In Frankreich gibt es in dieser Hinsicht eine ungebrochene Tradition. Die schönsten und intelligentesten Aufführungen von Barockopern erlebte man in den letzten Jahren im Palais Garnier in Paris. Als die überdimensionierte Bastille-Oper mit ihren 2.700 Plätzen am symbolhaften 14. Juli 1989 den Spielbetrieb aufnahm, wiesen die Kulturverantwortlichen dem Palais Garnier, also der einstigen Grand Opéra, die Ballettvorstellungen zu. Die Opéra Comique, immerhin das Haus, in dem unter anderem die Uraufführungen von Carmen, Hoffmanns Erzählungen oder Pelléas et Mélisande stattfanden, sollte geschlossen werden. Doch Theatergebäude, vor allem, wenn sich mit ihnen eine ruhmreiche Geschichte verbindet, lassen sich nicht so schnell stilllegen. So avancierte das immerhin 2.000 Plätze bietende Palais Garnier zum Kleinen Haus der Bastille-Opéra, in dem jetzt nicht nur die Ballettpremieren stattfinden, sondern auch Barockopern oder Mozarts Bühnenwerke. Und in der Opéra Comique wird, mit großem Enthusiasmus und kleiner Subvention, auch weiter Oper gespielt: Mozarts Don Giovanni in einer ambitionierten Inszenierung Philippe Arlauds zum Beispiel, oder Léo Delibes Lakmé in wundersam antiquierten Kulissen mit der hinreißenden Natalie Dessay in der Titelpartie. An glanzvollen Ereignissen hat es dem Pariser Opernleben nie gefehlt. Nur breiteten sich dazwischen immer wieder oft lange Phasen aus, in denen nicht gespielt wurde: Rélâche hieß der meistgenannte Titel auf den Programmzetteln keine Vorstellung. Das hat sich seit dem Amtsantritt des Direktors Hugues Gall entscheidend geändert. Streiks gibt es kaum noch. In der Bastille und im Palais Garnier, die zusammen die Opéra National bilden, finden in der Saison über vierhundert Vorstellungen statt. Und die Opernbegeisterung der Pariser sowie der Kulturtourismus sorgen dafür, dass die meisten Vorstellungen ausverkauft sind. Was aber ist auf der Bühne zu besichtigen? Gall, das weiß man aus seiner Zeit als Genfer Opernchef, ist kein Avantgardist. An Gielen, Zehelein oder Neuenfels darf man nicht denken. Auf der Bühne dominiert eine moderate Modernität. Das italienische Repertoire erfreut sich großen Publikumszuspruchs. Doch auch Wagner, Mozart, Bizet oder Offenbach finden ihren angemessenen Platz. Was an der Bastille-Arbeit ohne Einschränkungen zu loben ist:
Die musikalische Qualität der Aufführungen ist in der
Regel hoch. Der Spielplan bietet ein modifiziertes Blocksystem:
etwa 20 bis 25 Titel erscheinen in der Spielzeit, Neuinszenierungen
und Wiederaufnahmen. Die Wiederaufnahmen werden sorgfältig
geprobt. Verschlampte Vorstellungen, wie in Wien zu erleben, gibt
es kaum. Das gesangliche Niveau entspricht dem Spitzenstandard des
Hauses. Die hochgehandelten Namen der internationalen Opernszene
sind auch in Paris präsent. Unter ihrem Chefdirigenten James
Conlon gelingen dem Pariser Opernorchester immer wieder superbe
Darstellungen. Eine Tristan-Aufführung, die wir
erlebten, rangierte auf Spitzenniveau.
