Rätselspiel. Man versucht das Rätsel
zu lösen. Und jeder weiß, mit welch unglaublicher Energie
man dranbleibt, wenn man ein Kreuzworträtsel vor sich hat und
es sind nur noch drei Worte zu finden. Zu einer Verabredung
des Chores gehört es übrigens in diesem Zusammenhang,
dass Kritik an dem jeweiligen modernen Werk erst geäußert
werden darf, wenn es vollständig erarbeitet wurde, das Rätsel
also gelöst ist und so einer gänzlich neuen Beurteilung
für die Chorsänger zur Verfügung steht. Zur Motivation
der Sänger ist es aber genauso wichtig, dass Suttner den Chor
bewusst in gezielten Schritten an die zeitgenössische Chorliteratur
herangeführt hat und weiter heranführt. Dabei belässt
er das Repertoire nicht ausschließlich im Modernen, sondern
bindet es ein in die historische Chorliteratur der alten Meister,
aber auch der Romantik. Die Erfahrung mit unterschiedlichen Stilen
hält Suttner für unabdingbar und es bringt natürlich
Abwechslung mit hinein. Doch wenn man im Chor fragt, ist es das
zeitgenössische Repertoire, das den Anreiz dafür bietet,
gerade in diesem Chor mitzusingen. Nur hier, heißt
es, haben wir Gelegenheit, derartige Chorliteratur kennenzulernen.
Doch noch etwas ist prägend für diesen Chor und wohl
der entscheidende Grund für die außergewöhnliche
Homogenität seines Klanges. Etwa die Hälfte der Chorsänger
nutzt ein Angebot zur Einzelstimmbildung bei einem Team von Stimmbildnern,
das wie Suttner die Richtung der funktionalen Stimmbildung vertritt,
die auf medizinisch-physiologischen Kenntnissen der Singstimme basiert.
Man zieht hier also am gleichen Strang, und außerdem wird
dieses Angebot zum Teil auch noch von einer Stiftung finanziell
gefördert. Die Voraussetzungen sind also gut. Und man kann
dem Chor wohl kaum ein besseres Kompliment machen als dasjenige
aus dem berufenen Munde Eric Ericsons: Besonders in Bayern,
in München, haben der via-nova-chor und Kurt Suttner viel getan,
um die Neue Musik zu verteidigen. Und dass es ihm gelungen ist,
hauptsächlich mit Amateuren und Musikstudenten ein so hohes
Niveau zu erreichen, ist bemerkenswert. Man muss nicht nur Mut haben.
Man muss auch eigensinnig sein und sehr überzeugt arbeiten.
In diesem Sinne ist Kurt Suttner ein wirklich bemerkenswerter Mensch.
Tim
Koeritz
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