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Kulturpolitik
Auf ein Wort mit...
... Tobias Wolff, zukünftiger Intendant der Oper Leipzig
Im Gespräch mit Barbara Haack und Gerrit Wedel
Tobias Wolff übernimmt am 1. August 2022 die Intendanz der Oper Leipzig. Zuvor war der studierte Musikwissenschaftler und Bratschist zehn Jahre lang Intendant der Internationalen Händel-Festspiele Göttingen. Frühere Stationen waren unter anderem die Deutsche Oper am Rhein, und das Theater Altenburg-Gera (heute Theater & Philharmonie Thüringen). Wolff absolvierte außerdem ein Wirtschaftsstudium (MBA) und war in Leipzig als Musikjournalist für Zeitungen und Rundfunk tätig. Über seine Pläne und zukünftige Chancen wie Herausforderungen sprach er mit Barbara Haack und Gerrit Wedel.
Oper & Tanz: Sie leben seit langem in Leipzig, müssen also nicht mehr ankommen. Ist das gut oder schlecht für einen Neustart als Intendant?
Kleinste Teamzelle: Verwaltungsdirektorin Lydia Schubert und Tobias Wolff. Foto: Ida Zenna
Tobias Wolff: Es ist grundsätzlich gut, weil die Orientierungsphase wegfällt, die man sonst in einer neuen Stadt hat. Wenn man schon zwanzig Jahre immer mal wieder im Publikum saß und drei Intendanten erlebt hat, hat das große Vorteile. Man darf aber auch nicht unterschätzen, wie viel Neues auf mich zugekommen ist. Es gibt viele Menschen, die ich neu kennenlernen musste oder wollte; ich konnte aber auch an alte Kontakte anknüpfen. Das war natürlich vor allem gut in der Coronazeit, weil wir zum Beispiel keine Premierenfeiern hatten, bei denen man die Menschen auf einfache Weise kennenlernt.
O&T: Sie haben das Thema Nachhaltigkeit als wichtigen Punkt Ihrer Agenda genannt. Wie setzen Sie das Thema, das ja viele Facetten hat, konkret um?
Wolff: Es gibt verschiedene Aspekte. Ich beginne mal mit der ökologischen Nachhaltigkeit. Wir werden gemeinsam mit der Berliner Hochschule für Technik ein Nachhaltigkeitskonzept entwickeln und sind bereits in der Evaluation. Es ist uns wichtig, dass wir Daten erheben, um herauszufinden, was einen größeren Effekt hat – überspitzt gesagt: die vegane Frikadelle in der Kantine oder eher unsere Transporte? Wir müssen erst einmal feststellen, was wir eigentlich wie transportieren, wie wir Dinge herstellen, wo es Alternativen oder Stellschrauben gibt. Eine relativ große Stellschraube ist die Publikumsmobilität. Darauf haben wir aber keinen so großen Einfluss wie auf die Dinge, die wir selber tun. Am Ende gibt es dann ein Zertifikat nach DIN 20121. Das Schöne ist, dass wir dort Ziele selbst definieren können, zum Beispiel innerhalb der nächsten zwei Jahre unsere Transporte um 20 Prozent zu verringern. Vielleicht produzieren wir etwas schmalere, leichtere, anders gebaute Bühnenbilder, so dass weniger Fahrten pro Bühnenbild anfallen. Vielleicht haben wir auch andere Lagerstätten. Wir sind dabei, das wirklich groß zu denken.
O&T: Erleben Sie Zustimmung zu diesen Plänen?
Wolff: Es ist sehr interessant, welche Reaktionen einem da begegnen. Auf der einen Seite gibt es diejenigen, die sagen: Sie verbieten dem Publikum das Autofahren oder: Das ist das Ende der Kunstfreiheit, auf der anderen Seite diejenigen, die sagen: Warum seid Ihr nicht schon viel weiter? Diese Spannung müssen wir aushalten.
Wir beginnen jetzt ein Projekt im Bereich Kostüm und betrachten gemeinsam mit einem Kostümforscher von der Aalto Universität in Helsinki den Herstellungsprozess: Welches Material wollen wir? Wo kommt es her? Wie vernähen wir das? Wie gehen wir mit Kooperationen um? Das Ganze soll an einem Gewerk erforscht werden. Mit den anderen Gewerken werden wir das dann genauso anpacken.
