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Oper in Frankreich
Ein Blick über die Grenzen · Von Gerhard Rohde
Die Kunstform der Oper wurde zwar in Italien erfunden und mit
Claudio Monteverdi zu einer ersten hohen Blüte geführt.
Doch Frankreich stand dem italienischen Enthusiasmus für die
neue Gattung nicht nach und entwickelte ihren Formenkanon auf eigenständige
und höchst artifizielle Weise weiter. Die Namen eines Lully
oder Rameau stehen für die Eigenart der französischen
Oper, das dramatische Rezitativ, die plastische Deklamation, aus
der sich die schönsten ariosen Bögen herauswölben.
Auge und Ohr sind gleichermaßen gefesselt, fantasievolle Divertissements
unterbrechen oder ergänzen den Handlungsablauf Lullys
und vor allem Rameaus Opern stellen Gesamtkunstwerke dar, und das
lange vor Richard Wagner.
Heute muss der Freund französischer Barockopern in Deutschland
vereinzelten Aufführungen hastig nachreisen. Eine kurze Rameau-Welle
in den späten siebziger und frühen achtziger Jahren verebbte
schnell. Der Regisseur Herbert Wernicke setzte sich auf seine intelligente
Manier in Darmstadt und Kassel für Lully ein. Langzeitige Folgen
resultierten daraus nicht. In Deutschland bevorzugte man, wenn überhaupt
schon Barockoper, Händel und Gluck.
In Frankreich gibt es in dieser Hinsicht eine ungebrochene Tradition.
Die schönsten und intelligentesten Aufführungen von Barockopern
erlebte man in den letzten Jahren im Palais Garnier in Paris. Als
die überdimensionierte Bastille-Oper mit ihren 2.700 Plätzen
am symbolhaften 14. Juli 1989 den Spielbetrieb aufnahm, wiesen die
Kulturverantwortlichen dem Palais Garnier, also der einstigen Grand
Opéra, die Ballettvorstellungen zu. Die Opéra Comique,
immerhin das Haus, in dem unter anderem die Uraufführungen
von Carmen, Hoffmanns Erzählungen oder
Pelléas et Mélisande stattfanden, sollte
geschlossen werden. Doch Theatergebäude, vor allem, wenn sich
mit ihnen eine ruhmreiche Geschichte verbindet, lassen sich nicht
so schnell stilllegen.
So avancierte das immerhin 2.000 Plätze bietende Palais Garnier
zum Kleinen Haus der Bastille-Opéra, in dem jetzt nicht nur
die Ballettpremieren stattfinden, sondern auch Barockopern oder
Mozarts Bühnenwerke. Und in der Opéra Comique wird,
mit großem Enthusiasmus und kleiner Subvention, auch weiter
Oper gespielt: Mozarts Don Giovanni in einer ambitionierten
Inszenierung Philippe Arlauds zum Beispiel, oder Léo Delibes
Lakmé in wundersam antiquierten Kulissen mit
der hinreißenden Natalie Dessay in der Titelpartie.
An glanzvollen Ereignissen hat es dem Pariser Opernleben nie gefehlt.
Nur breiteten sich dazwischen immer wieder oft lange Phasen aus,
in denen nicht gespielt wurde: Rélâche
hieß der meistgenannte Titel auf den Programmzetteln
keine Vorstellung. Das hat sich seit dem Amtsantritt des Direktors
Hugues Gall entscheidend geändert. Streiks gibt es kaum noch.
In der Bastille und im Palais Garnier, die zusammen die Opéra
National bilden, finden in der Saison über vierhundert Vorstellungen
statt. Und die Opernbegeisterung der Pariser sowie der Kulturtourismus
sorgen dafür, dass die meisten Vorstellungen ausverkauft sind.
Was aber ist auf der Bühne zu besichtigen? Gall, das weiß
man aus seiner Zeit als Genfer Opernchef, ist kein Avantgardist.
An Gielen, Zehelein oder Neuenfels darf man nicht denken. Auf der
Bühne dominiert eine moderate Modernität. Das italienische
Repertoire erfreut sich großen Publikumszuspruchs. Doch auch
Wagner, Mozart, Bizet oder Offenbach finden ihren angemessenen Platz.