Mit Bastille, Palais Garnier und Opéra Comique ist die Pariser Opernszene aber nicht vollständig dargestellt. Das von der Stadt Paris unterhaltene Théâtre du Châtelet (Orchester und Chor werden jeweils ad hoc engagiert) hat sich besonders in der Direktionszeit Stéphane Lissners (jetzt Festspielleiter in Aix-en-Provence) mit einem ausgesprochen modernen Profil an die Spitze der Pariser Opernszene gesetzt. Nach einer einjährigen Umbaupause meldete es sich jetzt unter der Direktion von Jean-Pierre Brossmann nachdrücklich zurück: Mit einem Gluck-Doppel (Alceste und Orphée), von Robert Wilson inszeniert, von John Eliot Gardiner mit dem Orchestre Révolutionnaire et Romantique (Orphée) sowie den English Baroque Soloists (Alceste) markant musiziert, gelang ein umjubelter Einstand, dem eine Aufführung von Busonis Doktor Faust folgte, die allerdings schon in Lyon zu sehen war. Damit wäre man bei einer besonders ausgeprägten Form des französischen Opernbetriebs angelangt: der Koproduktion. Was bei uns nur punktuell geschieht, ist in Frankreichs Opernleben Prinzip. Die einzelnen Opernproduktionen werden in der Regel an mehreren Bühnen gezeigt. Wer Manon Lescaut in Toulouse versäumt, kann ihr im zeitlichen Abstand nach Bordeaux oder Montpellier nachreisen. Wer die Monteverdi-Trilogie (Orfeo, Poppea, Ulisse) in Saint-Quentin-en-Yvelines verpasst, weil es dort von jedem Werk nur zwei Vorstellungen gibt, erwischt das Dreier-Paket zwei Monate später noch in Clermont-Ferrand. In den kleineren französischen Städten findet sich zwar ein opernbegeistertes, zahlenmäßig aber eher kleines Publikum, das längere Vorstellungsserien, wie an deutschen Stadttheatern üblich, nicht ausfüllen würde. Die Zusammenarbeit jeweils mehrerer Operntheater ist also auch ein Gebot ökonomischer Vernunft. Trotz des Pariser Übergewichts zu den schon genannten
Musikbühnen treten noch die Théâtres des
Champs-Elysées, die pro Saison zwei oder drei Opernproduktionen,
meist als eingeladene Gastspiele, anbieten haben sich in
den letzten Jahrzehnten etliche Opernhäuser in der sogenannten
Provinz nach vorn gespielt, auch internationales Aufsehen erregt.
An der Spitze die Opéra National de Lyon, die in der Ära
Louis Erlos überregionale Ausstrahlung gewann, nicht zuletzt
durch die in der Person Erlos begründete Kooperation Lyons
mit den Musikfestspielen in Aix-en-Provence, deren Leiter ebenfalls
Erlo war, aber auch durch den Aufstieg des Lyoner Chefdirigenten
Kent Nagano in die Weltspitze. Nagano formte aus dem Lyoner Orchester
ein Spitzenensemble. Der Spielplan in Lyon ist farbig, abwechslungsreich,
bietet oft ungewöhnliche Stücke wie Debussys frühe
Oper Rodrigue et Chimène zur Wiedereröffnung
des von Jean Nouvel modernisierten alten Lyoner Opernhauses. Wer mit den in der Zeitschrift Opéra International abgedruckten, ausführlichen Spielplänen der drei Dutzend französischen Opernbühnen in der Hand regelmäßig durchs Nachbarland reist, kann vieles Unbekannte und vieles, was wir hierzulande nur aus alten Opernführern kennen, live auf der Bühne besichtigen. In Saint-Etienne beispielsweise alle zwei Jahre beim Massenet-Festival ein kaum bekanntes Werk des Komponisten, dieses Jahr den König von Lahore, davor auch die komische Oper Panurge oder die grandiose Cléopatre. In Compiègne begegneten wir neulich Aubers bei uns kaum bekannter komischer Oper Les diamants de la Couronne, eine muntere, leicht wirre romantische Räuberpistole mit entzü-ckenden Melodien und Rhythmen. Und in Toulouse lernte man mit Louis Gannes Les Saltimbanques (Die Seiltänzer) endlich die Zirkusoperette par excellence kennen, über die schon unser heimischer Operettenexperte Volker Klotz verzückt schwärmte, obwohl er sicher nur die Partitur gekannt haben dürfte. In Toulouse erläuterte uns Intendant Nicolas Joel, als Chéreau-Assistent beim Bayreuther Jahrhundert-Ring und später als Ring-Inszenator unter anderem in Wiesbaden hervorgetreten, das Finanzierungsmodell seines Theaters: Der Zuschuss der Stadt beträgt etwa 120 Millionen Franc, das sind rund 36 Millionen Mark. Damit müssen allein die Produktionskosten bestritten werden, also Gagen für Regisseure, Bühnenbildner, Sänger sowie die Sachkosten für die Herstellung der jeweiligen Inszenierung. Die fest engagierten Mitglieder des Hauses stehen auf der Gehaltsliste der Stadt und werden von dort direkt bezahlt. Das gilt auch für das selbstständige Orchester, das verpflichtet ist, kostenlos in der Oper zu spielen. Der Vorzug dieses Systems besteht darin, dass der künstlerische Etat des Theaters nicht von etwaigen Tarifsteigerungen tangiert wird. Der Intendant kann die Kunst auf einer fest kalkulierbaren Grundlage planen. Vielleicht wäre dieses Modell auch für die deutschen Opern-Theater praktikabel? Die Opernreise nach Frankreich lohnt sich in jeder Hinsicht.
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