O&T: Wird das in andere Theater hinein kommuniziert? Die Erfahrungen, die Sie jetzt machen, wären sicher auch interessant für andere Häuser, damit nicht alle das Rad neu erfinden müssen.
Leipziger Leitungsteam auf der Jahrespressekonferenz zur Spielzeit 2022/2023: Ausstattungsleiter Dirk Becker, Musikalischer Direktor Christoph Gedschold, Ballettdirektor Mario Schröder, Torsten Rose, Direktor der Musikalischen Komödie, Chefdramaturgin Marlene Hahn, Intendant Tobias Wolff und Cornelia Preissinger, Operndirektorin und Stellvertretende Intendantin. Foto: Ida Zenna
Wolff: Wir sind Teil ganz verschiedener Netzwerke. Da gibt es ein lokales Netzwerk zum Thema Kreislaufwirtschaft, das auf einer Konferenz der Kulturstiftung des Bundes basiert. Die Stadt Leipzig hat dieses Thema übernommen und wird auch diese lokale Vernetzung noch einmal stärken.
Auf Landesebene sind wir in Kontakt mit dem Landesverband Sachsen des Deutschen Bühnenvereins. Auf Bundesebene ist auch der Deutsche Bühnenverein unser Ansprechpartner. Da gibt es das Aktionsbündnis Nachhaltigkeit. Für mich ganz wichtig – damit wir nicht nur unser Wissen weitergeben, sondern auch Wissen bekommen – ist das Netzwerk der Europäischen Opernhäuser. Im europäischen Ausland sind die Opernhäuser schon sehr viel weiter, zum Beispiel in Paris, Brüssel oder Mailand. In Göteborg gibt es seit einigen Jahren einen grünen Wagner-„Ring“. In Großbritannien ist das Thema Nachhaltigkeit schon in den Förderrichtlinien fest verankert. Es ist ein Thema der Zeit, dem wir uns widmen müssen, vor allem als städtisches Theater, als das wir eine Modellfunktion haben gegenüber anderen Institutionen der Stadt.
O&T: Sie sprechen auch von anderen Aspekten der Nachhaltigkeit, zum Beispiel der sozialen Nachhaltigkeit. Was verstehen Sie darunter?
Wolff: Wir stellen die Frage, mit welchen menschlichen Ressourcen wir das umsetzen, was wir umsetzen wollen. Das Gesundheitsmanagement ist ein wichtiges Thema. Wie können wir zum Beispiel die Karriere eines Balletttänzers, einer Balletttänzerin langfristig gestalten? Eine ähnliche Frage stellt sich im Bereich der Bühnentechnik: Wie können wir ein Bühnentechniker-Arbeitsleben so verschleißfrei wie möglich gestalten? Das betrifft auch unseren Kernbereich, den künstlerischen Bereich, also die Frage: Wie bauen wir Bühnenbilder? Auch da geht es um die Materialien: Arbeiten wir mit Stahl und Holz, egal wie schwer die Bühnenarbeiter schleppen müssen, oder suchen wir nach leichteren Materialien, nach kleineren Teilbarkeiten? Da sind wir auf der Suche nach Modellen mit wiederverwertbaren Standardteilen aus Aluminium, die leichter sind, schnell und leicht im Bau, aber viel Geld kosten. Wir sind noch in der Experimentierphase.
Dann gibt es die ökonomische Nachhaltigkeit, die schon immer die Aufgabe eines Betriebsleiters war: das Haus finanziell stabil in die Zukunft zu leiten. Unsere Verwaltungsdirektorin Lydia Schubert und ich sind immer gehalten, Ressourcen vernünftig einzusetzen, neue Ressourcen zu akquirieren, auch innerhalb des Hauses zu schauen, ob es ein Optimierungspotenzial gibt.
O&T: Nachhaltigkeit könnte sich auch beziehen auf den Bestand des Theaters in der Zukunft, auf das Publikum von morgen und übermorgen. Wie weit denken Sie in die Zukunft, wenn Sie gerade als Intendant starten?