Was an der Bastille-Arbeit ohne Einschränkungen zu loben ist:
Die musikalische Qualität der Aufführungen ist in der
Regel hoch. Der Spielplan bietet ein modifiziertes Blocksystem:
etwa 20 bis 25 Titel erscheinen in der Spielzeit, Neuinszenierungen
und Wiederaufnahmen. Die Wiederaufnahmen werden sorgfältig
geprobt. Verschlampte Vorstellungen, wie in Wien zu erleben, gibt
es kaum. Das gesangliche Niveau entspricht dem Spitzenstandard des
Hauses. Die hochgehandelten Namen der internationalen Opernszene
sind auch in Paris präsent. Unter ihrem Chefdirigenten James
Conlon gelingen dem Pariser Opernorchester immer wieder superbe
Darstellungen. Eine Tristan-Aufführung, die wir
erlebten, rangierte auf Spitzenniveau.
Für die Barockopern im Palais Garnier verpflichtet man bevorzugt
Spezialensembles: William Christie mit seinen Les Arts Florissants
oder Marc Minkowski mit seinen Musiciens du Louvre.
Rameaus Platée mit Minkowski präsentierte
sich als Gipfel einer theatralisch-effektvollen Barock-Adaption:
witzig, ironisch, barocke Ästhetik in gegenwärtige Formen
überführend (siehe unser Bild), dabei tief ergreifend
im Ausdruck für das seelische Leiden der gefoppten Platée.
Und William Christie setzte sein unnachahmliches Gefühl für
die Prosodie der Musik des Barock für Rameaus Les Indes
galantes ebenso subtil ein wie für Händels Alcina,
die in Robert Carsens psychologisierender Inszenierung zu einem
grandiosen Sängerfest geriet. Wer diese Aufführungen hören
und sehen konnte, weiß, was den verdienstvollen Münchner
Händel-Bemühungen alles noch fehlt. Bei allem Lob aber
sollte man nicht übersehen, dass sich Paris das Renommee seiner
Staatsopern einiges kosten lässt: der Zuschuss bewegt sich
zwischen 600 und 700 Millionen Franc (180/200 Millionen Mark), mit
denen allerdings nicht nur die Kunst, sondern auch ein sehr großer
Personalbestand zu bezahlen ist.
Mit Bastille, Palais Garnier und Opéra Comique ist die Pariser
Opernszene aber nicht vollständig dargestellt. Das von der
Stadt Paris unterhaltene Théâtre du Châtelet
(Orchester und Chor werden jeweils ad hoc engagiert) hat sich besonders
in der Direktionszeit Stéphane Lissners (jetzt Festspielleiter
in Aix-en-Provence) mit einem ausgesprochen modernen Profil an die
Spitze der Pariser Opernszene gesetzt. Nach einer einjährigen
Umbaupause meldete es sich jetzt unter der Direktion von Jean-Pierre
Brossmann nachdrücklich zurück: Mit einem Gluck-Doppel
(Alceste und Orphée), von Robert
Wilson inszeniert, von John Eliot Gardiner mit dem Orchestre Révolutionnaire
et Romantique (Orphée) sowie den English Baroque
Soloists (Alceste) markant musiziert, gelang ein umjubelter
Einstand, dem eine Aufführung von Busonis Doktor Faust
folgte, die allerdings schon in Lyon zu sehen war.
Damit wäre man bei einer besonders ausgeprägten Form
des französischen Opernbetriebs angelangt: der Koproduktion.
Was bei uns nur punktuell geschieht, ist in Frankreichs Opernleben
Prinzip. Die einzelnen Opernproduktionen werden in der Regel an
mehreren Bühnen gezeigt. Wer Manon Lescaut in Toulouse
versäumt, kann ihr im zeitlichen Abstand nach Bordeaux oder
Montpellier nachreisen. Wer die Monteverdi-Trilogie (Orfeo,
Poppea, Ulisse) in Saint-Quentin-en-Yvelines
verpasst, weil es dort von jedem Werk nur zwei Vorstellungen gibt,
erwischt das Dreier-Paket zwei Monate später noch
in Clermont-Ferrand. In den kleineren französischen Städten
findet sich zwar ein opernbegeistertes, zahlenmäßig aber
eher kleines Publikum, das längere Vorstellungsserien, wie
an deutschen Stadttheatern üblich, nicht ausfüllen würde.
Die Zusammenarbeit jeweils mehrerer Operntheater ist also auch ein
Gebot ökonomischer Vernunft.
Trotz des Pariser Übergewichts zu den schon genannten
Musikbühnen treten noch die Théâtres des
Champs-Elysées, die pro Saison zwei oder drei Opernproduktionen,
meist als eingeladene Gastspiele, anbieten haben sich in
den letzten Jahrzehnten etliche Opernhäuser in der sogenannten
Provinz nach vorn gespielt, auch internationales Aufsehen erregt.
