Berichte
Spannende Wiederentdeckungen
„Manru“ in Halle, „Santa Chiara“ in Meiningen
Zwei bemerkenswerte Wiederentdeckungen gab es im Februar und März an mitteldeutschen Theatern. In der Neuproduktion von Ignacy Jan Paderewskis „Manru“ (nach 1900 kurzfristig ein Erfolgsstück) an den Bühnen Halle, einem lyrischem Drama nach Józef Ignacy Kraszewskis Roman „Die Hütte am Ende des Dorfes“, stellte man sich der Herausforderung, den Konflikt von Sinti und Roma einer sesshaften Population gegenüberzustellen und diese Gegenüberstellung ethischen Maßstäben der Gegenwart anzupassen. Das Staatstheater Meiningen griff mit der Oper „Santa Chiara“ des komponierenden Herzogs Ernst II. von Sachsen-Coburg und Gotha tief in die Thüringer Regionalgeschichte des 19. Jahrhunderts. Beide Opern wurden von Deutschlandradio aufgenommen.
Marianne Schechtel (Bertha), Chor und Extrachor des Staatstheaters Meiningen. Foto: Christina Iberl
Die Darstellung der „Manru“-Produktion muss lückenhaft bleiben, weil nach der wegen einer Corona-Infektion konzertanten Aufführung am 27. März kein Besuch einer szenischen Vorstellung möglich war. Zum Inhalt: Manru stammt aus einem Nomadenstamm, Ulana aus einer sesshaften Dorfgemeinschaft. Sie heiraten und werden nach diesem mutigen soziale Schranken negierenden Schritt von ihren Herkunftsgruppen geächtet. Die Beziehung kriselt, weil die Isolation für das Paar zunehmend unerträglich wird. Es kommt zu gewalttätigen Angriffen aus Ulanas Herkunftsort. Ulana will Manrus schwindende Zuneigung mit einem „Liebestrank“ zurückgewinnen. Der kurze Rausch bewirkt weder Klärung noch Verbesserung. Beide kommen um.
Es ist Absicht, die Handlung hier fragmentiert und „politisch korrekt“ zu skizzieren. Manru gehört zu den Erumanels, einer Gruppe der Sinti und Roma. Das Libretto des jüdischstämmigen Alfred Nossig (1864-1943) für die nach der Uraufführung an der Dresdner Hofoper 1901 in vielen Städten erfolgreiche Oper des Starpianisten Paderewski strotzt von Klischee-Bestätigungen über die Kulturfiktion „Zigeuner“. Die Hallesche Produktion und die umfangreiche Werkmonographie des Dramaturgen Boris Kehrmann im Programmheft legen differenziert dar, wie ethisches Verantwortungsbewusstsein im Umgang mit fragwürdigen Werkinhalten und politisch mehrschichtigem Entstehungshintergrund die Nutzung des künstlerischen Potenzials von Bühnenproduktionen beeinträchtigen kann. Die achtenswerten Modifikationen der Regisseurin Katharina Kastening zogen Veränderungen nach sich, die von den in Musik und Text entworfenen Sozialstrukturen sowie deren Auswirkungen abweichen. Das führte sogar zum Verzicht auf optimale Wirkungen. Padarewskis differenziertes musikalisches Schillern, das man auf historischen Aufnahmen hört, geriet in Halle zu einer effektbetont flachen Wiedergabe. Diese brachte eher den vordergründigen Eklektizismus als die differenzierte Faktur der Partitur zum Klingen.
Ein wesentlicher Handlungsstrang ist, dass Manru die Vorurteile gegen sein Volk widerlegen will, vor allem die diesem zugeschriebene Triebhaftigkeit. Gerade aber Manrus Virilität wirkte derart faszinierend auf Ulana, dass sie ihn gegen den Willen ihres Umfelds heiratete. Katharina Kastening begann die Erarbeitung ihres Konzepts während des Wahlkampfs zu den Präsidentschaftswahlen in den USA 2020. Aber die von ihr entwickelte beabsichtigte Gegenüberstellung zweier analoger Gemeinschaften transferiert die in „Manru“ gemeinte Konstellation nicht angemessen: Aus der Gegenüberstellung einer sesshaften Siedlung und eines Nomadenstammes werden hier zwei parallel strukturierte Dorfgemeinschaften.
Thomas Mohr und Romelia Lichtenstein als Hauptpaar bringen für die im künstlich erzeugten Rausch gipfelnde Auseinandersetzung des zweiten Akts die Erfahrungen langer Sängerkarrieren ein: energetisches Bewusstsein für Steigerungen und Sensibilität für Hintergründiges. Dass es nicht zum Äußersten an hedonistischer Vitalität kommt, passt zum hinterfragenden Umgang mit der Partitur. Insgesamt machte man es dem Publikum leicht, sich von dieser farbenreichen Synthese aus artifiziellen nationalen Musikidiomen, Wagner-Nachfolge und fordernden Solopartien nicht hypnotisieren zu lassen. Auf musikalischer Seite gab es zu wenig Verführerisches.