Wolff: Ich darf ja erst einmal nur bis 2027 denken. Bis dahin geht mein Vertrag. Wir können derzeit nicht davon ausgehen, dass das Publikum genauso wiederkommt wie bisher. Wir versuchen aber, um Ruhe und Planbarkeit ins Haus zu bringen, wieder zu den alten Planungszyklen zurückzukommen, die drei Jahre im Voraus beginnen. Wir haben die drei großen Themen der Zukunft: Digitalisierung, Nachhaltigkeit und Diversität. Und wir haben komplexe Strukturen in der ganzen Welt, auf die wir eventuell reagieren müssen.
O&T: Inwieweit betrifft das auch das Repertoire?
Oper Leipzig. Foto: Kirsten Nijhof
Wolff: Das ist natürlich ein großes Thema. Wir merken, dass wir in den letzten 20 Jahren mit der Neuen Musik im Musiktheater das Publikum an vielen Stellen nicht mehr gewinnen konnten. Im 19. Jahrhundert hat man ja quasi nur neue Stücke gespielt, und die Häuser waren voll. Wenn wir heute volle Vorstellungen sehen, sind das oft Kompositionen aus dem 19. Jahrhundert. Gerade wenn wir über Diversität sprechen, beißen wir auf Granit bei Stücken, die aus einem anderen Jahrhundert kommen und ein anderes Gesellschaftsbild zeigen. An der Operette kann man das besonders gut deutlich machen: Es gibt alles, was man sich nur vorstellen kann: Diskriminierung, Exotismus, Antiziganismus, Homophobie, Militarismus… Alles wunderbar verbaut, sehr humoristisch in leichten Appetithäppchen für ein breites Publikum. Aber natürlich muss man sich damit auseinandersetzen: Wollen wir nach wie vor, dass Minderheiten diskriminiert werden, dass das Dienstmädchen im kurzen Rock Standard ist, weil das zur Operette gehört? Das ist ein großes Spannungsfeld zwischen der Traditionspflege und dem Wunsch, ein Musiktheater der Zukunft zu machen. Es ist auf jeden Fall eine große Aufgabe, mit zeitgenössischem Musiktheater wieder ein großes Publikum zu erreichen. Um ein aktuelles Gesellschaftsbild mitzugestalten, um Diskussionen anzuregen, bräuchten wir viel mehr Neue Musik.
Ich bewundere Udo Zimmermann, meinen Vorvorgänger, weil er in manchen Jahren von fünf Produktionen vier Uraufführungen im Programm hatte. Das finde ich großartig, und er ist zu recht dafür gewürdigt worden. Aber der Effekt war, dass das Haus am Ende ziemlich leer gespielt war. Ulf Schirmer hat dann einen unglaublichen Kraftakt geleistet, die Einnahmen und die Zuschauerzahlen verdoppelt, allerdings mit dem Repertoire des 19. Jahrhunderts. Wir müssen versuche, das Beste aus beiden Positionen in einen Spielplan zu bringen.
O&T: Sie tun auch etwas für das Publikum von morgen, für ein neues Publikum, indem Sie rausgehen in die Stadt und auch Jugend- und Kinderprojekte planen.
Wolff: Wir beginnen meine Amtszeit mit zwei großen Jugendprojekten. Das eine ist die Stadtteiloper im Stadtteil Lindenau, zusammen mit der Nachbarschaftsschule und der Leipzigstiftung. Dort erarbeitet eine ganze Schule eine Oper, baut die Bühnenbilder, macht die Kostüme. Im Opernhaus am Augustusplatz heißt es „Future:NOW!“. Das ist eine Koproduktion mit dem internationalen Theater Titanick, das für das Theater im öffentlichen Raum steht. Davon profitieren beide Partner. Wir profitieren vom Open-Air-Knowhow des Theater Titanick und auch von der Flexibilität einer freien Bühne. Umgekehrt profitiert Titanick auch von uns, von einer sehr strukturierten, tradierten Arbeitsweise mit langen Vorläufen.
Daneben gibt es natürlich auch Musiktheater auf der Bühne, mit Kinder-, Jugend- und Babykonzerten. Das werden wir weiter ausbauen.
O&T: Sie haben sich in Göttingen kulturpolitisch engagiert. Unter anderem haben Sie das Forum für freie Musikfestivals gegründet, dem inzwischen mehr als 100 Festivals angehören. Wie weit wollen Sie sich auch zukünftig kulturpolitisch engagieren?
Im Rahmen von „Wagner 22“: „Der Fliegende Holländer“. Foto: Tom Schulze.