An der Spitze die Opéra National de Lyon, die in der Ära
Louis Erlos überregionale Ausstrahlung gewann, nicht zuletzt
durch die in der Person Erlos begründete Kooperation Lyons
mit den Musikfestspielen in Aix-en-Provence, deren Leiter ebenfalls
Erlo war, aber auch durch den Aufstieg des Lyoner Chefdirigenten
Kent Nagano in die Weltspitze. Nagano formte aus dem Lyoner Orchester
ein Spitzenensemble. Der Spielplan in Lyon ist farbig, abwechslungsreich,
bietet oft ungewöhnliche Stücke wie Debussys frühe
Oper Rodrigue et Chimène zur Wiedereröffnung
des von Jean Nouvel modernisierten alten Lyoner Opernhauses.
Ein hochqualifiziertes Orchester besitzt auch das Théâtre
du Capitole in Toulouse. Michel Plasson leitet das Orchester
du Capitole seit mehr als zwei Jahrzehnten. In der Oper, die von
Nicolas Joel geleitet wird, exzelliert es besonders im französischen
Repertoire, etwa bei Charpentiers Louise oder Massenets
Werther. Derzeit ist es damit beschäftigt, Wagners
Ring einzustudieren. Den Ring hat auch die
Opéra de Nice vor einem Jahrzehnt herausgebracht, in einer
fantasievoll-überdrehten, gleichwohl intelligenten Inszenierung
von Daniel Mesguich. Unter Giancarlo del Monaco ist es in den letzten
Jahren allerdings etwas still um die Nizza-Oper geworden. Die Straßburger
Oper präsentiert sich, zur Zeit unter der Direktion von Rudolf
Berger (früher Wiener Kammeroper) unternehmungslustig, wagt,
in Zusammenarbeit mit dem Straßburger Musica-Festival,
Uraufführungen (Donatoni Alfred, Alfred), sagt
auch schon mal eine für die Wiener Festwochen erarbeitete Uraufführung,
Olga Neuwirths Bählamm, kurzerhand für die
heimische Wiederholung ab und traut sich sogar an Wagners Tristan
heran.
Wer mit den in der Zeitschrift Opéra International
abgedruckten, ausführlichen Spielplänen der drei Dutzend
französischen Opernbühnen in der Hand regelmäßig
durchs Nachbarland reist, kann vieles Unbekannte und vieles, was
wir hierzulande nur aus alten Opernführern kennen, live auf
der Bühne besichtigen. In Saint-Etienne beispielsweise alle
zwei Jahre beim Massenet-Festival ein kaum bekanntes Werk des Komponisten,
dieses Jahr den König von Lahore, davor auch die
komische Oper Panurge oder die grandiose Cléopatre.
In Compiègne begegneten wir neulich Aubers bei uns kaum bekannter
komischer Oper Les diamants de la Couronne, eine muntere,
leicht wirre romantische Räuberpistole mit entzü-ckenden
Melodien und Rhythmen. Und in Toulouse lernte man mit Louis Gannes
Les Saltimbanques (Die Seiltänzer) endlich die
Zirkusoperette par excellence kennen, über die schon unser
heimischer Operettenexperte Volker Klotz verzückt schwärmte,
obwohl er sicher nur die Partitur gekannt haben dürfte.
In Toulouse erläuterte uns Intendant Nicolas Joel, als Chéreau-Assistent
beim Bayreuther Jahrhundert-Ring und später als
Ring-Inszenator unter anderem in Wiesbaden hervorgetreten,
das Finanzierungsmodell seines Theaters: Der Zuschuss der Stadt
beträgt etwa 120 Millionen Franc, das sind rund 36 Millionen
Mark. Damit müssen allein die Produktionskosten bestritten
werden, also Gagen für Regisseure, Bühnenbildner, Sänger
sowie die Sachkosten für die Herstellung der jeweiligen Inszenierung.
Die fest engagierten Mitglieder des Hauses stehen auf der Gehaltsliste
der Stadt und werden von dort direkt bezahlt. Das gilt auch für
das selbstständige Orchester, das verpflichtet ist, kostenlos
in der Oper zu spielen. Der Vorzug dieses Systems besteht darin,
dass der künstlerische Etat des Theaters nicht von etwaigen
Tarifsteigerungen tangiert wird. Der Intendant kann die Kunst
auf einer fest kalkulierbaren Grundlage planen. Vielleicht wäre
dieses Modell auch für die deutschen Opern-Theater praktikabel?
Die Opernreise nach Frankreich lohnt sich in jeder Hinsicht.
Gerhard
Rohde
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