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Rezensionen

Kurt Weill für 365 Tage

Andreas Eichhorn: 365 Tage mit Kurt Weill. Ein Almanach. 311 S. mit zahlr. Farb- u. S-W-Abb. Olms Verlag Hildesheim 2022. 28 Euro

Weill einmal anders: Tag für Tag eines ganzen Jahres – weshalb auf den 1. Januar 1926 der 2. Januar 1867 folgt: erst ein Brief Weills an seine Eltern über die Arbeit an „Royal Palace“, dann das Geburtsdatum seines Vaters in einer Rabbiner-Familie im rheinischen Kippenheim. Der 31. Dezember beinhaltet eine Kritik von 1932 zur zeitlosen Gültigkeit von „Mahagonny“ und den künstlerischen Querbezügen. Der Band ist also keine detaillierte Biografie mit chronologischem Ablauf. Tatsächlich spannt sich der Bogen der mal kurzen, mal ganzseitigen Tageseinträge von 1864 bis 2021. Dadurch werden Herkunft, dann schwerpunktmäßig natürlich die kulturhistorisch fabelhaft vielfältige Lebensepoche Weills von 1900 bis 1950 und auch wichtige Ereignisse seiner Nachwirkung als großes Panoptikum und Kaleidoskop erkennbar. Eingestreut sind alle zwei bis drei Seiten teils farbige Abbildungen: Fotos von Zeitgenossen, Notenblätter, Programmzettel, Brief-Faksimiles, Theater- und Bühnenfotos sowie Filmplakate. Der vielfältig brodelnde Kulturraum, in den Weills durch seinen frühen Herzinfarkt abgekürztes Leben eingebettet ist, wird erfreulich lebendig: über die grandiose Theaterepoche und ihre Printmedien-Fülle hinaus eben Schallplatte, Film, Radio und Anfänge des Fernsehens. Genau das ist die Intention von Andreas Eichhorn, der ausgewählt, gekürzt, kurz ergänzt und komprimiert hat – also eine Mischung aus Kompilator, Herausgeber und Autor ist: ein geglücktes Multitasking, wobei dem Kölner Musikprofessor seine Mittätigkeit in der „Radio Jazz Research“ und Kuratierung der Kurt-Weill-Dauerausstellung in Dessau ein fachlich ergiebiges Fundament geliefert haben. Weills Komponieren und Theaternähe: eine Fülle von Verzweigungen, Parallel- und Querverbindungen wird deutlich und eben der zerstörerische Bruch durch die braunen Kulturbarbaren. Über Quellen, Literatur, Hör- und Bildmedien zu Weill hinaus bietet der Band am Ende auf zehn Seiten auch eine chronologische Auflistung aller Tageseinträge – hilfreich für die Suche zu den hierzulande weniger bekannten „Broadway-Jahren“ Weills.

Für den Musiktheaterfreund, der schon einen Teil der 1950er-Jahre miterlebt hat, stellt sich auch ein: was für ein Verlust an künstlerisch herausragender und dennoch sofort zugänglicher und eingängiger Musiktheatralik einschließlich des Tanzes – gerade auch im Kontrast zu der oft verkrampften, zunehmend verkopften Nachhol-Moderne in der Klassik, die weitgehend in einen künstlerischen Elfenbeinturm führte! Wer also über „Babylon Berlin“ hinaus und heutigen Pop-Müll hinweg die komplexe Fülle der Kultur vor und kurz nach dem 2. Weltkrieg kennenlernen will, kann den Band kontinuierlich oder zeitlich springend und auch lexikalisch nachschlagend genießen. Insgesamt eine gelungene Bereicherung der Weill-Bibliographie.

Wolf-Dieter Peter

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