Wolff: Ich glaube, dass ein Intendant immer politisch ist, egal was er tut. In dem Moment, in dem man sich vermeintlich unpolitisch gibt, kommentiert man auch Politik. Selbst die Spielplangestaltung ist Politik. Und wenn ich mich entscheide, Stücke aus dem 19. Jahrhundert zu nehmen und das „bisschen“ Diskriminierung, das „bisschen“ Blackfacing akzeptiere, ist das Politik. Dann stärke ich Kräfte, die für etwas anderes stehen als für Offenheit und Diversität. Ich bin seit über zehn Jahren im Bühnenverein aktiv. Die Frage ist eher: Werde ich nur kulturpolitisch aktiv oder auch auf eine andere Art politisch aktiv sein? Wir werden es immer mit der Frage zu tun haben, wie es mit demokratischen Kräften aussieht. Gerade in Sachsen ist das ein Thema – mit Vorliebe wird genau vor unserem Haus demonstriert. Ich werde nicht nur kulturpolitisch aktiv sein, sondern mich auch politisch einmischen.
O&T: Werden Sie sich im Bühnenverein auch tarifpolitisch engagieren?
Wolff: Das werde ich ja müssen. In dem Moment, wo Tarifverhandlungen geführt werden, werde ich indirekt oder direkt damit befasst sein. Ich glaube erst einmal nicht, dass ich in den ersten Jahren an vorderster Front tarifpolitisch aktiv sein werde. Aber natürlich ist auch das eines der Kernthemen: zu verhandeln, wie ein Theater aussehen soll, nicht nur künstlerisch, sondern auch personell.
O&T: Es kommen bezüglich der aktuellen arbeits- und tarifpolitischen Dinge große Aufgaben auf uns zu. Da ist es sicher wünschenswert, dass der Bühnenverein auch von Intendantenseite her noch verstärkend unterstützt wird.
Wolff: Es gibt Fragen, die uns alle betreffen und auf die wir alle gemeinsam noch keine richtigen Antworten haben. Da geht es gar nicht um ein tarifpolitisches Gegeneinander, sondern um ein konstruktives Miteinander, zum Beispiel beim Thema flexible Arbeitszeiten und Homeoffice. Wenn wir sagen, dass sowohl die Leitung als auch Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter Homeoffice wollen, wird das natürlich Einfluss darauf haben, wie das Haus mit einer Bürostruktur organisiert ist. Wir müssen uns darüber verständigen, ob es sinnvoll ist, dass jeder noch seine eigene Parzelle im Haus hat, die dann vielleicht 70 Prozent der Zeit leer steht.
O&T: Wir sprechen viel über Managementaufgaben, Kulturpolitik, Politik. Wie sehen Sie die Aufgabenverteilung zwischen dem Manager und dem Künstlerischen Leiter Tobias Wolff?
Wolff: Das kann man gar nicht trennen. In dem Moment, wo man eine Managemententscheidung trifft, hat das Einfluss auf die Kunst und umgekehrt. Ich glaube, dass ich für das Haus ein bisschen anstrengender bin, weil diese klare Trennung nicht mehr da ist. Ich komme von einem Festival, das immer eine sehr knappe Kalkulation erfordert hat und wo nicht ein einziges Mal ein künstlerischer Entwurf so umgesetzt wurde, wie er eingereicht worden war, weil man immer sagen musste: Wir haben einen wahnsinnig engen Rahmen, der eingehalten werden muss, und deswegen muss die Kunst noch ein zweites oder drittes Mal mit einem Entwurf kommen. Das war hier am Haus nicht üblich. Himmelseidank haben wir eine Struktur mit einer hochqualifizierten Verwaltungsdirektorin, die es mir erlaubt, öfter zu sagen: Ich bin jetzt mal nur für die Kunst zuständig.
O&T: Wie sehen denn Ihre künstlerischen Pläne für den Start Ihrer Intendanz in Leipzig aus?