Michael Wendeberg zeigte mit der Staatskapelle Halle zwar Lust auf Padarewskis Herausforderungen, scheute wahrscheinlich aufgrund konzeptioneller Vorbehalte aber deren Weichheit und koloristische Möglichkeiten. Der interpretierende Zugriff auf die für das Werkkolorit und Kontrastdramaturgie essenziellen „Zigeuner“-Idiome aus der Kunstmusik des 19. Jahrhunderts äußerte sich vor allem im Verzicht auf Sinnlichkeit, Schmelz und Schönheit. Die dadurch eintretende Härte drängte sich in fast alle Momente mit psychischen Vorgängen, welche die Komposition eigentlich plastisch modelliert. „Manru“ ist das späte Paradigma einer großen Oper über feindliche, sich deshalb in kontrastierenden Tonsprachen ausdrückende Kollektive. Auch bei den Chorszenen (Leitung: Johannes Köhler) hatte man aufgrund der wenig günstigen Begleitumstände der Vorstellung den Eindruck, dass man das Wirkungspotenzial der Musik nicht komplett ausschöpfte oder ausschöpfen wollte. Die Produktion ist trotzdem eine Pioniertat. Aber sie geriet zum Musterfall für ein Dilemma, das durch Hinterfragung von Werken und Wahl der künstlerischen Mittel in Zukunft häufiger bestehen wird: Konzeptionelle Korrekturen der Inhalte beinhalten einen dadurch erzwungenen Verzicht auf magische Momente, die das Publikum von Musiktheater erwartet und die zu dessen ästhetischer Grammatik gehören.
Santa Chiara
Das Risiko des Charisma-Verlusts durch eine objektivierende Interpretation bestand bei „Santa Chiara“ in Meiningen nicht. Es war die erste annähernd vollständige Aufführung der im Hoftheater Gotha von 1854 bis 1927 regelmäßig gespielten Oper. „Santa Chiara“ feierte bis Paris und Brüssel Erfolge und schaffte es sogar in die prestigeträchtige Libretti-
Reihe des Reclam-Verlags.
Tomasz Wija als Alphonse de la Borde, Patrick Vogel als Victor de St. Auban. Foto: Christina Iberl
Für das vierte seiner fünf musikalischen Bühnenwerke suchte sich Herzog Ernst II. von Sachsen-Coburg und Gotha (1818-1893) prominente Mitstreitende. Giacomo Meyerbeers Dramaturgin Charlotte Birch-Pfeiffer schrieb das Libretto nach einer Novelle des Bestsellerautors Heinrich Zschokke. Richard Wagner lehnte auf Rat von Franz Liszt die Anfrage des Herzogs, ob er „Santa Chiara“ instrumentieren wolle, ab. Diese Aufgabe übernahm der Gothaer Musiker Traugott Krämer. Angelika Tasler hat die spannenden Hintergründe der Entstehung in ihrem Buch „Macht und Musik. Herzog Ernst II. von Sachsen-Coburg und Gotha und das Musiktheater im 19. Jahrhundert“ fundiert dargestellt. Einmal mehr geht es in „Santa Chiara“ um eines jener gedemütigten Wesen, wie sie das Musiktheater-Publikum des 19. Jahrhunderts zuhauf erschütterten, diesmal nach einem historischen Vorbild. Charlotte Christine von Braunschweig-Wolfenbüttel war die 1715 im Alter von nur 21 Jahren verstorbene Gemahlin des später von seinem Vater Peter dem Großen hingerichteten Zarewitsch Alexej. In der Oper überlebt Charlotte Christine Alexejs Giftanschlag und flieht aus dem Sarg nach Italien. Dort findet sie als Volksheilige „Santa Chiara“ an der Seite ihres Seelenfreundes Victor de St. Auban ein neues Glück. Ihr Schurkengatte aber wird des Wahnsinns Beute.
Die Musik bedient alle Erwartungen an eine romantische Oper des mittleren 19. Jahrhunderts. Die glänzend aufspie-lende Meininger Hofkapelle und GMD Philippe Bach ließen sich in der Premiere vital auf die Partitur ein. Hendrik Müller (Regie) und Marc Weeger (Bühne) überhöhten das Sujet mit optimierender Ironie und verspielter Exaltation, der Katharina Heistinger textile Glanzlichter aufsteckte. Die Meininger Besetzung wird den genrespezifischen Anforderungen glänzend gerecht: eine strahlende Lena Kutzner in der Titelpartie, der kernig vitale Johannes Mooser als Tyrann Alexej, Patrick Vogel als schöner Seelentröster Victor, Marianne Schechtel als anhängliche Bertha von Blankensee.
Beim von Manuel Bethe flott getrimmten Chor glitzern Brillant-Imitate mit dem Lächeln der Gesellschaftshyänen um die Wette. Im Tableau des dritten Aktes schwebt Charlotte Christine als gute Hirtin über einer Herde von männlichen und weiblichen Himmelsbräuten beziehungsweise „echten“ Bräuten. Alle tragen weiße Schleier. So entsteht ein Beitrag zu den besten Opernchorszenen dieser Spielzeit: weiße Bräute, weiße Ehen, weiße Unschuldslämmer und blütenweiße Ironie. Der Chor und Hendrik Müller schlugen aus der konventionellen Musiknummer zu arkadischen Klängen szenisches Kapital vom Feinsten. Über diese „Schicksalsjahre einer Zarin“ mit einem Sieg der poetischen Gerechtigkeit über die historische Wahrheit durfte gelächelt werden.
Roland H. Dippel
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