„Die Meistersinger von Nürnberg“ (unten) mit dem Leipziger Opernchor. Foto: Kirsten Nijhof
Wolff: Wir kommen aus dem großen Projekt „Wagner 22“ heraus, und Wagner wird uns auch weiter begleiten, aber die Welle wird wieder etwas abebben. Wir werden einen anderen bedeutenden Leipziger danebensetzen, das ist Albert Lortzing. Lortzing war unser Kollege, war am Vorgängertheater am Richard-Wagner-Platz engagiert. Er hat hier viele seiner Werke geschrieben, viele seiner Werke wurden in Leipzig uraufgeführt. Er ist lange Zeit einer der meistgespielten Komponisten gewesen, weit über seinen Tod hinaus bis in die 1980er-, sogar 1990er-Jahre. In den letzten Jahren sind seine Werke mehr und mehr von den Spielplänen verschwunden, ebenso wie andere Spielopern, weil die immer internationaler werdenden Ensembles sich schwer tun mit seitenweisen Dialogen. Tatsächlich sind seine Opern nicht leicht zu besetzen. Das Opernhaus und die Musikalische Komödie werden gemeinsam einen Zyklus mit Werken von Lortzing auflegen und bis 2026 zumindest einen repräsentativen Teil seiner Werke aufführen. Wir müssen auch Komponistinnen auf die Bühne bringen. Wir sind mit dem neuen Spielplan mehr im 20. Jahrhundert beheimatet, auch außerhalb des deutschsprachigen Raums. Insofern wollen wir verschiedene Stilrichtungen des 20. Jahrhunderts beleuchten. Wir sind natürlich auch dabei, Uraufführungen in Auftrag zu geben, auch Werke wieder aufzuführen. Wenn wir von Nachhaltigkeit sprechen, sind Uraufführungen immer das am wenigsten Nachhaltige. Wenn es schon gute Stücke gibt, sollte man die auch spielen, aber leider landen sie oft in der Schublade.
Wir wollen zum Beispiel mit Monique Wagemakers oder Katharina Thoma Regisseurinnen in den Vordergrund rücken. Und wir machen – in Kooperation mit Paris, Montpellier und Toulouse – Händel! Als Leiter eines Spezialfestivals musste ich immer die abseitigen Stücke machen. Ein Kassenschlager wie „Julius Caesar“ war nie dabei. Darauf freue ich mich.
O&T: Welche Pläne gibt es für die Musikalische Komödie?
Wolff: Da werden wir versuchen, uns mit neuen Stil-Handschriften, vielleicht auch mit neueren Textfassungen, den Herausforderungen zu stellen, von denen wir gerade schon gesprochen haben. Wir haben zum Beispiel eine Revue in Auftrag gegeben, die sich aus bestehenden Kompositionen speist, aber einen neuen Text hat. Eine Winterrevue, die an einem Bahnhof spielt: „Das Glück hat Verspätung.“ Das ist ein Versuch, ein bestehendes Material neu zu verarbeiten, um wieder zu neuen zeitgenössischen Geschichten zu kommen.
O&T: Sie sprechen sehr oft von „Wir“. Wie sehen Sie Ihren Führungsstil an diesem Haus? Es hört sich so an, als seien Sie da partizipativ unterwegs. Würden Sie das bestätigen?
Wolff: Ja, ich liebe Diskussionen. Ich nehme nicht für mich in Anspruch, die Wahrheit gepachtet zu haben. Im Streit entsteht immer der schönste Spielplan. Ich komme von einem Festival mit sechs oder sieben Mitarbeiter:innen, wo man schnell kollektive Entscheidungen treffen und auch mal etwas ausprobieren kann. Das lässt sich auf einen Betrieb mit 680 Beschäftigten nicht durchgehend übertragen. Es ist eher so, dass ich jetzt für mich dosieren muss, wie weit ein Haus in manchen Situationen einen direktiven Führungsstil braucht und wo ich diskutieren will. Ich sehe mich aber als Teamplayer, am meisten natürlich und in allererster Linie im Bereich der Direktionsrunde. Die kleinste Teamzelle der Leitung sind Lydia Schubert und ich. Wir haben eine tolle Zusammenarbeit, tauschen uns konstruktiv aus, können uns auch in gegenseitiger Wertschätzung wunderbar streiten. Es gibt aber sicher Situationen, in denen man ganz klare Ansagen machen muss. Man muss auch sagen, dass Teamarbeit nicht an jeder Stelle gewollt ist. Und was politische Positionen angeht: Wenn es um meine persönliche Haltung geht, steht die nicht zur Diskussion.
O&T: Wenn Sie sagen, dass es auch Menschen gibt, die Partizipation gar nicht unbedingt wollen: Bezieht sich das auch auf die Kollektive?
Wolff: Nein, eher im Gegenteil. Ich war ja als Orchestermusiker selbst mal im Kollektiv. Ich finde, das ist ein wahnsinnig schwerer Beruf. Das Gefühl, nicht direkt beteiligt zu sein, nicht mitsteuern zu können, ist belastend, zumal man ja im Studium ständig gesagt bekommt, was man für ein tolles Individuum ist. Dann landet man im Orchester und hat als Tutti-Bratscher nicht so viel zu sagen und auch nicht viele Gestaltungsmöglichkeiten. Insofern glaube ich, dass da der Wunsch nach einem Engagement, nach Mitbestimmung gerade im Kollektiv eher größer ist. Das kann ein Engagement im Personalrat sein, im Chor- oder Orchestervorstand. Bei vielen ist es auch ein soziales Engagement. Der Opernchor hier ist zum Beispiel extrem engagiert im Bereich unserer Demenzkonzerte. Die werden immer von Chorsängerinnen und Chorsängern mitbetreut. Da ist auch eine individuelle Wahrnehmung des einzelnen Engagements möglich.
O&T: Digitalisierung ist inzwischen omnipräsent in den Theatern, spätestens seit Corona. Was planen Sie in dieser Hinsicht, zum Beispiel in Hinblick auf Streaming oder auch VR?
Wolff: Es gibt Ideen. Wir sind dabei, mit dem Theater der Jungen Welt für 2023/2024 ein digitales Projekt zu entwickeln. Wir sind da insgesamt noch nicht so intensiv unterwegs, weil mich die Digitalisierungsformate im künstlerischen Bereich noch nicht so richtig überzeugt haben. Ich hatte meistens das Gefühl, dass wir das, was wir sowieso tun, abfotografieren und es in ein großes digitales Fotoalbum kleben. Das ist aber nicht das, was der digitale Raum braucht.
Auf der Verwaltungsebene sind wir allerdings gerade einen Riesenschritt gegangen, weg von Papier und Aktenordnern hin zu digitalen Prozessen.
O&T: Es ist ja durchaus zu hinterfragen, wie viel Digitalisierung im künstlerischen Bereich sein muss. In den letzten zwei Jahren gab es digitale Notlösungen…
Wolff: Wir sind relativ gut darin, Rahmenbedingungen digital zu ändern. Das gedruckte Programmheft wird sicher langfristig in den digitalen Raum wandern. Auch die Einführung der Dramaturgie muss nicht am Abend stattfinden, das kann per YouTube-Video auch vorher schon passieren.
Die Rückmeldung aus dem Publikum zeigt uns aber, dass das, was uns ausmacht, das Live-Erlebnis ist, die Begegnung, auch das Foyer. Das darf man nicht unterschätzen, den Austausch vorher und nachher, die Begegnung. Dieses Forum eines gesellschaftlichen Zusammenseins ist doch unser Kern, und der lässt sich eben nicht so einfach ins Digitale übertragen. Wir wollen jetzt erst einmal analog wieder Boden unter den Füßen bekommen und das Publikum zurückholen, werden das Digitale aber nicht vernachlässigen.
O&T: Wir haben schon über die Zukunft des Musiktheaters gesprochen. Wie sehen Sie diese hinsichtlich der finanziellen Lage angesichts zukünftiger leerer Kassen?
Wolff: Ich mache mir große Sorgen um den ländlichen Raum, weil es dort sowohl finanziell als auch strukturell kein Sparpotenzial mehr gibt. Wir werden zukünftig auch im künstlerischen Bereich Schwierigkeiten haben, Stellen zu besetzen. Das trifft kleinere Theater natürlich eher als größere. In dem Moment, wo der Markt leer ist, wird die Qualität schlechter, und wenn ein kleines Haus keine gute Qualität mehr liefern kann, wird es schwierig.
Natürlich werden wir auch in der Stadt Diskussionen führen. Das werden Diskussionen über Geld sein, aber auch über Beurteilungskriterien: Sind Einnahmen und Auslastung richtige Kriterien, wenn wir über Nachhaltigkeit sprechen? Das werden sehr komplexe politische Fragen werden. Aber wir wären auch überflüssig als Theaterleitungen, wenn wir diese Diskussionen nicht führen würden. |